Mittwoch, 25. Dezember 2019

Der Zweifler

Der Zweifler
Immer wenn uns
Die Antwort auf eine Frage gefunden schien
Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
Aufgerollten chinesischen Leinwand, so daß sie herabfiele und
Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
So sehr zweifelte.
Ich, sagte er uns
Bin der Zweifler, ich zweifle, ob
Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte.
Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
Auf die Wahrheit verlassen habt dessen, was ihr gesagt habt.
Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein
Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos
Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit
Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und nebenbei:
Läßt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
Ist es auch angeknüpft an vorhandenes? Sind die Sätze, die
Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem
Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man
Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?
Nachdenklich betrachteten wir mit Neugier den zweifelnden
Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
Begannen von vorne.
Bert Brecht

Dabei kann B. B. ja Karl Popper noch gar nicht gelesen haben.....?

Montag, 23. Dezember 2019

Das ist Fontane!

 Daß diese verstehende Güte bei Fontane nicht weichliche Veranlagung, sondern auch von ihm mühsam errungene Weisheit ist, das zeigen seine Briefe, die oft genug voll Bitterkeit sind. Aber die Bitterkeit führt eben zu nichts, die Mahnung heißt »verstehe, steh’ darüber«. 
 Er teilt keine Prädikate aus. Er läßt sie einfach handeln, so wenn Bodo die lange Fahrt zum Bahnhof macht, um der alten Gärtnersfrau den im Scherz versprochenen Kranz aufs Grab zu legen, oder der alte Graf den Wagen anhält, um Stine den Platz neben sich anzubieten, oder die Familie des bei St. Privat gefallenen Hauptmanns sich tapfer durchs Leben schlägt, oder der alte Stechlin seine letzten Gespräche mit dem Gendarmen führt. 
Wenn er die Überspannung des Standesgefühls zu tadeln hat, so läßt er Effi von ihrem Mann nur die paar Worte sagen: »er war so edel, wie ein Mann sein kann, der ohne rechte Liebe ist« 
R. Berbig, Fontäne Blätter

Freitag, 6. Dezember 2019

Träumen und Wachen

".... wir leben und empfinden so gut im Traum als im Wachen und sind jenes so gut als dieses, es gehört mit unter die Vorzüge des Menschen, daß er träumt und es weiß.  Der Traum ist ein Leben, das, mit unserm übrigen zusammengesetzt, das wird, was wir menschliches Leben nennen. Die Träume verlieren sich in unser Wachen allmählig herein, man kann nicht sagen, wo das Wachen eines Menschen anfängt."
"Die Träume können dazu nützen, daß sie das unbefangene Resultat, ohne den Zwang der oft erkünstelten Überlegung, von unserm ganzen Wesen darstellen."

G. Ch. Lichtenberg

Donnerstag, 28. November 2019

Trugbilder

"... die Natur selbst zeigt uns den Weg, um uns für die Weiterführung ihres Werkes einzuspannen. Sie spiegelt uns dieses Trugbild wie viele andere solcher Trugbilder vor, weil ihr mehr an unserem Handeln als an unserem richtigen Erkennen liegt."
Montaigne 
Suche auch unter "McGuffin"!

Montag, 25. November 2019

Ordnungen

"Es is kein Ordnung mehr jetzt in die Stern."
Knieriem in Lumpazivagabundus
"Die neue Physik zeigte den Physikern eine neue Bedeutung des Wortes Ordnung. Diese neue Ordnung, die Grundlage der neuen Physik, findet sich nicht in den Materieteilchen, sondern in den Köpfen der Physiker."
"... Leben, wie wir es kennen, kann nur durch den Segen der Unbestimmtheit existieren, und Sicherheit ist ein Mythos."

F. A. Wolf
EPOCHAL!

Und das lese ich bei einem Physiker des 18. Jhdts.:
"Wenn uns einmal ein höheres Wesen sagte, wie die Welt entstanden sei, so möchte ich wohl wissen ob wir im Stande wären, es zu verstehen. Ich glaube nicht. Von Entstehung würde schwerlich etwas vorkommen, denn das ist bloßer Anthropomorphismus. Es könnte gar wohl sein, daß es außer unserm Geist gar nichts gibt was unserem Begriff von Entstehung korrespondiert, sobald er nicht auf Relationen von Dingen gegen Dinge, sondern auf Gegenstände an sich angewendet wird."
G. Ch. Lichtenberg

Mittwoch, 20. November 2019

Trost bei Lichtenberg

  »Dinge zu bezweifeln, die gantz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall« 
»Warum glaube ich dieses? Ist es auch würklich so ausgemacht »
»Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4«
»Immer sich fragen: sollte hier nicht ein Betrug stattfinden? und welches ist der natürlichste, in den der Mensch unvermerkt verfallen, oder den er am leichtesten erfinden kann? «
 Lichtenberg in den »Vermischten Anmerckungen für Physic und Mathematic«

Heute sind Zweifel an der Mainstream-Kilma-Hysterie nicht erlaubt.



Meinungsbilder

"Ich glaube, es ist nicht gesund, wenn sich die veröffentlichte Meinung zu weit vom Meinungsbild der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Verstärkend wirkt das Phänomen, dass die parteipolitischen Präferenzen von Journalisten in Deutschland nicht den gesellschaftlichen Durchschnitt widerspiegeln. Journalisten sind mehrheitlich im rot-grünen Spektrum verortet. Es braucht wieder mehr Pluralismus. Mehr Unterschiede in der demokratischen Mitte. Damit es weniger Polarisierung an den Rändern gibt."
Mathias Döpfner, Springer-Verlag.
In Österreich ist es eher noch "schlimmer", weil hier der ORF ton- und bildangebend ist und dessen Ausrichtung ist ja bekannt. Und die sogenannten "seriösen Blätter" spielen auch alle nur in derselben Tonart.
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Und als würzige Draufgabe noch ein bißchen Lichtenberg:
»Heutzutage machen drei Pointen und eine Lüge einen Schriftsteller. «
 »Wenn die Frankfurter Rezensenten wüßten, wie sie bei vernünftigen Leuten stünden, so würden sie gewiß jeden loben, den sie verworfen wissen wollen. «
"das Geschrei der Zeitungsschreiber und der Barden...."
Heute sind es nicht mehr nur die Frankfurter Rezensenten, sondern vor allem die Hamburger. 

Samstag, 2. November 2019

μετάβασις εἰς ἄλλο γένος

 Es sind viele und verschiedene Antworten auf die Frage gegeben worden: Was ist der Mensch? Das ist auch gut und richtig so. Wenn nämlich mit dieser Frage der Mensch von allen denkbaren Blickpunkten aus gesehen werden soll, dann ist gar nicht zu erwarten, daß irgendeine Einzelwissenschaft eine alleingültige Antwort geben kann. Schon in dem Versuch, von einer Einzelwissenschaft ausgehend eine totale Antwort festzulegen, steckt etwas von vornherein Verkehrtes....
.......wird der Bereich der empirischen Wissenschaften unbedacht verlassen, es geschieht ein Grenzübertritt in den Bereich von philosophischer Weltanschauung und Religion. Dieser Fehler ist schon in der antiken, d. h. altgriechischen Wissenschaftstheorie als unzulässige Grenzüberschreitung gekennzeichnet worden, μετάβασις εἰς ἄλλο γένος (metabasis eis allo genos  - Übergang in eine andere Gattung) heißt das in altgriechischer Sprache. 

Hans Müller-Fahlbusch

https://de.wikipedia.org/wiki/Met%C3%A1basis_eis_%C3%A1llo_g%C3%A9nos

Dienstag, 29. Oktober 2019

Denkbehinderung

 "Dem ungestörten seelischen Leben steht das Denken über philosophische und religiöse Fragen zur Verfügung, dem krankhaft gestörten Seelenleben unserer depressiven Kranken ist dieses Denken nicht verfügbar, aber die Hoffnung dieser Kranken kommt nach deren Gesundung ohne das Denken, gewissermaßen von Natur aus wieder. Man muß diese Kranken tröstend darauf hinweisen, daß die Krankheit vorübergehen wird und daß der Sinn sich dann als etwas Selbstverständliches wieder einstellt. Das ist eine Hilfe, die man geben kann und muß."

Hans Müller-Fahlbusch

Freitag, 25. Oktober 2019

Geheilt

Als Forain mit der letzten, tödlichen Krankheit zu Bett lag, redete ihm sein Arzt ein, daß es ihm besser gehe, immer besser, bis Forain eines Tages die Geduld verlor und nach einem dieser hoffnungsvollen Sprüche sagte:

»Mit einem Wort, Herr Doktor ich sterbe geheilt"

Infeliciter, in re tristi.

Follower of fashion

...wir müssen der Mode die Schleppe tragen, wenn wir eingelassen sein wollen, sie mag so schwer oder so unrein sein als sie will. Haben wir ja einen Gedanken, so darf er nicht so wie er ist ausgegeben werden, um ihn nicht überall ausgeschossen zu sehen, muß er das Gepräge der Zeit haben.

Ich mag immer den Mann lieber, der so schreibt, dass es Mode werden kann, als den der so schreibt, wie es Mode ist.

Lichtenberg

Rezensenten

"Wenn er eine Rezension verfertigt, habe ich mir sagen lassen, soll er allemal die heftigsten Erektionen haben."

Lichtenberg


"Der Tausendsakerment! Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent."
Goethe 

Freitag, 11. Oktober 2019

So läuft es in der Wissenschaft

Und das ist ein Ergebnis des inquisitorischen Gesinnungsdrucks, das auf Dauer gefährlicher ist als die spektakulären Fälle von Zensur: Daß ganze Fachbereiche sich daran gewöhnen, fünf gerade sein zu lassen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Zum einen sind die Wünsche ja verständlich und nicht unberechtigt. Zum anderen hat man ein ebenso verständliches Interesse daran, Scherereien aus dem Weg zu gehen und sich nicht etwa von Flugblättern oder Sprechchören als Rassist oder Sexist oder ?? anspucken zu lassen. So lernt ein ganzes Fach nach und nach,
  •        daß es besser ist, Forschungsprojekte, bei denen das Falsche herauskommen könnte, gar nicht erst in Angriff zu nehmen,
  •        daß bestimmte Fragen besser ausgeklammert bleiben, um in Ruhe den übrigen nachgehen zu können,
  •        daß bestimmte Autoren besser nicht zitiert werden, andere aber bei jeder Gelegenheit,
  •        daß bestimmte Kollegen besser nicht berufen oder zu den Fachtagungen eingeladen werden,
  •        daß man ihren Arbeiten Formfehler ankreiden muß, die man jedem anderen achselzuckend durchgehen ließe,
  •        daß man scheinbar kompromittierende Zitate eines in Verruf geratenen Kollegen unentwegt voneinander abschreiben darf, ohne jemals nachzuprüfen, ob sie dessen Meinung richtig spiegeln,
  •        daß man ihn vielleicht sogar aus dem Fachverband ausschließen und damit Wissenschaftlich zur Unperson machen kann,
  •       daß man sich zu bestimmten Fragen klugerweise überhaupt nicht äußert,
  •        daß man besser durch irgendein Denkopfer die Harmlosigkeit der eigenen Position demonstriert und im weiten Umkreis sehen alle betreten weg, um nicht selber noch in Sachen hineingezogen zu werden, die ja gar nicht die ihren sind.
 Niemand hat etwas Unredliches getan, zumindest ist ihm nichts Unredliches nachzuweisen, es wurde nur die Form der Bewahrheitung still und unauffällig ein wenig verändert, aber schon neigt sich die Wahrheit ein wenig, biegt sich, verbiegt sich, kippt. Und die Medien können melden, die einhellige Meinung der Experten sei die und die!

D. E. Zimmer

Trifft sich ganz mit den eigenen Erfahrungen aus meiner "wissenschaftlichen" Zeit.



Dienstag, 1. Oktober 2019

Fundamentales

Das genaue Gegenteil der Wissenschaftlichen Haltung ist jeder Fundamentalismus, nicht weil Fundamentalisten eine Wahrheit haben, an die sie fest glauben (die können auch Wissenschaftler haben) oder weil es eine irrationale Wahrheit ist (sie ist gelegentlich durchaus rational), sondern weil es eine letzte und absolute Wahrheit ist, die Gegengründe nicht nur selber nicht sucht, sondern auch dann nicht zur Kenntnis nimmt, wenn andere sie geltend machen. Der Fundamentalismus ist keine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Glaubensdenomination. Er ist eine Geisteshaltung, Vielleicht eine Charaktereigenschaft: lauter Antworten zu wissen und nie Fragen. Fundamentalisten sind im doppelten Sinn unbeirrbar: «nicht bereit, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß sie im Irrtum sein könnten » (J. Rauch). Der Stil der Wissenschaft dagegen ist unbegrenzte Skepsis: Alles mag sich als falsch erweisen.

Dieter E. Zimmer

Kindly Inquisitors

 « In Amerika . . . und anderswo wird das alte Prinzip der Inquisition wiederbelebt: daß Menschen, die falsche und schädliche Ansichten hegen, zum Wohle der Gesellschaft bestraft werden sollten. Wenn man sie schon nicht ins Gefängnis werfen kann, dann sollten sie immerhin ihrer Arbeitsstelle verlustig gehen, organisierten Beschimpfungskampagnen ausgesetzt, zu Entschuldigungen und zum Widerruf gezwungen werden. Und wenn der Staat die Bestrafung nicht übernehmen kann, sollten private Institutionen und Interessengruppen es tun, eine auf Gedanken Jagd machende Bürgerwehr. » 
Jonathan Rauch

Sonntag, 29. September 2019

Lumpazivagabundus

Der Mensch braucht kein Ziel, nur eine Straße.
und
Wozu ist die Straße da? Zum Marschieren!
aus dem Lumpazivagabundus-Film.


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http://kumpfuz.blogspot.com/2009/07/mcguffin.html
https://kumpfuz.blogspot.com/2017/07/lets-pretend.html

Mittwoch, 25. September 2019

Staubmantel

Montalbano….trauerte den verschwundenen Übergangszeiten nach. Wo waren sie geblieben? Auch sie waren vom immer schnelleren Rhythmus des menschlichen Daseins überrollt worden und hatten sich angepasst: Sie hatten begriffen, dass sie eine Pause bedeuteten, und waren verschwunden, denn heutzutage darf es keine Pausen geben in diesem immer wahnsinnigeren Rennen, das von endlosen Aktivitäten bestimmt ist: auf die Welt kommen, essen, lernen, vögeln, produzieren, zappen, kaufen, verkaufen, kacken und sterben. Dieses ewige Tun, und dann ist doch alles in einer Nanosekunde, im Nu vorbei. Hatte es nicht eine Zeit gegeben, in der man sich auch mit etwas anderem beschäftigte? Mit Denken, Nachdenken, Zuhören und - warum nicht - Faulenzen, Dösen, Sich-Ablenken? Fast mit Tränen in den Augen erinnerte sich Montalbano an die Kleidung in der Übergangszeit und an den Staubmantel seines Vaters.

A. Camilleri

Und das in Sizilien!

Dienstag, 24. September 2019

Neue Musik

Das Neue in der Kunst 
(Nikolaus Schapfl)

Heute gibt es im Großen und Ganzen drei Musikstile:
  • Eine Ernste Musik, die für sich die Rolle der Hochkultur beansprucht und dabei nur ein abgesonderter Spezialbereich, ein Ghetto mit verschwindend geringem Anteil am Gesamtmusikleben bleibt - kurz Musik, mit der die Menschen nicht leben.
  • Zweitens die Unterhaltungsmusik, meist eine Kultur des Banalen, des Bauches - wenn auch nicht immer, denn wer würde bestreiten, daß es auch tieferschürfende, beeindruckende Popsongs mit künstlerischer Aussage und Kraft gibt.
  • Und drittens einen Bereich der tonalen und experimentellen Filmmusik, die zwar oft viel erhebende Ästhetik ausstrahlt, aber per se ihr Zentrum außerhalb von sich, untermalenden Charakter und meist eher Hintergrundmusik an der Schwelle des Bewußtseins zu sein hat.
 Die Frage erhebt sich in eklatanter Weise: Wo ist eigentlich jene neue Musik, in der wirklich die Sehnsüchte der Menschen nach Schönheit, nach erhebendem Gesamtzusammenhang, nach Erleben umfassender Höhe und Tiefe ausgedrückt werden?

Die heute übliche Einteilung in Hoch- und Massenkultur
Heute wird die neu entstehende, zeitgenössische Musik und Komposition in E-Musik und U-­Musik unterschieden. Diese Einteilung ist Grundlage nicht nur für die theoretische Rezeption sondern auch für die finanzielle Bewertung durch die Verwertungs- bzw. Urheberrechts­gesellschaften:
(a) E-Musik (heute ein Ghetto und ein Kampfschauplatz): Nach und parallel zur spätromantischen Epoche (Wagner/R, Strauss), wurde - hauptsächlich durch die Zweite Wiener Schule - Neuland außerhalb der Tonalität beschritten, umso energischer, je härter der Widerstand war. Die Musik sollte von tiefsitzenden, engen Denkweisen befreit werden. Diese „Neue" Musik wurde konsequent auf den dissonanten Anteil des Klangspektrums beschränkt unter völligem Vergessen der Tatsache, daß nicht nur Dissonanzen, sondern auch Konsonanzen zeitlose Bestandteile seiner Natur sind. Aber das dauerhafte Verlangen nach tonalem Ausdruck, nach Melodie und Harmonie, welche ihre Schönheit noch deutlicher im Kontrast zur Dissonanz offenbaren, konnte nicht ausgelöscht werden, nicht einmal nach 80 Jahren strenger Umerziehung. Inzwischen fand die Tonalität lebendigen Ausdruck in der Unterhaltungsmusik, bedauerlicherweise unter Verlust ihres Hochkultur-Status. Ein Komponist, der mit der Hochkultur etwas zu tun haben wollte, mußte sich der neuen Ideologie unterordnen, welche das Spektrum nun auf die Dissonanzen einengte.
Diese befremdliche Situation dauert bis heute an: (1) Hochkulturmusik wird - per Definition ­mit Atonalität identifiziert. (2) Schönheit in der Musik ist ein Phänomen vergangener Epochen und kein Teil zeitgenössischen Lebens mehr.
Die Konsequenz: Im Konzertleben hat sich die Sandwichtechnik etabliert, was heißt: Zwischen zwei Mozarts ein Ligeti, um zu vermeiden, daß die Zuhörer nach der Pause fortgehen.
(b) U-Musik (Populärmusik für die Masse, oft - nicht immer - eine Kultur des Banalen) In diesem Zusammenhang steht irgendwie zwischen E und U:
(c) Die tonale und experimentelle Filmmusik, dh. vor allem Hintergrundmusik, keine absolute Musik, welche das Zentrum in sich selbst hat. Das Aufleben der optischen Kultur bedeutet einen Verlust an Abstraktion und Geist. Das, was die Menschen in der Musik als „schön", erfüllend, aufbauend empfinden, wird von der Theorie „zweitklassig", ,,weniger wert" betitelt, während, wer E-Musik, also ernstzunehmende Hochkultur schaffen will, Nihilismus, atomisierte, bezugslos im Raum treibende Ästhetizismen ohne Sinn bieten muß, Dekonstruktivismus (Alles ist Nichts), institutionalisierte Aussagelosigkeit. Wer musikalische Schönheit will, bekommt zu hören: ,,Gehen Sie zum Film... Gehen Sie in die Pop-Branche!"

Eine zerstörerische Avantgarde
Der bedeutende Komponist Helmut Lachenmann (*1935), selbst ein Vertreter extremer Atonalität und Geräuschmusik, erzählte mir bei einer größeren Tafel eines Abendessens neben mir sitzend - eigentlich flüsterte er mir ins Ohr - sinngemäß: ,,In den fünfziger Jahren kamen die (Neo-)Kommunisten zu uns und sagten : Ihr müßt das bürgerliche Denken zerstören." Auch Hans-Werner Henze (*1926) verlautbarte in den sechziger Jahren: ,,Die Musik heute muß den Sozialismus unterstützen." Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule (68er) steuerten viel Theorie bei. Für sie mußte die Musik eine Rolle in einem umfassenden Veränderungsprozeß spielen.
«Künstler», auch solche, die fachlich nichts konnten und bewußt keinerlei «Handwerk» betreiben wollten, sondern provozierten, schockierten und die Menschen gezielt mit Atonalität, Disharmonie und Häßlichkeit plagten, unterwanderten und infiltrierten in den 60er und 70er Jahren die Kunstwelt fast vollständig. Sie diktierten den Könnern mit Medienmacht und soziologischer Beredsamkeit das Dogma vom Ende der Harmonie, der Tonalität, der Symmetrie und der Schönheit. Die Darstellung des Schönen, Wahren und Guten wurde bewußt verteufelt, weil sie angeblich unkritisch mache und das «System» stabilisiere, statt es zu zerstören. Deshalb sei sie reaktionär.
«Die reaktionäre Musik», schreibt Adorno, müsse «mit allen Mitteln der Polemik und rücksichtslos angegriffen werden». . . Die «neue Musik» hatte nach Adorno aktiv am Klassenkampf teilzunehmen. Die 1929 gegründete Frankfurter Ortsgruppe der «Internationalen Gesellschaft für neue Musik» war für Adorno «die Internationale» der Musik. Was für ihn Marx auf dem Gebiete der Soziologie war, sei Schönberg auf dem Gebiet der Musik, Kunst also im Dienste des Klassenkampfs, im Dienst einer totalitär marxistischen Ideologie. Adornos Ästhetik im Dienste eines neomarxistischen Kulturkampfs gegen die Werte und Normen der bürgerlich-­kapitalistischen Gesellschaft wurde im Gefolge der 68er Revolte zum Programm vieler «Kunst»schaffender - ein historischer Vorgang, der bis heute fortwirkt.

Das Problem der heute noch ausschließlich als „etabliert" geltenden atonalen Musik ist nicht ihr Wesen, sondern ihr totalitärer Machtanspruch. Dunkelheit und Verzweiflung sollen als Monokultur gelten. Was nicht negativ ist, ist „alt", reaktionär. Entspannung, Erhabenheit sind ,,verboten".

Tonalität und Atonalität
Wir haben in der bei uns gebrauchten, wohltemperierten Stimmung zwölf Töne zur Verfügung. Mit diesen zwölf Tönen erschließt sich uns der gesamte Bereich der Skala zwischen Konsonanz (Einklang, Oktave, Quinte, Terz, Dreiklang usw.) über verschiedene Stufen der Dissonanz bis hin zur höchstmöglichen Dissonanz (kleine Sekunde, große Septime, kleine None, eventuell Tritonus usw.).
Die Atonalität beschränkt sich auf einen Teil des Tonspektrums, nämlich auf die Dissonanz und geht auch oft bis zur Auflösung des Tonchromas, dh. also bis hin zum Geräusch, ja zum Lärm. Die Verfechter der ausschließlichen Atonalität wollen den Dreiklang und weitere Konsonanzen völlig verbannen, oft prinzipiell, immer aber vor allem im Zusammenhang mit Dur-Moll-Tonalität, die sich historisch herausgeschält hat.
In den 70er Jahren noch wurde an den Musikhochschulen behauptet, bzw. es war das „politisch korrekte" Denken, daß die Dur-Moll-Tonalität nur anerzogen, nur inkulturiert sei und daß wir uns endlich davon befreien und frei im dodekaphonen Raum bewegen können. Schon Schönberg hatte prophezeit, die Kinder würden in fünfzig Jahren seine Melodien auf der Straße singen. Solche Voraussagen sind verstummt.

Die Kultur des Sekundären
In den letzten Jahrzehnten entstanden kaum Werke, welche die Uraufführung überlebten. Es gibt kaum Komponisten, die nach 1950 noch gelebt haben, deren Werke den Weg ins Repertoire geschafft hätten. Ausnahmen sind vor allem Schostakowitsch, Prokofiev, Bernstein .... Wenn wir die Zeitgrenze auf 1970 heranziehen, fällt es noch schwerer, überhaupt eine danach entstandene Oper oder ein Orchesterwerk zu finden, daß auch nur annähernd so regelmäßig gespielt wird wie ein Klassiker.
Angewachsen hingegen sind die Inszenierungen des sogenannten Regietheaters, in denen klassische Opern, die meist vor 1900 komponiert wurden, umgedeutet werden. Werke einer lebendigen zeitgenössischen Musikkultur, die sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit behaupten können als Stücke vom und im „Herzen und Verstand" der heutigen Menschen, sind  unbekannt.

Der Begriff Neue Kunst wurde zum Etikett für immer dasselbe. Die Avantgarde des Establishments ist seit Jahrzehnten unverändert - eine sehr alte Avantgarde. Während die neu entstehende Kunst stagniert, erscheint die Arbeit von Intendanten, PR-Fachleuten, Museumsdirektoren und Kritikern immer wichtiger. Neue Opern werden bei Festivals oft nur einmal gespielt, so „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von Lachenmann bei den Salzburger Festspielen 2002, während „Die Liebe der Danae" von Strauss fünfmal, Turandot siebenmal aufgeführt wurde. 

Die Situation eines jungen Komponisten seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts:
Sie oder er wird genötigt, eine Musik zu komponieren, die der herrschenden Ästhetik entspricht, in diesem Fall dem Kult des Häßlichen, des Negativen, der Sinnlosigkeit, der Verzweiflung. Kunst, die nicht nihilistisch ist, wird als politisch nicht korrekt aufgefaßt. - Der bedeutende österreichische Komponist Ernst-Ludwig Leitner, Professor am Mozarteum, drückte das Dilemma sinngemäß wie folgt aus:,, Wenn du der herrschenden Ästhetik gehorchst, bist du integriert, aber das, was integriert ist, will das Publikum nicht hören."

So etwas wie Inspiration, Einfall, Atem ist nicht nur fremd, sondern de facto Gegenstand von Ablehnung. Die Resultate sind meist gehetzte, unnatürliche, entsetzlich sich in die Länge dehnende Quellen von Langeweile, Klangansammlungen, bei denen es egal bleibt, wo man einsteigt, ob da, wo man gestern aufgehört hat oder wo es übermorgen weiterginge.

Mittwoch, 18. September 2019

Mittelmaß

 Nichts steht dem im Wege, daß man sich unter Menschen, die einander feind sind, anständig und redlich verhalten könne: benehmt euch unter ihnen, wo nicht mit durchwegs gleichem Wohlwollen, so doch wenigstens mit gemäßigtem, das euch auch nicht so völlig an die eine Partei binde, daß sie alles von euch fordern kann; und gebt euch gleicherweise mit einem mittleren Maß ihrer Gewogenheit zufrieden und begnügt euch, im Trüben zu schwimmen, ohne darin fischen zu wollen. 
Montaigne

Das innere Wesen

"Ich sage also: physisch ist freilich alles, aber auch nichts erklärbar. Wie für die Bewegung der gestoßenen Kugel muß auch zuletzt für das Denken des Gehirns eine physische Erklärung an sich möglich sein, die dieses ebenso begreiflich machte, als jene es ist. Aber eben jene, die wir so vollkommen zu verstehen wähnen, ist uns im Grunde so dunkel wie letzteres: denn was das innere Wesen sei, bleibt, nach allen physikalischen Erklärungen, ein Mysterium, so gut wie das Denken."
A. Schopenhauer

https://kumpfuz.blogspot.com/2018/01/buttery.html

https://kumpfuz.blogspot.com/2019/03/nichts-anderes-als.html

Die Quintessenz von Staub

 I have of late, but wherefore I know not, lost all my mirth, forgone all custom of exercises; and indeed it goes so heavily with my disposition that this goodly frame, the earth, seems to me a sterile promontory; this most excellent canopy, the air, look you, this brave o’erhanging firmament, this majestical roof fretted with golden fire, why, it appeareth nothing to me but a foul and pestilent congregation of vapours. What a piece of work is a man! how noble in reason! how infinite in faculties! in form and moving how express and admirable! in action how like an angel! in apprehension how like a god! the beauty of the world! the paragon of animals! And yet, to me, what is this quintessence of dust?

Aus "Hamlet" - die klassische Beschreibung einer depressiven Störung.

Mittwoch, 11. September 2019

Gerechte Sachen

  • Auch die allgemeine und gerechte Sache nimmt mich nur mit Maß und ohne Überschwang für sich ein. 
  • Ich bin diesen anspruchsvollen und zudringlichen Bindungen, die selbst das Innere in Beschlag nehmen, nicht unterworfen.
  • Ich würde der gerechten Sache bis an den Scheiterhaufen folgen, aber nicht bis hinein, wenn es sich vermeiden läßt. 
Montaigne

...zum gegenwärtigen Klima-Hype. Die zudringlichen Sachwalter sind es, die einen an der gerechten Sache zweifeln lassen.

Sonntag, 8. September 2019

Ich bin ein Genie!

"Der gewöhnliche Kopf ist immer der herrschenden Meinung und der herrschenden Mode konform, er hält den Zustand in dem sich alles jetzt befindet für den einzig möglichen und verhält sich leidend bei allem. Ihm fällt nicht ein, daß alles von der Form der Meublen bis zur feinsten Hypothese hinauf in dem großen Rat der Menschen beschlossen werde, dessen Mitglied er ist.
Er trägt dünne Sohlen an seinen Schuhen, wenn ihm gleich die spitzen Steine die Füße wund drücken, er läßt die Schuh-Schnallen sich durch die Mode bis an die Zehen rücken, wenn ihm gleich der Schuh öfters stecken bleibt. Er denkt nicht daran, daß die Form des Schuhs so gut von ihm abhängt, als von dem Narren, der sie auf elendem Pflaster zuerst dünne trug. Dem großen Genie fällt überall ein: könnte auch dieses nicht falsch sein?
Er gibt seine Stimme nie ohne Überlegung. Ich habe einen Mann von großen Talenten gekannt, dessen ganzes Meinungs-System, so wie sein Meubeln-Vorrat, sich durch eine besondere Ordnung und Brauchbarkeit unterschied, er nahm nichts in sein Haus auf, wovon er nicht den Nutzen deutlich sah, etwas anzuschaffen, bloß weil es andere Leute hatten, war ihm unmöglich. Er dachte, so hat man ohne mich beschlossen, daß es sein soll, vielleicht hätte man anders beschlossen, wenn ich mit dabei gewesen wäre. Dank sei es diesen Männern, daß sie zuweilen wenigstens wieder einmal schütteln, wenn es sich setzen will, wozu unsere Welt noch zu jung ist."
G. C. Lichtenberg

Das ist fein! Da werde ich taxfrei zum großen Genie erhoben! ;=)  Habe ich doch schon seit meiner Gymnasial-Zeit mir  manchmal diese Frage gestellt und später immer öfter; aber leider immer noch viel zu selten.




Dass ich das noch erleben durfte....

... dass sich ein W. Fellner geniert:
Aber er schämt sich ja sowieso "fremd".

Freitag, 6. September 2019

Soll man selbst philosophieren?

 Wenn jeder Mensch seinen besondern Planeten bewohnte, was wäre wohl da Philosophie? Was sie jetzt auch ist, ein Inbegriff der Meinungen eines Menschen ist seine Philosophie. Wer wäre wohl des Menschen Schuhmacher? und wer sein Baumeister? Versetzt man ihn in eine Gesellschaft, so ließe er sich wohl die Schuhe von einem andern machen, aber seine Meinungen? Das ist eine üble Sache, ich kann den Hals brechen, wenn ich mir sie selbst zusammenstümpere, oder ein Paar gut gemachte erhandele, die mir nicht passen. Die Frage: soll man selbst philosophieren? muß, dünkt mich, so beantwortet werden als eine ähnliche: soll man sich selbst rasieren? Wenn mich jemand fragte, so würde ich antworten, wenn man es recht kann, es ist eine vortreffliche Sache. Ich denke immer daß man das letztere selbst zu lernen suche, aber ja nicht die ersten Versuche an der Kehle mache. Handle wie die Weisesten vor dir gehandelt haben, und mache den Anfang deiner philosophischen Übungen nicht an solchen Stellen, wo dich ein Irrtum dem Scharfrichter in die Hände liefern kann.
 Lichtenberg

Den Luxus eigener Meinung leistet sich heute kaum jemand.

Donnerstag, 5. September 2019

Unnützes

"Das Gebäude unserer öffentlichen wie privaten Einrichtungen ist voller Unzulänglichkeit. Aber es gibt nichts Unnützes in der Natur, nicht einmal das Unnütze selbst; es ist nichts in dieses Weltall eingetreten, was darin nicht seinen rechten Platz hätte."

Montaigne

Dummheiten

"Niemand ist davon frei, Dummheiten zu sagen. Das Unglück ist, sie gar feierlich vorzubringen."
Montaigne

Frage & Antwort

Wie sollen sie Antworten liefern, wenn sie nicht einmal die Fragen verstehen? Und wenn sie sie verstehen, akzeptieren sie sie nicht.

Freitag, 30. August 2019

Achtundsechziger

"Wie auch immer, im Lauf der Jahre hatte er zugesehen, wie seine Genossen, diese legendären Genossen von 68, anfingen, »vernünftig« zu werden. Sie waren immer vernünftiger geworden, und so war ihre abstrakte Wut dahingeschwunden und hatte sich in konkrete Angepasstheit verwandelt…..
Da es ihnen nicht gelungen war, die Gesellschaft zu verändern, hatten sie sich selbst geändert. Oder sie hatten sich gar nicht zu ändern brauchen, weil sie 68 nur Theater gespielt hatten und in die Kostüme und Masken von Revolutionären geschlüpft waren."
 Andrea Camilleri

Es war also auch in Italien nicht anders als bei uns. Ich hatte das "Glück", zu ebendieser Zeit an der Wiener Uni genau diese Typen als Kommilitonen im Institut für Soziologie zu haben. Es waren fast ausschließlich "höhere Söhne und Töchter" aus der feinen intellektuellen Gesellschaft Wiens und sie haben dann alle eine schöne Karriere gemacht. Einer hat sich sogar zum Zeitungsherausgeber gemausert.

Donnerstag, 22. August 2019

Hommage an Gödel

Hommage an Gödel
Münchhausens Theorem, Pferd, Sumpf und Schopf,
ist bezaubernd, aber vergiss nicht:
Münchhausen war ein Lügner.
Gödels Theorem wirkt auf den ersten Blick
Etwas unscheinbar, doch bedenk:
Gödel hat recht.
"In jedem genügend reichhaltigen System
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind,
es sei denn das System
wäre selber inkonsistent."
Du kannst deine eigene Sprache
in deiner eigenen Sprache beschreiben:
aber nicht ganz.
Du kannst dein eigenes Gehirn
mit deinem eigenen Gehirn erforschen:
aber nicht ganz
Usw.
Um sich zu rechtfertigen
muss jedes denkbare System
sich transzendieren,
d.h. zerstören.
"Genügend reichhaltig" oder nicht:
Widerspruchsfreiheit
ist eine Mangelerscheinung
oder ein Widerspruch.
(Gewissheit = Inkonsistenz)
Jeder denkbare Reiter,
also auch Münchhausen,
also auch du bist ein Subsystem
eines genügend reichhaltigen Sumpfes.
Und ein Subsystem dieses Subsystems
Ist der eigene Schopf,
dieses Hebezeug
für Reformisten und Lügner.
In jedem genügend reichhaltigen System
also auch in diesem Sumpf hier,
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind.
Diese Sätze nimm in die Hand
Und zieh!

Zitiert nach "Die Elixiere der Wissenschaft", Suhrkamp 2002.

Enzensberger bezieht sich auf Kurt Gödels "Unvollständigkeitssatz". Statt die Widerspruchsfreiheit in der Arithmetik zu beweisen (ein ungelöstes Problem der Mathematik) zeigte Gödel, daß es nicht beweisbare Sätze geben kann: man kann nicht entscheiden, ob sie oder ihr Gegenteil zutreffen. Allgemein gesagt: in jeder Sprache die sich selbst zitieren kann gibt es unter der Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit, Sätze, die wahr, aber nicht beweisbar sind.

Hans Magnus Enzensberger (*1929)

Freitag, 9. August 2019

Gejammer und Geraunze über die schlechte Welt

"So ist die Welt. Sie stellt uns Aufgaben. Wir können zufrieden in ihr sein und glücklich. Aber das muß man auch aussprechen! Ich höre es fast nie. Statt dessen hört man täglich Gejammer und Geraunze über die angeblich so schlechte Welt, in der wir zu leben verdammt sind.
Ich halte die Verbreitung dieser Lügen für das größte Verbrechen unserer Zeit, denn es bedroht die Jugend und versucht, sie ihres Rechtes auf Hoffnung und Optimismus zu berauben. Es führt in einzelnen Fällen zu Selbstmord oder zu Drogen oder zum Terrorismus.
Glücklicherweise ist die Wahrheit leicht nachzuprüfen: die Wahrheit, daß wir im Westen in der besten Welt leben, die es je gegeben hat. Wir dürfen diese Wahrheit nicht länger unterdrücken lassen. Die Medien, die in dieser Hinsicht die größten Sünder sind, müssen überzeugt werden, daß sie schweres Unheil anrichten.
Wir müssen die Medien dazu bringen, die Wahrheit zu sehen und zu sagen. Und wir müssen sie auch dazu bringen, ihre eigenen Gefahren zu sehen und, wie alle gesunden Institutionen, Selbstkritik zu entwickeln und sich selbst zu warnen. Der Schaden, den sie gegenwärtig anrichten, ist groß. Ohne ihre Mitarbeit ist es fast unmöglich, ein Optimist zu bleiben."
K. R. Popper
Aber diese "Mitarbeit" ist illusorisch, denn der Pessimismus ist ihr Geschäft. Sie sind "Angstmacher" von Beruf:
https://twitter.com/kumpfuz/status/1159080949130387457?s=20

"Sie fürchten, was sie selbst erfunden haben", so wie Kinder vor dem schwarzen Mann erschrecken, den sie erst selber für ihren Spielgefährten hingemalt haben: "Was ist elender als der Mensch, der sich von den eigenen Hirngespinsten beherrschen läßt?" 



Von meinem Samsung Gerät gesendet.

Westentaschendiktatoren

"Ein wichtiger Punkt in jeder Theorie des nicht-tyrannischen (also »demokratischen«) Staates ist das Problem der Bürokratie. Denn unsere Bürokratien sind »undemokratisch« (in meinem Sinn des Wortes). Sie enthalten unzählige Westentaschendiktatoren, die praktisch nie für ihre Taten und Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden. Max Weber, ein großer Denker, hat dieses Problem für unlösbar gehalten, und er wurde darüber zum Pessimisten."

K. R. Popper 

Donnerstag, 8. August 2019

Volksherrschaft

"Ich vertrete also die Ansicht, daß das Wichtigste einer demokratischen Regierungsform darin besteht, daß sie es ermöglicht, die Regierung ohne Blutvergießen abzusetzen, worauf eine neue Regierung die Zügel übernimmt. Es scheint verhältnismäßig unwichtig, wie diese Absetzung zustande kommt - ob durch Neuwahl oder durch den Bundestag-, solange der Beschluß der einer Majorität ist, entweder von Wählern oder deren Vertretern oder auch von Richtern eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofes. 
Bei einem Regierungswechsel ist diese negative Macht, die Drohung mit Entlassung, das Wichtige. Eine positive Macht zur Einsetzung einer Regierung oder ihres Chefs ist ein verhältnismäßig unwichtiges Korrelat. Das ist leider nicht die gängige Ansicht. Und zu einem gewissen Grad ist die falsche Betonung der Neueinsetzung gefährlich: Die Einsetzung der Regierung kann interpretiert werden als eine Lizenzerteilung durch die Wähler, eine Legitimierung im Namen des Volkes und durch den »Willen des Volkes«. Aber was wissen wir und was weiß das Volk, welchen Fehler - ja, welches Verbrechen - die von ihm gewählte Regierung morgen begehen wird?
Wir können eine Regierung oder eine Politik im nachhinein beurteilen und vielleicht unsere Zustimmung geben und sie wiederwählen. Im vorhinein können sie vielleicht unser Vertrauen haben; aber wir wissen nichts, wir können nicht wissen, wir kennen sie nicht; und wir dürfen darum nicht voraussetzen, daß sie unser Vertrauen nicht mißbrauchen werden.
Nach dem Bericht von Thukydides hat Perikles diese Gedanken in einfachster Weise formuliert:  »Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen.«
Ich halte diese knappe Formulierung für grundlegend und möchte sie wiederholen. Es ist zu beachten, daß hier die Idee einer Herrschaft des Volkes, ja sogar die Idee einer Initiative durch das Volk abgelehnt werden. Sie werden durch die ganz andere Idee einer Beurteilung durch das Volk ersetzt.
Perikles hat hier in aller Kürze gesagt, warum das Volk nicht regieren kann, auch wenn es sonst keine Schwierigkeiten gäbe. Ideen, insbesondere neue Ideen, können nur das Werk von einzelnen sein, vielleicht geklärt und verbessert in der Zusammenarbeit mit einigen wenigen anderen. Viele können wohl nachher sehen - insbesondere dann, wenn sie die Folgen durchlebt haben, zu denen diese Ideen geführt haben-, ob sie gut waren oder nicht. Und solche Beurteilungen, solche »ja-Nein-Beschlüsse«, können auch von einer großen Wählerschaft durchgeführt werden.
Ein Ausdruck wie »Volksinitiative « ist daher irreführend und propagandistisch. Es ist in der Regel eine Initiative von wenigen, die sie bestenfalls dem Volk zur kritischen Beurteilung vorlegen. Und es ist daher in solchen Fällen wichtig, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht hinausgehen über die Kompetenz der Wählerschaft, sie zu beurteilen.
Bevor ich diese Dinge verlasse, möchte ich noch auf eine Gefahr aufmerksam machen, die dadurch entsteht, daß man das Volk und die Kinder lehrt, daß sie in einer Volksherrschaft leben - also etwas, was nicht wahr ist (und gar nicht wahr sein kann). Da sie das bald sehen, werden sie nicht nur unzufrieden, sondern sie fühlen sich belogen: Sie wissen ja nichts über die traditionelle verbale Verworrenheit. Das kann schlimme weltanschauliche und politische Konsequenzen haben und bis zum Terrorismus führen. In der Tat, ich bin solchen Fällen begegnet.
Wie wir gesehen haben, sind wir alle bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für die Regierung, obwohl wir nicht mitregieren. Aber unsere Mitverantwortlichkeit verlangt Freiheit - viele Freiheiten: Redefreiheit; Freiheit des Zugangs zu Informationen und Freiheit, Informationen geben zu dürfen; Publikationsfreiheit und viele andere mehr. Ein »Zuviel« des Staates führt zu Unfreiheit. Aber es gibt auch ein »Zuviel« der Freiheit. Es gibt leider einen Mißbrauch der Freiheit, analog zu einem Mißbrauch der Staatsgewalt. Redefreiheit und Publikationsfreiheit können mißbraucht werden. Sie können zum Beispiel zu Fehlinformationen und zur Verhetzung benutzt werden. Und in genau analoger Weise kann jede Beschränkung der Freiheit durch die Staatsmacht mißbraucht werden.
Wir brauchen die Freiheit, um den Mißbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Mißbrauch der Freiheit zu verhindern. Das ist ein Problem, das offenbar niemals abstrakt und prinzipiell niemals durch Gesetze ganz gelöst werden kann. Es braucht einen Staatsgerichtshof und, mehr als alles andere, einen guten Willen.
Wir brauchen diese Einsicht, daß dieses Problem nie ganz zu lösen ist; oder genauer, daß es nur in einer Diktatur ganz zu lösen ist mit ihrer prinzipiellen Omnipotenz des Staates, die wir aus moralischen Gründen ablehnen müssen. Wir müssen uns mit Teillösungen und Kompromissen abfinden; und wir dürfen uns nicht von unserer Vorliebe für die Freiheit verleiten lassen, die Probleme ihres Mißbrauchs zu übersehen."
 
Aus einem Vortrag von K. R. Popper

Mittwoch, 7. August 2019

Signale aus der Nacht

Christen fragen oft, warum Gott nicht zu ihnen spreche, wie er es in früheren Zeiten getan haben soll. Wenn ich solche Fragen höre, denke ich immer an den Rabbi, der gefragt wurde, wie es käme, dass Gott sich früher den Menschen so oft gezeigt habe, heutzutage aber niemand ihn mehr zu sehen bekomme. Der Rabbi antwortete: «Heutzutage gibt es niemanden mehr, der sich tief genug bücken kann.»
Diese Antwort trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sind von unserem subjektiven Bewusstsein so gefangen und eingewickelt, dass wir die jahrhundertealte Tatsache vergessen haben, dass Gott hauptsächlich in Träumen und Visionen spricht. Der Buddhist tut die Welt der unbewussten Phantasien als nutzlose Illusion ab; der Christ stellt seine Kirche und seine Bibel zwischen sich und sein Unbewusstes, und der rational denkende Intellektuelle weiß noch nicht, dass sein Bewusstsein nicht seine ganze Psyche ist. Die Ignoranz besteht immer noch, trotz der Tatsache, dass seit über siebzig Jahren das Unbewusste ein grundlegendes wissenschaftliches Konzept darstellt, das für jede ernsthafte psychologische Forschung unerlässlich ist.
Wir dürfen uns nicht länger zu gottähnlichen Richtern über Verdienste und Fehler natürlicher Erscheinungen aufwerfen. Wir gründen unsere Botanik nicht auf die altmodische Einteilung in nützliche und nutzlose Pflanzen oder unsere Zoologie auf die naive Unterscheidung zwischen harmlosen und gefährlichen Tieren. Aber immer noch behaupten wir, nur Bewusstsein sei sinnvoll, das Unbewusste dagegen Unsinn. In der Naturwissenschaft wäre eine derartige Behauptung lächerlich. Haben zum Beispiel Mikroben einen Sinn, oder sind sie Unsinn?
Was auch immer das Unbewusste sonst noch sein mag, es ist eine Naturerscheinung, die Symbole produziert, welche sich als bedeutsam erweisen. Wir können von einem Menschen, der noch nie durch ein Mikroskop geschaut hat, nicht erwarten, dass er eine Autorität auf dem Gebiet der Mikroben ist; ebenso kann man niemanden, der natürliche Symbole noch nicht ernsthaft untersucht hat, als kompetenten Richter in dieser Sache ansehen.
Obgleich die katholische Kirche das Vorkommen von somnia a Deo missa  zugibt, machen die meisten ihrer Denker  keinen ernsthaften Versuch, Träume zu verstehen. Ich bezweifle, dass es eine protestantische Abhandlung oder Lehre gibt, die sich so weit herablässt, die Möglichkeit zuzugeben, man könnte die vox Dei im Traum wahrnehmen. Wenn aber ein Theologe wirklich an Gott glaubt, wie kann kann er dann annehmen, Gott sei nicht imstande, durch Träume zu sprechen?
In einer Periode der menschlichen Geschichte, da alle verfügbare Energie auf die Erforschung der Natur verwandt wird, untersucht man zwar die bewussten Funktionen des Menschen, aber der wirklich komplizierte Teil des Geistes, der die Symbole hervorbringt, ist immer noch weitgehend unerforscht. Es scheint fast unglaublich, dass, obwohl wir jede Nacht von dort Signale empfangen, eine Entzifferung dieser Mitteilungen den meisten Menschen zu lästig erscheint. Das bedeutendste Instrument des Menschen, seine Psyche, wird kaum beachtet, oft sogar mit Misstrauen und Verachtung angesehen. «Das ist bloß psychologisch» heißt sehr häufig: Es bedeutet gar nichts.
Woher kommt dieses immense Vorurteil? Wir  sind offenbar so sehr mit der Frage beschäftigt, was wir selber denken, dass wir ganz vergessen zu fragen, was die unbewusste Psyche eigentlich über uns denkt.
C.G. Jung

Respekt vor den Vorfahren?

"Dieser respektvolle Umgang mit dem » anderen« wäre auch von heute aus gegenüber der Geschichte angebracht. Wird in unseren Tagen mit Recht erwartet, dass man ganz fremde Zivilisationen respektiert und nicht in kolonialistischer Mentalität abwertet, so können das mit gleichem Recht die Vorfahren erwarten, die den heutigen Menschen immerhin den Glauben und nebenbei auch den Wohlstand vermittelt haben. Wie wäre es also mit etwas »Nächstenliebe nach gestern«? Solch wertschätzender Respekt ist ein Zeichen für Humanität und mitmenschliche Dankbarkeit, ohne natürlich berechtigte Kritik auszuschließen."
M. Lütz

>>>>> https://kumpfuz.blogspot.com/2019/03/ex-ante-ex-post.html

Donnerstag, 25. Juli 2019

Wahrheit, noch einmal

Was wir heute Wahrheit nennen, ist nicht, was wahr ist, sondern was man andern einreden kann. 
Montaigne

Vor über 400 Jahren hat er das offenbar auch schon so gesehen - und heute ist es das Grundmuster der Massenmedien und der von ihnen geschaffenen Politiktypen wie Trump oder Johnson...

Mittwoch, 17. Juli 2019

Es gibt keine Geschichte

Es gibt keine Geschichte der Menschheit, es gibt nur eine unbegrenzte Anzahl von Geschichten, die alle möglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen. Und eine von ihnen ist die Geschichte der politischen Macht. Sie wird zur Weltgeschichte erhoben. Aber das ist ein Affront gegen alle Menschlichkeit und Sittlichkeit. Es ist kaum besser, als wenn man die Geschichte der Unterschlagung oder des Raubes oder des Giftmordes zur Geschichte der Menschheit machen wollte. Denn die Geschichte der Machtpolitik ist nichts anderes als die Geschichte der nationalen und internationalen Verbrechen und Massenmorde (einige Versuche zu ihrer Unterdrückung eingeschlossen). Diese Geschichte wird in der Schule gelehrt, und einige der größten Verbrecher werden als ihre Helden gefeiert.
Aber warum wurde gerade die Geschichte der Macht und nicht zum Beispiel die Geschichte der Religion oder der Dichtkunst ausgewählt? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser Gründe ist, daß die Macht uns alle, die Dichtung aber nur wenige von uns beeinflußt. Ein anderer ist, daß die Menschen geneigt sind, die Macht anzubeten. Aber die Anbetung der Macht ist eine der verächtlichsten Formen der Idolatrie und des Knechtsgeistes. Die Anbetung der Macht ist aus der Furcht geboren: aus einem Gefühl, das wir mit Recht verachten. Ein dritter Grund dafür, daß die Machtpolitik zum Zentrum des Interesses der Geschichtsschreiber wurde, ist, daß die Mächtigen oft den Wunsch hatten, angebetet zu werden, und daß sie die Mittel besaßen, ihre Wünsche durchzusetzen. Viele Historiker schrieben im Auftrag und unter der Aufsicht der Kaiser, der Generäle und der Diktatoren. 
K.R. Popper