Donnerstag, 15. Oktober 2020

Nutzlose Vorschriften

 ...wenn irgendein Hindernis die Seele verdunkelt und sie die Reihenfolge der Pflichten zu überblicken hindert, richtet nichts aus, wer Vorschriften formuliert: "So mußt du mit dem Vater leben, so mit der Ehefrau". Nichts nämlich werden Vorschriften nützen, solange den Verstand Irrtum umgibt: wenn er entfernt wird, zeigt sich deutlich, was man jeder Pflicht schuldet. Sonst lehrst du ihn, was der Gesunde tun muß, machst ihn aber nicht gesund.  Dem Armen zeigst du, wie er den Reichen spielen soll: wie kann das, wenn die Armut anhält, geschehen? Du zeigst dem Hungrigen, was er als Gesättigter tun soll: Nimm ihm lieber den Hunger aus den Eingeweiden. Dasselbe sage ich dir über alle Fehlhaltungen: sie selbst müssen entfernt werden, nicht darf man vorschreiben, was nicht geleistet werden kann, wenn sie noch andauern. 

 Seneca, Ep. m. XV.

Nihil enim proficient praecepta quamdiu menti error obfusus est ...

Dienstag, 13. Oktober 2020

ἀταραξία

 Ein Mensch, der nach vielen bitteren Kämpfen gegen seine eigene Natur endlich ganz überwunden hat, ist nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig. Ihn kann nichts ängstigen, nichts mehr bewegen; denn alle die tausend Fäden des Wollens, welche uns an die Welt gebunden halten und als Begierde, Furcht, Neid, Zorn uns hin und her reißen unter beständigem Schmerz, hat er abgeschnitten. Er blickt nun ruhig lächelnd zurück auf die Gaukelbilder dieser Welt, die einst auch sein Gemüt zu bewegen und zu peinigen vermochten, die aber jetzt so gleichgültig vor ihm stehn wie die Schachfiguren nach geendigtem Spiel oder wie am Morgen die abgeworfenen Maskenkleider, deren Gestalten uns in der Faschingsnacht neckten und beunruhigten. Das Leben und seine Gestalten schweben nur noch vor ihm wie eine flüchtige Erscheinung, Wie dem Halberwachten ein leichter Morgentraum, durch den schon die Wirklichkeit durchschimmert und der nicht mehr täuschen kann; Und eben auch wie dieser verschwinden sie zuletzt ohne gewaltsamen Übergang. 

Schopenhauer

>>> ἀταραξία=Gemütsruhe

Samstag, 3. Oktober 2020

Bauwut zeitlos

 ,,Wie lange, und es wird keinen See geben, über den nicht die Giebel eurer Landhäuser ragen? Keinen Fluß, dessen Ufer nicht eure Bauten säumen? Wo immer warmer Quellen Adern sprudeln, dort werden neue Herbergen eurer Genußsucht entstehen. Wo immer sich zu einer Bucht die Küste krümmt, werdet ihr sofort Fundamente eines Baus legen und, nicht zufrieden mit einem Boden, wenn ihr ihn nicht mit eigener Hand geschaffen habt, das Meer nach drinnen leiten. Alle Orte mögen von euren Dächern leuchten, hier auf Bergen errichtet zum weiten Ausblick über Länder und Meer, dort aus der Ebene zur Höhe von Bergen aufgeführt- obwohl ihr viel baut, obwohl riesig, dennoch seid ihr jeder ein Körper, und zwar ein kümmerlicher."

SENECA - vor 2000 Jahren