Dienstag, 24. September 2019

Neue Musik

Das Neue in der Kunst 
(Nikolaus Schapfl)

Heute gibt es im Großen und Ganzen drei Musikstile:
  • Eine Ernste Musik, die für sich die Rolle der Hochkultur beansprucht und dabei nur ein abgesonderter Spezialbereich, ein Ghetto mit verschwindend geringem Anteil am Gesamtmusikleben bleibt - kurz Musik, mit der die Menschen nicht leben.
  • Zweitens die Unterhaltungsmusik, meist eine Kultur des Banalen, des Bauches - wenn auch nicht immer, denn wer würde bestreiten, daß es auch tieferschürfende, beeindruckende Popsongs mit künstlerischer Aussage und Kraft gibt.
  • Und drittens einen Bereich der tonalen und experimentellen Filmmusik, die zwar oft viel erhebende Ästhetik ausstrahlt, aber per se ihr Zentrum außerhalb von sich, untermalenden Charakter und meist eher Hintergrundmusik an der Schwelle des Bewußtseins zu sein hat.
 Die Frage erhebt sich in eklatanter Weise: Wo ist eigentlich jene neue Musik, in der wirklich die Sehnsüchte der Menschen nach Schönheit, nach erhebendem Gesamtzusammenhang, nach Erleben umfassender Höhe und Tiefe ausgedrückt werden?

Die heute übliche Einteilung in Hoch- und Massenkultur
Heute wird die neu entstehende, zeitgenössische Musik und Komposition in E-Musik und U-­Musik unterschieden. Diese Einteilung ist Grundlage nicht nur für die theoretische Rezeption sondern auch für die finanzielle Bewertung durch die Verwertungs- bzw. Urheberrechts­gesellschaften:
(a) E-Musik (heute ein Ghetto und ein Kampfschauplatz): Nach und parallel zur spätromantischen Epoche (Wagner/R, Strauss), wurde - hauptsächlich durch die Zweite Wiener Schule - Neuland außerhalb der Tonalität beschritten, umso energischer, je härter der Widerstand war. Die Musik sollte von tiefsitzenden, engen Denkweisen befreit werden. Diese „Neue" Musik wurde konsequent auf den dissonanten Anteil des Klangspektrums beschränkt unter völligem Vergessen der Tatsache, daß nicht nur Dissonanzen, sondern auch Konsonanzen zeitlose Bestandteile seiner Natur sind. Aber das dauerhafte Verlangen nach tonalem Ausdruck, nach Melodie und Harmonie, welche ihre Schönheit noch deutlicher im Kontrast zur Dissonanz offenbaren, konnte nicht ausgelöscht werden, nicht einmal nach 80 Jahren strenger Umerziehung. Inzwischen fand die Tonalität lebendigen Ausdruck in der Unterhaltungsmusik, bedauerlicherweise unter Verlust ihres Hochkultur-Status. Ein Komponist, der mit der Hochkultur etwas zu tun haben wollte, mußte sich der neuen Ideologie unterordnen, welche das Spektrum nun auf die Dissonanzen einengte.
Diese befremdliche Situation dauert bis heute an: (1) Hochkulturmusik wird - per Definition ­mit Atonalität identifiziert. (2) Schönheit in der Musik ist ein Phänomen vergangener Epochen und kein Teil zeitgenössischen Lebens mehr.
Die Konsequenz: Im Konzertleben hat sich die Sandwichtechnik etabliert, was heißt: Zwischen zwei Mozarts ein Ligeti, um zu vermeiden, daß die Zuhörer nach der Pause fortgehen.
(b) U-Musik (Populärmusik für die Masse, oft - nicht immer - eine Kultur des Banalen) In diesem Zusammenhang steht irgendwie zwischen E und U:
(c) Die tonale und experimentelle Filmmusik, dh. vor allem Hintergrundmusik, keine absolute Musik, welche das Zentrum in sich selbst hat. Das Aufleben der optischen Kultur bedeutet einen Verlust an Abstraktion und Geist. Das, was die Menschen in der Musik als „schön", erfüllend, aufbauend empfinden, wird von der Theorie „zweitklassig", ,,weniger wert" betitelt, während, wer E-Musik, also ernstzunehmende Hochkultur schaffen will, Nihilismus, atomisierte, bezugslos im Raum treibende Ästhetizismen ohne Sinn bieten muß, Dekonstruktivismus (Alles ist Nichts), institutionalisierte Aussagelosigkeit. Wer musikalische Schönheit will, bekommt zu hören: ,,Gehen Sie zum Film... Gehen Sie in die Pop-Branche!"

Eine zerstörerische Avantgarde
Der bedeutende Komponist Helmut Lachenmann (*1935), selbst ein Vertreter extremer Atonalität und Geräuschmusik, erzählte mir bei einer größeren Tafel eines Abendessens neben mir sitzend - eigentlich flüsterte er mir ins Ohr - sinngemäß: ,,In den fünfziger Jahren kamen die (Neo-)Kommunisten zu uns und sagten : Ihr müßt das bürgerliche Denken zerstören." Auch Hans-Werner Henze (*1926) verlautbarte in den sechziger Jahren: ,,Die Musik heute muß den Sozialismus unterstützen." Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule (68er) steuerten viel Theorie bei. Für sie mußte die Musik eine Rolle in einem umfassenden Veränderungsprozeß spielen.
«Künstler», auch solche, die fachlich nichts konnten und bewußt keinerlei «Handwerk» betreiben wollten, sondern provozierten, schockierten und die Menschen gezielt mit Atonalität, Disharmonie und Häßlichkeit plagten, unterwanderten und infiltrierten in den 60er und 70er Jahren die Kunstwelt fast vollständig. Sie diktierten den Könnern mit Medienmacht und soziologischer Beredsamkeit das Dogma vom Ende der Harmonie, der Tonalität, der Symmetrie und der Schönheit. Die Darstellung des Schönen, Wahren und Guten wurde bewußt verteufelt, weil sie angeblich unkritisch mache und das «System» stabilisiere, statt es zu zerstören. Deshalb sei sie reaktionär.
«Die reaktionäre Musik», schreibt Adorno, müsse «mit allen Mitteln der Polemik und rücksichtslos angegriffen werden». . . Die «neue Musik» hatte nach Adorno aktiv am Klassenkampf teilzunehmen. Die 1929 gegründete Frankfurter Ortsgruppe der «Internationalen Gesellschaft für neue Musik» war für Adorno «die Internationale» der Musik. Was für ihn Marx auf dem Gebiete der Soziologie war, sei Schönberg auf dem Gebiet der Musik, Kunst also im Dienste des Klassenkampfs, im Dienst einer totalitär marxistischen Ideologie. Adornos Ästhetik im Dienste eines neomarxistischen Kulturkampfs gegen die Werte und Normen der bürgerlich-­kapitalistischen Gesellschaft wurde im Gefolge der 68er Revolte zum Programm vieler «Kunst»schaffender - ein historischer Vorgang, der bis heute fortwirkt.

Das Problem der heute noch ausschließlich als „etabliert" geltenden atonalen Musik ist nicht ihr Wesen, sondern ihr totalitärer Machtanspruch. Dunkelheit und Verzweiflung sollen als Monokultur gelten. Was nicht negativ ist, ist „alt", reaktionär. Entspannung, Erhabenheit sind ,,verboten".

Tonalität und Atonalität
Wir haben in der bei uns gebrauchten, wohltemperierten Stimmung zwölf Töne zur Verfügung. Mit diesen zwölf Tönen erschließt sich uns der gesamte Bereich der Skala zwischen Konsonanz (Einklang, Oktave, Quinte, Terz, Dreiklang usw.) über verschiedene Stufen der Dissonanz bis hin zur höchstmöglichen Dissonanz (kleine Sekunde, große Septime, kleine None, eventuell Tritonus usw.).
Die Atonalität beschränkt sich auf einen Teil des Tonspektrums, nämlich auf die Dissonanz und geht auch oft bis zur Auflösung des Tonchromas, dh. also bis hin zum Geräusch, ja zum Lärm. Die Verfechter der ausschließlichen Atonalität wollen den Dreiklang und weitere Konsonanzen völlig verbannen, oft prinzipiell, immer aber vor allem im Zusammenhang mit Dur-Moll-Tonalität, die sich historisch herausgeschält hat.
In den 70er Jahren noch wurde an den Musikhochschulen behauptet, bzw. es war das „politisch korrekte" Denken, daß die Dur-Moll-Tonalität nur anerzogen, nur inkulturiert sei und daß wir uns endlich davon befreien und frei im dodekaphonen Raum bewegen können. Schon Schönberg hatte prophezeit, die Kinder würden in fünfzig Jahren seine Melodien auf der Straße singen. Solche Voraussagen sind verstummt.

Die Kultur des Sekundären
In den letzten Jahrzehnten entstanden kaum Werke, welche die Uraufführung überlebten. Es gibt kaum Komponisten, die nach 1950 noch gelebt haben, deren Werke den Weg ins Repertoire geschafft hätten. Ausnahmen sind vor allem Schostakowitsch, Prokofiev, Bernstein .... Wenn wir die Zeitgrenze auf 1970 heranziehen, fällt es noch schwerer, überhaupt eine danach entstandene Oper oder ein Orchesterwerk zu finden, daß auch nur annähernd so regelmäßig gespielt wird wie ein Klassiker.
Angewachsen hingegen sind die Inszenierungen des sogenannten Regietheaters, in denen klassische Opern, die meist vor 1900 komponiert wurden, umgedeutet werden. Werke einer lebendigen zeitgenössischen Musikkultur, die sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit behaupten können als Stücke vom und im „Herzen und Verstand" der heutigen Menschen, sind  unbekannt.

Der Begriff Neue Kunst wurde zum Etikett für immer dasselbe. Die Avantgarde des Establishments ist seit Jahrzehnten unverändert - eine sehr alte Avantgarde. Während die neu entstehende Kunst stagniert, erscheint die Arbeit von Intendanten, PR-Fachleuten, Museumsdirektoren und Kritikern immer wichtiger. Neue Opern werden bei Festivals oft nur einmal gespielt, so „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von Lachenmann bei den Salzburger Festspielen 2002, während „Die Liebe der Danae" von Strauss fünfmal, Turandot siebenmal aufgeführt wurde. 

Die Situation eines jungen Komponisten seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts:
Sie oder er wird genötigt, eine Musik zu komponieren, die der herrschenden Ästhetik entspricht, in diesem Fall dem Kult des Häßlichen, des Negativen, der Sinnlosigkeit, der Verzweiflung. Kunst, die nicht nihilistisch ist, wird als politisch nicht korrekt aufgefaßt. - Der bedeutende österreichische Komponist Ernst-Ludwig Leitner, Professor am Mozarteum, drückte das Dilemma sinngemäß wie folgt aus:,, Wenn du der herrschenden Ästhetik gehorchst, bist du integriert, aber das, was integriert ist, will das Publikum nicht hören."

So etwas wie Inspiration, Einfall, Atem ist nicht nur fremd, sondern de facto Gegenstand von Ablehnung. Die Resultate sind meist gehetzte, unnatürliche, entsetzlich sich in die Länge dehnende Quellen von Langeweile, Klangansammlungen, bei denen es egal bleibt, wo man einsteigt, ob da, wo man gestern aufgehört hat oder wo es übermorgen weiterginge.

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