Sonntag, 31. Dezember 2017

Sonntag, 17. Dezember 2017

Witz und Humor

Ich hatte einen - sehr lieben! - Onkel, der konnte blendend Witze erzählen und hatte ein unerschöpfliches Repertoire, aus dem er jederzeit die zur jeweiligen Situation passenden hervorholen konnte. Humor hatte er aber - bei allen sonstigen Qualitäten - eher nicht. Das zeigte sich beispielhaft beim Kartenspielen zu viert: Solange er gewann, unterhielt er die Partie derart, dass es manchmal vor lauter Lachen schwer war, weiter zu spielen. War er auf der Verliererstraße, wurde er zusehends griesgrämiger. Verlieren können halte ich aber für ein wesentliches Ingrediens des Humors.
Auf der anderen Seite kenne ich Leute, die Witze nicht erzählen und sie sich auch nicht merken können; soweit ich sie kenne, traue ich ihnen aber durchaus Humor zu. Ich halte es für ein wesentliches Kriterium des Humors, dass man über sich selbst - nein, nicht unbedingt lachen, aber lächeln oder zumindest den Kopf schütteln kann. Die höheren Weihen erreicht man allerdings erst, wenn man das auch bei Fehler von anderen kann; das ist aber sehr schwer.
"Und nichts vermöchte einen Menschen in solchem Maße instand zu setzen, Distanz zu schaffen zwischen irgend etwas und sich selbst, wie eben der Humor." 
V. E. Frankl

Die Stachelschweine

Arthur Schopenhauer

Die Stachelschweine

Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.
So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.
Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.
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Alfred Komarek formuliert das kürzer als: "...Wechselspiel von vernünftiger Nähe und sorgsamer Distanz".

Keine Panik

"Verzichten aber heißt einsehen, daß ein relativer Wert eben relativ ist. Dies klingt abstrakt, und daher möchte ich konkreter werden, und ich zitiere ein altes chinesisches Sprichwort: es sagt, jeder Mann solle in seinem Leben einen Baum gepflanzt, ein Buch geschrieben und einen Sohn gezeugt haben. Nun, wenn sie sich daran halten wollten - die meisten Männer müßten verzweifeln und sich konsequenterweise das Leben nehmen; denn die wenigsten waren dann wohl imstande, ihrem Leben den rechten Sinn zu geben: selbst wenn sie Bäume gepflanzt hätten, haben sie wohl kein Buch geschrieben oder nur eine Tochter gezeugt oder umgekehrt usw. Aber auch wenn man nicht das Bäumepflanzen, Bücherschreiben und Söhnezeugen, überhaupt nicht die Vaterschaft vergötzt, sondern die Mutterschaft - wir müßten sagen: wie arm wäre doch das Leben, würde es nicht auch andere Möglichkeiten bieten, um es sinnvoll zu gestalten, es mit Sinn zu erfüllen. Und ich muß sagen: was wäre das auch für ein Leben, dessen Sinn damit steht und fällt, daß man heiratet und Kinder kriegt, Bäume pflanzt und Bücher schreibt? 
Gewiß: das alles sind Werte, wirkliche Werte; aber sie sind relativ - absolut hingegen kann nur eines sein, und das ist das Gebot unseres Gewissens. Und dieses Gewissen gebietet uns, daß wir uns unter allen Bedingungen und Umständen unserem Schicksal stellen - wie immer es auch sein mag; und unser Gewissen fordert von uns, daß wir dieses Schicksal gestalten, daß wir handeln, daß wir das Schicksal in die Hand nehmen, wo dies möglich ist; daß wir aber auch bereit sind, das Schicksal auf uns zu nehmen - wenn dies nötig ist -, und daß wir dann das rechte, aufrechte Leiden echten Schicksals leisten. 
Haben wir uns dem Schicksal aber einmal gestellt, sei es in einer Handlung, sei es - wo ein Handeln nicht möglich war - in der rechten Haltung, so oder so haben wir das Unsere getan. Dann gibt es auch kein schlechtes Gewissen mehr - weder ein positives noch ein negatives, wer weder eines, das sich auf unsere Handlungen bezieht, noch eines, das die Unterlassungen betrifft. Und dann hört mit einemmal auch alle Torschlußpanik auf. Denn letztlich beruht sie auf jener optischen Täuschung, von der ich bereits einmal sprach, als ich sagte: der Mensch sieht meistens nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit, aber er übersieht die vollen Scheunen der Vergangenheit - er übersieht, was er alles ins Vergangensein hineingerettet hat, wo es nicht unwiederbringlich verloren ist, sondern unverlierbar geborgen bleibt. 
Nun: wer da beherrscht ist vom Lebensgefühl des ständigen Abschied-nehmen-Müssens und ergriffen von der Torschlußpanik, der hat vergessen, daß das Tor, das sich zu schließen droht, eben das Tor einer vollen Scheune ist ... Und er überhört den Trost und die Weisheit, die uns entgegenklingen aus den Worten der Bibel: »Du gehst im Alter zu Grabe, wie der Garbenhaufen eingefahren wird zur Zeit.« "

V. E. Frankl

Samstag, 9. Dezember 2017

Personenbeschreibung

"Charakter einer mir bekannten Person.
....von der Religion hat er als Knabe schon sehr frei gedacht, nie aber eine Ehre darin gesucht ein Freigeist zu sein, aber auch keine darin, alles ohne Ausnahme zu glauben. Er kann mit Inbrunst beten und hat nie den 9o. Psalm ohne ein erhabenes, unbeschreibliches Gefühl lesen können(*) ..... Er weiß nicht was er mehr haßt, junge Offiziers oder junge Prediger, mit keinen von beiden könnte er lange leben .... Lesen und Schreiben ist für ihn so nötig als Essen und Trinken, er hofft es wird ihm nie an Büchern fehlen. An den Tod denkt er sehr oft und nie mit Abscheu, er wünscht daß er an alles mit so vieler Gelassenheit denken könnte, und hofft sein Schöpfer wird dereinst sanft ein Leben von ihm abfordern, von dem er zwar kein allzu ökonomischer, aber doch kein ruchloser Besitzer war." 

G. Chr. Lichtenberg
http://www.lichtenberg-gesellschaft.de/leben/l_leb_goe_licht.html
(*) PSALM 90:Ein Bittgebet des Mose, des Mannes Gottes. O Herr, du warst uns Wohnung von Geschlecht zu Geschlecht.
Ehe geboren wurden die Berge, ehe du unter Wehen hervorbrachtest Erde und Erdkreis, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Zum Staub zurückkehren lässt du den Menschen, du sprichst: Ihr Menschenkinder, kehrt zurück!
Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.
Du raffst sie dahin, sie werden wie Schlafende. Sie gleichen dem Gras, das am Morgen wächst:
Am Morgen blüht es auf und wächst empor, am Abend wird es welk und verdorrt.
Ja, unter deinem Zorn schwinden wir hin, durch deine Zornesglut werden wir starr vor Schrecken.
Unsere Sünden hast du vor dich hingestellt, unsere verborgene Schuld in das Licht deines Angesichts.
Ja, unter deinem Grimm gehen all unsere Tage dahin, wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer. Die Zeit unseres Lebens währt siebzig Jahre, wenn es hochkommt, achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis, schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin.

Dienstag, 5. Dezember 2017

Bekenner

Als UHBP van der Bellen den Papst besuchte, stand in der Zeitung: "Der bekennende Agnostiker....".
Da hat jemand was nicht ganz verstanden. Ein "echter" Agnostiker bekennt sich zu nichts. Aber vielleicht sieht er sich ja selber so....

Multidimensionale Realität

"Die Wissenschaft, so wird ihm erklärt, sei ein bloßer Querschnitt durch die multidimensionale Realität, und so sei es denn sehr wohl möglich, daß sich ein Sinnzusammenhang in ihrer Ebene nicht abbilde. In einer höheren Dimension könne er trotzdem bestehen. Wer mir sage, fragt er nun, daß eine höhere Dimension überhaupt existiere. Daraufhin erkläre ich, nur eine Überschätzung und Vergötzung der Wissenschaft verhindere ihn, andere Zugänge auszuschließen. Und zwar tue er dies, weil er sich vor der volldimensionalen Realität verschließe, während es uns abverlangt und aufgetragen sei, offen zu sein gegenüber der Fülle von Wirklichkeiten - und Möglichkeiten."
V. E. Frankl

Mittwoch, 22. November 2017

Katzenträume

»Indem ich«, sprach Kreisler, »diesen klugen Kater betrachte, fällt es mir wieder schwer aufs Herz, in welchen engen Kreis unsere Erkenntnis gebannt ist. - Wer kann es sagen, wer nur ahnen, wie weit das Geistesvermögen der Tiere geht! Wenn uns etwas oder vielmehr alles in der Natur unerforschlich bleibt, so sind wir gleich mit Namen bei der Hand und brüsten uns mit unserer albernen Schulweisheit, die eben nicht viel weiter reicht als unsere Nase. So haben wir denn auch das ganze geistige Vermögen der Tiere, das sich oft auf die wunderbarste Art äußert, mit der Bezeichnung Instinkt abgefertigt. Ich möchte aber nur die einzige Frage beantwortet haben, ob mit der Idee des Instinkts, des blinden willkürlosen Triebes, die Fähigkeit zu träumen vereinbar sei. Daß aber z. B. Hunde mit der größten Lebhaftigkeit träumen, weiß jeder, der einen schlafenden Jagdhund beobachtet hat, dem im Traum die ganze Jagd aufgegangen. Er sucht, er schnuppert, er bewegt die Füße, als sei er im vollen Rennen, er keucht, er schwitzt. - Von träumenden Katern weiß ich zur Zeit nichts.« 
»Der Kater Murr«, unterbrach Meister Abraham den Freund, »träumt nicht allein sehr lebendig, sondern er gerät auch, wie deutlich zu bemerken, häufig in jene sanfte Reverien, in das träumerische Hinbrüten, in das somnambule Delirieren, kurz, in jenen seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, der poetischen Gemütern für die Zeit des eigentlichen Empfanges genialer Gedanken gilt. In diesem Zustande stöhnt und ächzt er seit kurzer Zeit ganz ungemein, so, daß ich glauben muß, daß er entweder in Liebe ist oder an einer Tragödie arbeitet.« 
E. T. A. Hoffmann, Kater Murr.

Also, unsere Katzen haben immer geträumt und auch im Schlaf "gesprochen". Was gäbe ich drum, wenn ich wüsste, worüber!
Katze im Café 
"Am Bahnhof bemerkte er, daß er noch eine Stunde Zeit hatte. Er rief sich ins Gedächtnis, daß es in einem Café auf der Calle Brazil eine riesige Katze gab, die sich streicheln ließ als sei sie eine verachtende Gottheit. Er betrat das Café. Da war die Katze und schlief. Er bestellte eine Tasse Kaffee, rührte um, schlürfte sie langsam und dachte, als er den schwarzen Mantel der Katze glättete, daß dieser Kontakt eine Illusion sei, daß diese beiden Existenzen, Mensch und Katze, wie durch eine Glasscheibe getrennt sind, denn der Mensch lebt in der Zeit, in der Abfolge, während das magische Tier in der Gegenwart lebt, in der Ewigkeit des Augenblicks." 
Aus: J.L.Borges, Ficciones 

Sonntag, 19. November 2017

Kopfkunst

"...und es wird  noch schlimmer werden. Der Kopf wird über das Herz siegen: die Wissenschaft die Kunst zugrunde richten."
Gioacchino Rossini

Sonntag, 5. November 2017

Zum Glück II

„Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.“ 
W. Benjamin


"...denn Glück muß sich als Nebenwirkung einstellen."
V.E.Frankl

"Glücklich sein ist bei weitem nicht das, als aufhören unglücklich zu sein."

J. Nestroy
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"In jeder Sekunde strömen unglaublich viele Informationen auf uns ein, die wir nicht alle verarbeiten können. Unser Gehirn hat also das Problem der Auswahl: Was von dem vielen soll weiter beachtet und verarbeitet werden, und was kann es getrost übergehen? Es braucht daher ein Modul, das bewertet und vergleicht. Solange alles nach Plan läuft, also nichts geschieht, was wir nicht schon wüssten, tut dieses Modul nichts. Geschieht jedoch etwas, das besser ist als erwartet, dann feuert das Modul. Dann werden wir wach, aufmerksam, wenden uns dem Erlebnis zu und verarbeiten die Informationen besser.....Man sieht sofort: Auf andauerndes Glücklichsein ist das Modul gar nicht ausgelegt. Vielmehr darauf, dass wir dauernd nach dem streben, was für uns gut ist! Beim Modul unseres Gehirns, das für Glückserlebnisse zuständig ist, geht es also nicht um dauerndes Glück, es geht vielmehr um dauerndes Streben. Das ist ein großer Unterschied!"
Manfred Spitzer.
"Shit happens: Mal bist du die Taube, mal bist du das Denkmal. Glück kommt und geht. Unglück auch. Aber IM Unglück denken wir automatisch: Das bleibt jetzt für immer so. Eine der schönsten Nachrichten aus der Traumaforschung ist, dass über 80 Prozent der Menschen, die brutale Schicksalsschläge erleben, gut damit klarkommen. Es braucht eine Zeit, aber auch ohne therapeutische Intervention sind sie zwei Jahre später nicht dauerhaft beeinträchtigt, oft sogar noch gestärkt. Unfälle, Krankheit, Trennung und Tod sind Teil des Lebens. Es gibt «das Böse» auf der Welt - warum, weiß Gott oder der Geier. Und ich hoffe inständig, es sind zwei verschiedene Instanzen."
E. V. Hirschhausen.


Mittwoch, 1. November 2017

Mythos und Wirklichkeit

"Es bedeutete eine starke Vereinseitigung schon bei Platon, die Weisheit des Mythos in  die Sprache der Philosophie übersetzen zu wollen.....
....die lebendige Wirklichkeit tut uns nicht den Gefallen, eindeutig zu sein, sie besteht vielmehr in einem ständigen Fließen mit unabgrenzbaren Übergängen." 

E. Drewermann

Montag, 30. Oktober 2017

Gleichung

«Wer auch nur eine einzige Seele zerstört, der wäre gleich zu erachten einem Menschen, der eine ganze Welt zerstört hätte; und wer auch nur nur eine einzige Seele errettet,  der ist gleich zu erachten einem Menschen, der eine ganze Welt gerettet hätte.» 
aus dem Talmud 

Dienstag, 24. Oktober 2017

Achtung vor dem Alter



".....einer Jugend, die die Achtung vor dem Alter nicht kennt, nicht zuletzt aus dem Grunde, weil das Alter heute dazu neigt, sich möglichst jung zu gerieren - und solcherart sich lächerlich zu machen. Leider wird eine Jugend ohne Achtung vor dem Alter, sobald sie einmal selber alt geworden ist, auch die Selbst-Achtung nicht kennen, und ein altersbedingtes Minderwertigkeitsgefühl wird sie quälen."
V. E. Frankl 

Voltaire

Dienstag, 17. Oktober 2017

Das Böse ist immer und überall

"Hier ist jeder Pharisäismus höchst unangebracht, in dem sich die eine Nation gegenüber der andern wiegen mag. Geben wir es doch nur zu: jeder Mensch, und jeder einzelne genau so wie jedes einzelne Volk, «ist» schlechterdings «in Begleitung» des Bösen. Und diese Begleitung ist wahrhaftig, um es musika­lisch auszudrücken, eine «obligate» Begleitung:  Das Böse ist ubiquitär! Und sofern wir gerade in den letzten Jahren gesehen haben, zu was allem der Mensch fähig ist, so haben wir auch gelernt, daß dazu jeder einzelne fähig ist. Gewiß, nicht in jedem wird das Böse Wirklichkeit; aber in jedem ist es angelegt zu­mindest als Möglichkeit; und als Möglichkeit war das Böse nicht nur in jedem, sondern als Möglichkeit ist es auch und bleibt es auch in jedem. Glauben wir nur das nicht: daß der Teufel eine Nation gepachtet hat oder daß er irgendeine Partei mono­polisiert hat. Und auch der irrt, der da meinte, der National­sozialismus sei es gewesen, der das Böse erst geschaffen habe: dies hieße den Nationalsozialismus überschätzen; denn er war nicht schöpferisch - nicht einmal im Bösen. Der Nationalsozia­lismus hat das Böse nicht erst geschaffen: er hat es nur geför­dert - wie vielleicht kein System zuvor: gefördert durch eine negative Auslese, die er betrieb, und durch die «fortzeugend Böses gebärende» Macht des bösen Vorbildes. 
Aber sollen wir nun den Spieß umkehren? Sollen wir nun «dasselbe in Grün» machen oder, wie man eigentlich sagen müßte, das Braune in Schwarz oder Rot? Sollen wir dasselbe und immer wieder dasselbe tun und nur die Vorzeichen ändern? - Ich kenne einen Jungen, der einmal gefragt wurde, ob er sich nicht von einem alkoholischen Getränk bedienen wolle; und in seiner sprachlichen Unbeholfenheit meinte dieser Junge: «Danke, nein, ich bin ein - Antisemit von Alkohol.» So etwa mutet einen so mancher Ismus von heute an: man ist zwar vielleicht nicht mehr ein Antisemit im eigentlichen, ursprünglichen Sinne, man ist also nicht mehr ein Antisemit von «Semiten», aber dafür ist man ein «Antisemit» von irgend etwas anderem. Mit den glei­chen Mitteln, deren System man doch zu bekämpfen vorgibt, will man das System selber bekämpfen. Daraus aber ergibt sich ein innerer Widerspruch, nicht unähnlich dem, den etwa ein «Verein der - Gegner der Vereinsmeierei» enthielte. Und sag­ten wir vorhin, nur das Vorzeichen sei ein anderes, dann könn­ten wir mit ebenso viel Recht jetzt sagen: die Vorsilbe ist die gleiche geblieben - nämlich das «Anti»!"
Viktor E. Frankl 

Montag, 16. Oktober 2017

Bücher

"Zu verlangen, dass einer alles, was er je gelesen, behalten haben sollte, ist wie verlangen, dass er alles, was er je geges­sen hat, noch in sich trage. Er hat von die­sem leiblich, von jenem geistig gelebt, und ist dadurch geworden, wie er ist." 
Arthur Schopenhauer 
"Derjenige ist weise, der erkannt hat, daß intellektuelle Freuden die erfüllendsten und dauerhaftesten sind. Es gibt wenige Sportarten, die man zu seinem eigenen Vergnügen ausüben kann, wenn man die Blüte des Lebens hinter sich gelassen hat. Bis auf Patience, Schachprobleme und Kreuzworträtsel gibt es keine Spiele, die man ganz allein spielen kann. Das Lesen ist frei von solchen Nachteilen. Es gibt keine Tätigkeit (ausgenommen vielleicht die Handarbeit, doch die vermag den unruhigen Geist nicht zu fesseln), die man leichter aufgreifen kann, jederzeit und beliebig lange, und die man leichter wieder beiseite legen kann, wenn andere Dinge rufen. In dieser erfreulichen Zeit öffentlicher Bibliotheken und billiger Ausgaben ist kein anderes Vergnügen so günstig zu haben."
W. S. Maugham


                                                       Bildergebnis für Katzen und Literatur

Eine Variante, Loriot nachempfunden, der aber auf Möpse abzielte:
„Ein Leben ohne Katzen und Literatur ist möglich, aber sinnlos!“

Samstag, 14. Oktober 2017

Zeitvertreib

"Das sind Leute, die wirklich ihre Zeit vertrei­ben; sie übersteigen die Gegenwart und was sie besitzen, um der Hoffnung und um Schatten und vager Bilder wil­len, die ihre Phantasie ihnen vorsetzt und die desto schnel­ler und weiter fliehen, je mehr man ihnen nachjagt. Der Nutzen und Zweck ihres Jagens ist das Jagen, so wie Alex­ander sagt, das Ziel seines Mühens sei die Mühe."

Montaigne 

Freitag, 13. Oktober 2017

Meisterstück

"Habt ihr euer Leben recht bedacht und eingerichtet? Dann habt ihr das allergrößte Werk verrichtet.Unsere Sitten zu festigen ist unsere Pflicht, nicht Bücher zu dichten; und nicht Schlachten und Provinzen zu gewinnen, sondern die Ordnung und die Ruhe unserer Lebensführung. Unser großes und herrliches Meisterstück ist es, richtig zu leben. Alle anderen Dinge, regieren, Schätze sammeln, bauen, sind nur Zugaben und höchstens Verzierungen."
"Keine Wissenschaft ist so schwer wie die, sein Leben gut und natürlich zu leben; und keine unserer Krankheiten ist so verheerend wie die Verachtung unseres eigenen Wesens." 
Montaigne 

Sonntag, 1. Oktober 2017

Wissenschaft

"Man hat mehr damit zu tun, die Auslegungen auszulegen als die Sache selbst; und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen Gegenstand: wir tun nichts, als uns gegenseitig mit Anmerkungen zu versehen. Alles wimmelt von Kommentaren; an Autoren ist großer Mangel. Besteht nicht die vornehmste und ruhmreichste Wissenschaft unseres Jahrhunderts darin, die Wissenschaftler zu verstehen? Ist das nicht der gewöhnliche und letzte Zweck all unseres Studierens? Wir pfropfen eine Meinung auf die andere. Die erste dient der zweiten als Wildling, die zweite der dritten. So klettern wir von Sprosse zu Sprosse. Daher kommt es, daß, wer am höchsten gestiegen ist, oft mehr Ehre als Verdienst hat; denn er ist auf der Schulter des Vorletzten nur um ein Getreidekorn höher gestiegen."
(Montaigne)

Und wie ich an der Uni feststellte, verbraucht so mancher hoffnungsvolle Assistent seine ganze Kraft beim Hinaufklettern zum Professorentitel, sodass er, endlich oben, keine Energie mehr hat - nicht einmal für das Getreidekorn.

Donnerstag, 28. September 2017

Philosophen

"Gelegentlich haben sogar Philosophen Kinder" heißt es bei Schopenhauer.   Interessant wäre es, zu hören, wie sie diesen ihren Beruf erklären.

Samstag, 23. September 2017

Existenzanalyse

Viktor E. Frankl:

Die Existenzanalyse stellt, angesichts der tatsächlichen Vergänglichkeit alles Seins, folgende Behauptung auf: Vergänglich sind eigentlich nur die Möglichkeiten, die Chancen zur Wertverwirklichung, die Gelegenheiten, die wir zum Schaffen oder zum Erleben - oder zum Leiden (nämlich zum rechten Leiden, zum aufrechten Leiden von wirklich Unabänderlichem, von echt Schicksalhaftem) haben: sobald wir diese Möglichkeiten jedoch verwirklicht haben, sind sie nicht mehr «vergänglich», vielmehr sind sie «vergangen››, sie sind vergangen – und das will heißen: eben in ihrem Vergangensein «sind›› sie. Denn gerade in ihrem vergangensein sind sie ja aufbewahrt, und nichts kann ihnen mehr etwas anhaben, nichts kann mehr das, was einmal geschehen, was einmal vergangen ist, aus der Welt schaffen: einmal vergangen, ist es vergangen ein für allemal und «für alle Ewigkeit» (>>>Fußnote am Ende des Textes),
 Ich habe die Frage, wie sich ein «Optimist der Vergangenheit» zum Pessimisten verhält, einmal an folgendem Gleichnis klar­zumachen versucht: Der Pessimist gleicht einem Manne, der vor einem Wandkalender steht und wehmütig zusieht, wie dieser Kalender - von dem er täglich ein Blatt abreißt - immer schmächtiger und schmächtiger wird. Der Optimist hingegen gleicht einem, der das Kalenderblatt, das er jeweils entfernt, fein säuberlich auf die bisher abgenommenen Blätter legt, sich auf der Rückseite Notizen macht darüber, was er an diesem Tage getan oder erlebt bat, und nicht ohne Stolz auf die Gesamt­heit dessen zurückblickt, was da alles in diesen· Blättern fest­gelegt - was alles in diesem Leben «festgelebt» ist.
Bedenken Sie doch nur einmal, was solch ein Gesichtspunkt gegenüber dem Vergangensein - wobei wir ja von nun an immer den Akzent auf «Sein» setzen! - praktisch, im Leben des Men­schen, bedeuten kann. Stellen Sie sich doch bloß einmal vor, eine Kriegerwitwe wäre verzweifelt und hielte ihr künftiges Le­ben für sinnlos, eben weil sie ihren Mann verloren und vielleicht nur ein einziges Jahr des Eheglücks erlebt hat. Was muß es ihr doch bedeuten, zu hören und zu wissen, daß sie immerhin die­ses Jahr reinen Glücks «hinter sich gebracht» hat, daß sie es hineingerettet hat ins Vergangensein, wo es geborgen ist «für alle Zeit», und daß ihr nichts und niemand mehr die Tatsache, es eben nun einmal erlebt zu haben, nehmen kann.
Nun könnte einer fragen: Wer wird nach dem Tode dieser Frau die Erinnerung an ihren Mann und an ihr Glück «leben­dig» erhalten? Dazu wäre nun folgendes zu sagen: Ob sie oder überhaupt jemand erinnernd daran zurückdenkt oder nicht, das ist ebenso unwesentlich, wie es unwesentlich ist, ob wir an etwas, was neben uns noch besteht, denken oder auf es hinblicken, oder nicht: es besteht unabhängig von unserem Bewußtsein und von dessen Zuwendung zu ihm, und so besteht nicht nur alles unabhängig von unserer subjektiven Hinwendung, sondern eben­so unabhängig besteht es auch fort. Freilich «nehmen wir nichts ins Grab mit»; aber ist die Totalität des Le­bens, das wir gelebt haben und im Sterben eben fertiggelebt haben, ist diese Totalität nicht etwas, was außerhalb aller Grä­ber bleibt, und außerhalb ihrer eben auch bleibt? Und nicht nur trotz der Vergänglichkeit bleibt, sondern eben gerade in seinem Vergangensein aufbewahrt bleibt?
   Nun, vergänglich ist alles. Gebe sich niemand der Illusion hin, daß etwa ein leibliches Wesen, das leibhafte Kind, das wir in die Welt gesetzt haben, weniger vergänglich sei als vielleicht ein großer Gedanke oder die große Liebe - der jenes Kind ent­sprungen sein mag. Vergänglich ist all dies gleichermaßen. «Das Leben des Menschen währet siebzig· Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig, und wenn es köstlich war, . dann ist es Mühe und Arbeit gewesen.» Nun: der «große Gedanke» dauert, in der Zeit, vielleicht sieben Sekunden; und wenn er gut war, dann hat er die Wahrheit enthalten. Aber vergänglich ist er, der große Gedanke, genau so und nicht mehr als das kleine Kind oder die große Liebe; vergänglich ist alles.
Aber auch ewig ist alles. Und nicht nur das, sondern es ver­ewigt sich auch ganz von selbst. Darum brauchen wir uns gar nicht darum zu kümmern, daß «wir» es verewigen; sobald wir es nur einmal «gezeitigt» haben, sobald es von unserem Leben «gezeitigt» wurde, - verewigen tut es sich schon von selbst. Wir haben also nicht darum Sorge zu tragen, daß etwas verewigt werde; aber umso mehr tragen wir Verantwortung - Verant­wortung dafür, was alles da verewigt wird, indem es eben von uns gezeitigt wird.
Ins Protokoll der Welt «aufgenommen» wird alles, unser gan­zes Leben, all unser Schaffen, Lieben und Leiden; aufgenom­men wird es in dieses Protokoll und «aufgehoben», aufbewahrt bleibt es in ihm. Und das Protokoll der Welt ist unverlierbar; das macht den Trost und unsere Hoffnung aus. Aber es ist nicht nur unverlier­bar, sondern auch unkorrigierbar, und das ist eine Warnung und eine Mahnung an uns. Denn wenn wir sagten, daß sich nichts Vergangenes aus der Welt schaffen lasse, bedeutet das nicht eine Mahnung, es eben in die Welt zu schaffen? Und jetzt zeigt sich, daß wir nicht nur dem existenzphilosophischen Pes­simismus (der Gegenwart) einen Optimismus der Vergangenheit entgegensetzen konnten, sondern, daß wir auch, gleichzeitig da­mit, dem quietistischen Fatalismus (der Zeitlosigkeit) einen Ak­tivismus der Zukunft gegenüberstellen könnten. Denn gerade angesichts der «ewigen» Aufbewahrtheit des Seins im Vergan­gensein wird nun alles darauf ankommen, was wir, in der Gegen­wart, imAugenblick, in dieses Vergangen-Sein «hineinschaffen».
Aber was ist eigentlich dieses «Schaffen ins Sein», in dieVer­gangenheit? Es ist letztlich ein Schöpfen aus dem Nichts - aus dem Nichts der Zukunft. Und jetzt verstehen wir auch, warum alles Sein so vergäng­lich ist, warum alle Dinge so flüchtig sind: Alles ist «flüchtig» - weil es auf der Flucht ist. Auf der Flucht vor dem Nichts der Zukunft in das Sein der Vergangenheit. Wie in einem horror vacui, einem Schrecken vor dem Nichts fürchtet alles das Nichts der Zukunft, flüchtet vor diesem Nichts, und stürzt in die Ver­gangenheit und in ihr Sein. Aber vor dem «Engpaß» der Gegen­wart - da staut es sich und drängt es sich, und da «harrt alles der Erlösung» ... Der Erlösung, die ihm zuteil wird, indem es - als Ereignis - im Vergehen eingeht ins Vergangensein oder - als unser Erlebnis und unsere Entscheidung - von uns eingelassen wird in die Ewigkeit.
Der Engpaß der Gegenwart, diese enge Stelle, die vom Nichts der Zukunft hinüberführt ins (ewige) Sein der Vergangenheit, ist nun, als Grenzfläche zwischen dem Nichts und dem Sein, zu­gleich die Grenzfläche - der Ewigkeit. Daraus ergibt sich aber nicht weniger als daß die Ewigkeit, als begrenzte, eigentlich eine endliche Ewigkeit ist. Sie reicht jeweils nur bis zur Gegenwart heran. Bis zu jener Gegenwart, in der wir entscheiden, was da Einlaß findet in die Ewigkeit. So ist diese Grenzfläche der Ewig­keit, diese Grenzfläche zwischen dem Nichts der Zukunft und dem Sein der Vergangenheit, in einem damit jene Stätte, auf der in jedem Augenblick die Entscheidung fällt, was als von uns Gezeitigtes sich von selber verewigt.
Und nun sehen wir ein weiteres: Wenn man im alltäglichen Sinne von Zeitgewinn spricht, dann denkt man immer an einen Gewinn von Zeit durch Hinausschieben in die Zukunft. Wir aber wissen jetzt: wir «gewinnen Zeit» - wir gewinnen «an» Zeit, oder wir gewinnen die Zeit «für uns», indem wir etwas, statt es in die Zukunft hinauszuschieben, gerade umgekehrt in die Vergangenheit hineinretten.
Wie ist es nun aber, wenn die Sanduhr, die uns so lange als Gleichnis gedient hat, ausgeronnen ist? Wie ist es also, wenn - die Zeit verronnen ist? Wenn das Dasein demnach «geronnen ist», wenn es zur Endgültigkeit gerinnt? Dies ist der Fall im Tode.
Im Tode ist alles immobil geworden, nichts ist disponibel; dem Menschen steht nichts mehr zur Verfügung - kein Leib und keine Seele mehr ist ihm da verfügbar: es kommt zum totalen Verlust des psychophysischen Ich. Was bleibt, ist nur noch das Selbst, das geistige Selbst. Der Mensch hat also nach dem Tode kein Ich mehr - er «hat» überhaupt nichts mehr, er «ist» nur mehr: eben sein Selbst.
Und wenn man behauptet, im Sterben sehe der Mensch, etwa der im Gebirge abstürzende Kletterer, sein ganzes Leben wie in einem Filmraffer in unheimlicher Schnelligkeit nochmals vor sich ablaufen, dann könnten wir jetzt sagen: im Tode ist der Mensch der Film selbst geworden. Er ist nunmehr sein Leben, sein gelebtes Leben; er ist seine eigene Geschichte, sowohl die ihm geschehene als die von ihm geschaffene. Und so ist er auch sein eigener Himmel und seine eigene Hölle, je nachdem.
So· gelangen wir aber auch zu der Paradoxie, daß die eigene Vergangenheit des Menschen die eigentliche Zukunft ist, die er zu gewärtigen hat (Der lebende Mensch hat Vergangenheit und hat Zukunft; der Sterbende hat keine Zukunft mehr, sondern nur mehr Vergangenheit, der Tote aber ist seine Vergangenheit.)
 Im Tode hat der Mensch zwar kein Leben, aber dafür ist er es. Und daß es das gewesene Leben ist, das er nunmehr «ist», das kann uns nun nicht mehr stören; wissen wir doch, daß das Gewesensein die sicherste Form von Sein über­haupt ist.
Dieses Gewesensein aber ist recht eigentlich ein Gewesensein im Sinne des Perfectum - und keineswegs mehr etwa des Im­perfectum. Denn das Leben ist ja jetzt vollendet - erst als voll­endetes «ist» es ja. Während also im Laufe der Zeit, im Verlauf des Lebens, ähnlich wie beim Hindurchlaufen der Sandkörner durch die enge Stelle der Sanduhr, immer aufs neue immer nur einzelne faits accomplis in die Vergangenheit eingehen, istjetzt, nach dem Tode, das ganze Leben, die Lebenstotalität, eingegan­gen ins Vergangensein - als par-fait accompli.
Aber dies führt uns zugleich zu einer zweiten Paradoxie, und einer doppelten noch dazu: Denn wenn wir davon sprachen, daß wir etwas in die Welt schaffen, indem wir es in das Sein der Ver­gangenheit hineinschaffen, dann ist es erstens der Mensch selbst, der sich in die Welt schafft, er setzt «sich selbst» in die Welt; und zweitens wird er nicht mit seiner Geburt in die Welt gesetzt, sondern er setzt sich selber in die Welt erst im Tode.
Wenn wir aber bedenken; daß es ja das Selbst ist, das er im Tode (selber) in die Welt setzt, dann werden Wir über diese Paradoxie nicht mehr erstaunt sein. Denn das Selbst «ist» ja eigentlich nicht, es «wird» doch immer erst. Es kann somit gar nicht anders «sein» denn als gewordenes, eben als fertig gewor­denes. Und fertig geworden ist es erst - im Augenblick des Todes.
Freilich, vom alltäglichen Menschen wird der Tod immer wieder mißverstanden. - Wenn der Wecker ratscht und uns aus dem Traum aufschreckt, dann erleben wir, noch im Traum be­fangen, den «Weckreiz» wie einen furchtbaren Einbruch in die Traumwelt, und wir wissen nicht, daß uns der Wecker zu un­serem eigentlichen Sein, zur Tagwelt aufweckt. Ergeht es nun dem Sterbenden nicht ähnlich? Erschrecken wir Sterbliche nicht ebenfalls vor dem Tode? Mißverstehen nicht auch wir, daß und inwiefern er uns zu einer eigentlicheren, realeren Realität un­serer selbst erweckt?
Und die zärtliche Hand, die uns aus dem Schlaf weckt - mag ihre Bewegung noch so zärtlich sein: wieder erleben wir nicht ihre ganze Zärtlichkeit, nein, wir empfinden sie wie einen schrecklichen Einbruch in unsere Traumwirklichkeit, sobald sie versucht, unseren Schlaf hinwegzuscheuchen; auch den Tod, der unser Leben fortnimmt von uns, erfahren wir im allgemeinen wie etwas Furchtbares, - das an uns geschieht, und wir ahnen kaum, wie gut er es mit uns meint.
Wir sagten vorhin, der Tod würde vom alltäglichen Menschen mißverstanden; das ist zu wenig gesagt: die Zeit wird miß­verstanden. Denn wie steht der durchschnittliche Mensch zur «Zeit»? Er sieht nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit - aber er sieht nicht die vollen Scheunen der Vergangenheit. Er will, daß die Zeit stillstehe, auf daß nicht alles vergänglich sei; aber er gleicht darin einem Manne, der da wollte, daß eine Mäh­- und Dreschmaschine stille steht und am Platz arbeitet, und nicht im Fahren; denn während die Maschine übers Feld rollt, sieht er - mit Schaudern - immer nur das sich vergrößernde Stoppelfeld, aber nicht die gleichzeitig sich mehrende Menge des Korns im Innern der Maschine. So ist der Mensch geneigt; an den vergangenen Dingen nur zu sehen, daß sie nicht mehr da sind; aber er sieht nicht, in welche Speicher sie gekommen. Er sagt dann: sie sind vergangen, weil sie vergänglich sind - aber er sollte sagen: vergangen sind sie; denn: «einmal» gezeitigt, sind sie «für immer» verewigt.
Fußnote: Was zu Ende ist, ist endgültig zu Ende; aber es ist eben auch end­gültig: in seinem Zu-Ende-sein bleibt es gültig, und insofern bleibt es auch - bestehen. Die Einstellungswerte aber sind die ein­zigen, deren Verwirklichung buchstäblich noch bis zum letzten Augenblick möglich ist; denn buchstäblich bis zum letzten Augen­blick ist es dem Menschen möglich, zum Schicksal sich ein-, sich um­zustellen - zu allem Schicksal, und so denn auch zum schicksalhaft gewordenen (weil fertig gewordenen) Lebensganzen. So und nur so ist es auch zu verstehen, daß Menschen zu der Auffassung gekom­men. sind, das ganze Leben lasse sich auch noch rückwirkend durch eine einzige große Reue in einem einzigen kleinen Moment, eben «im letzten Moment», sühnen, weihen, sinnvoll machen.

http://kumpfus.blogspot.co.at/2008/01/grbel.html


Montag, 18. September 2017

Entlarvung

"....Sigmund Freud hat einmal in einem Brief an die Prinzes­sin Bonaparte gemeint, «im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank; man hat nur eingestanden, daß man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat».Nun, ich per­sönlich glaube eher, daß man dann nur eines bewiesen hat, näm­lich, daß man wirklich Mensch ist. Denn kein Tier hat jemals die Frage nach dem Sinn seines Daseins gestellt. Nicht einmal eine der Graugänse von Konrad Lorenz. Aber den Menschen, den quält diese Frage. Dennoch ist das nicht das Symptom einer Neurose, vielmehr sehe ich es für eine menschliche Leistung an, und zu ihr gehört nicht nur, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, sondern auch, einen solchen Sinn in Frage zu stellen.

Aber selbst, wenn es in einem Einzelfall wirklich so sein sollte, daß der Schöpfer eines literarischen Werkes richtiggehend krank ist - vielleicht sogar an einer Psychose leidet und nicht etwa nur an einer Neurose-, spricht dies auch nur im geringsten gegen Wert und Wahrheit seines Werkes? Ich glaube nicht. Zweimal zwei ist vier, auch wenn's ein Schizophrener behauptet. Und ge­nauso glaube ich, daß es dem Wert von Hölderlins Dichtung und der Wahrheit von Nietzsches Philosophie keinen Abbruch tut, wenn ersterer an einer Schizophrenie erkrankt war und letz­terer an einer Gehirnparalyse. Vielmehr bin ich überzeugt davon, daß die Namen jener Psychiater, die ganze Bücher geschrieben haben über die Psychosen dieser „Fälle", zu einer Zeit längst vergessen sein werden, zu der die Werke von Hölderlin und Nietzsche noch gelesen werden.

In letzter Zeit ist es Mode geworden, Literatur nicht nur psychiatrisch zu beurteilen, sondern im besonderen auf unbe­wußte Psychodynamik hin, die ihr zugrunde liegen mag. So kommt es denn, daß die sogenannte Tiefenpsychologie ihre Hauptaufgabe im Entlarven verborgener beziehungsweise ins Unbewußte verdrängter Motivationen erblickt. Dies gilt selbst­verständlich auch von der literarischen Produktion. Was dabei herauskommt, wenn das Werk eines Dichters auf die Prokru­stes-Couch gelegt wird, mögen Sie an einer Buchbesprechung er­messen, die eine amerikanische Zeitschrift einem zweibändigen Werk über Goethe widmete, dessen Verfasser einer der promi­nentesten Psychoanalytiker ist: ,,Auf den 1538 Seiten porträtiert uns der Autor ein Genie mit den Kennzeichen rnanisch-depressiver, paranoider und epileptoider Störung, Homosexualität, In­zest, Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus, Impotenz, Narzißmus, Zwangsneurose, Hysterie, Größenwahn usw. Der Autor scheint sich fast ausschließlich auf die dem Kunstwerk zu­grunde liegende Triebdynamik zu beschränken. Er will uns glau­ben machen, Goethes Werk sei nichts als das Resultat prägenita­ler Fixierungen. Sein Kampf gelte nicht etwa einem Ideal, der Schönheit, irgendwelchen Werten, sondern in Wirklichkeit der Überwindung vorzeitigen Samenergusses." -  Hab' ich Ihnen zu­viel versprochen? Wie weise war doch Freud selbst, wenn er ein­mal meinte, eine Zigarre müsse nicht immer als Penis-Symbol gedeutet werden, sondern könne einmal auch wirklich eine Zi­garre bedeuten.

Ich möchte sagen, das Entlarven muß irgendwo haltmachen, und zwar genau dort, wo der Psychologe mit einem Phänomen konfrontiert ist, das sich einfach deshalb nicht weiter entlarven läßt, weil es echt ist. Wenn ein Psychologe aber auch dann noch nicht aufhört zu entlarven, dann entlarvt er noch immer etwas, aber was er dann entlarvt, ist sein eigenes unbewußtes Motiv, und das ist, das Menschliche im Menschen zu entwerten.

Man fragt sich nur, was dieses Demaskieren so attraktiv macht? Nun, es scheint für den Spießer ein Genuß zu sein, zu hören, daß Goethe auch nur ein Neurotiker war, ein Neurotiker wie du und ich, wenn ich so sagen darf. (Und wer sich von Neurose 100prozentig frei weiß, werfe den ersten Stein.) Irgendwie tut es anscheinend auch wohl, wenn einem gesagt wird, der Mensch sei nichts als ein nackter Affe, nichts als der Kriegsschauplatz von Es, Ich und Überich, nichts als der Spielball von Trieben, das Produkt von Lernprozessen, das Opfer sozio-ökonomischer Bedingungen und Umstände oder sogenannter Komplexe.

Mir will scheinen, als ob das Demaskieren, das ihnen der Re­duktionismus mit seiner stereotypen Phrase „nichts als" vorex­erziert, vielen Leuten eine ausgesprochen masochistische Freude bereitet. Dazu kommt noch, daß es, wie der Londoner Psychiater Brian Goodwin sagt, ,,den Leuten wohltut, wenn man ihnen ein­redet, sie seien nichts als dies oder jenes, genauso, wie die Leute glauben, ein Medikament, das wirksam sein soll, muß scheußlich schmecken".

Die Sprache normaler Menschen ist gegen­standsbezogen, sie weist über sich selbst hinaus. Mit einem Wort, Sprache ist ausgezeichnet durch ihre Selbst-Transzendenz. Und dasselbe gilt von menschlichem Dasein ganz allgemein. Mensch-Sein ist immer auf etwas gerichtet, das nicht wieder es selbst ist - auf etwas oder auf jemanden, auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf anderes menschliches Sein, dem er da begegnet."

V. E. Frankl: "Was sagt der Psychiater zur modernen Literatur?". Vortrag, gehalten auf Einladung des Internationalen PEN-Clubs am 18. November 1975 in englischer Sprache unter dem Titel „A Psychiatrist Looks at Literature"

Siehe auch:  https://kumpfuz.blogspot.co.at/search?q=Psychologismus

Sonntag, 10. September 2017

Gar nichts weißt du

Man sagt, es es sollte heissen: "....dass ich nicht weiß".
Der Wortlaut: 
»Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Und wollte ich behaupten, daß ich um irgend etwas weiser wäre, so wäre es um dieses, daß, da ich nichts weiß, es auch nicht glaube zu wissen.«

Freitag, 8. September 2017

Meine Katze hat Zeit

"Meine Katze hat Zeit. Die Zeit ist ihr angeboren und einverleibt wie ihr Fell, ihre Ohren, ihre Krallen, ihre zeitlos schönen Augen. Ihre Zeit ist immer nur Gegenwart, und innerhalb dieser Gegenwart der Augenblick. Nur auf diesen Augenblick konzentriert sie ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Gelüste. Sie denkt weder vor noch nach; sie lebt jetzt, nur jetzt. Jetzt liegt sie in ihrem Sessel und schläft; zumindest in diesem, in ihrem Augenblick."  
"Ich glaube, meine Katze kennt keine »Warums«. Was gestern gewesen ist, interessiert sie nicht mehr; was morgen kommt, ist ihr gleichgültig. Sie weiß nicht, was Zeit ist. Ich muß mir die Zeit nehmen, einteilen, stehlen; manchmal vertreibe ich mir die Zeit, manchmal vergeude ich sie, manchmal mache ich mir die Zeit bewußt. Die Zeit und ich, wir leben getrennt voneinander, und obwohl ich oft sage, ich hätte keine Zeit, weiß ich dennoch sehr genau, daß nicht ich Zeit habe, daß die Zeit vielmehr mich hat.
Werner Koch
Zur Illustration der real existierenden Herrschaftsverhältnisse:

Fontane und die Endogenität

Fontane und das Rätsel der Endogenität.
von Horst Gravenkamp.

"...heute können wir die Diagnose endogene Depression bereits aus dem Erscheinungsbild in der Krankheitsphase stellen. Wir können diese Diagnose noch zusätzlich stützen, wenn wir Näheres über die Primärpersönlichkeit des Patienten in gesunden Tagen und über weitere Depressionen in seiner eigenen und in seiner Familienanamnese erfahren. Zu Fontanes Zeit war die endogene Depression den Ärzten noch ein Rätsel (mit Scheinlösungen). Fontane ist der Lösung dieses Rätsels näher gekommen als seine Ärzte. Das vollzieht sich in einer langsamen Entwicklung, die hier zunächst noch einmal in Kürze nachgezeichnet werden soll.
Seine schwere Verstimmung von 1858 hat Fontane wiederholt und mit Nachdruck auf seine Lebensumstände in London zurückgeführt. Als ihm aber entgegengehalten wird, daß diese Begründung nicht stichhaltig sei, muß er zugeben (››das Schrecklichste«!), daß diese »nüchterne Auffassung«, daß also die Ursache seiner seelischen Störung in seinem Inneren liege, vielleicht richtig ist. Der Feststellung »Euer Wille hat sich die Nachtmütze aufgesetzt« widerspricht er nicht, das »Hilf dir selbst«  aber kann er nicht akzeptieren: Das sei »das bekannte fliege !“ an den, der keine Flügel hat«, eine schlagende Formulierung für die Willenslähmung, die auch in anderen Briefen dieser Zeit ihren Ausdruck findet. Er bleibt aber - zumindest nach außen hin - dabei, die Londoner  Misere als Ursache seines Gemütszustandes zu bezeichnen, der  jedoch auch für ihn etwas anderes ist als eine ››normale« Reaktion: »Es ist ein wirklicher, guter, ehrlicher Krankheitszustand«. Bezeichnenderweise fällt das Wort Krankheit wieder bei seiner offenbar endogenen Depression von 1877: ››Nun aber kam Krankheit«,  »krank zum Auslöschen«. Er ist sich auch nicht mehr so sicher über ausschließlich äußere Ursachen seines Krankheitszustandes: »Ein halbes Dutzend Gründe, äußere und innere«. Er nimmt auch wahr, was seine Krankheit mit der seiner Tochter  Mete gemeinsam hat: Die Machtlosigkeit gegenüber einer aus inneren Ursachen entstehenden Störung, den episodischen Charakter und die gute Prognose der Krankheitsphasen.
Wir nehmen die Depression von 1892 noch einmal in den Blick und erinnern uns dabei des Briefes an Friedlaender vom 4. April 1892: »Ich bin in ziemlich freudloser Stimmung; 7/ 8 ist Krankheit, aber das letzte Achtel, und vielleicht auch noch mehr, ist doch in Wirklichkeiten begründet«. Die »Wirklichkeiten der Außenwelt«, die er früher als Ursache seiner Depressionen eingesehen hatte, spielen jetzt für ihn nur noch eine untergeordnete Rolle. Das gilt auch für die weiteren Briefe dieser Zeit, in denen von ››Wirklichkeiten« als ursächlichem Faktor nie mehr die Rede ist, aber immer wieder von Krankheit. Eine weitere Auffälligkeit: Die ››Neurasthenie« als Diagnose Dr. Willes, der sich Prof. Hirt offenbar angeschlossen hat und von der Fontane gehört haben muß, hat er in den Briefen nie erwähnt. Das ist vermutlich so zu deuten, daß er diese Diagnose nicht akzeptiert hat, daß er also »ungebührliche Belastung des Nervensystems« (u. a. »übermäßige geistige Arbeiten«, »öfter wechselnde Gemüthsbewegungen«) als Krankheitsursache nicht gelten ließ. Er hat seine Krankheit als Folge der am Anfang stehenden Influenza angesehen, auch dann noch, als im Mai und sogar noch im ]uni 1892 die Influenza längst abgeklungen sein mußte. 
An der Vorstellung von der Influenza als Ursache seiner Krankheit von 1892 hält er auch in späteren Jahren fest, wie wir seinem Brief  an Moritz Lazarus vom 5. Januar 1897 entnommen haben. Ein weiterer Hinweis darauf, daß Fontane sich seine Krankheit nur als ganz überwiegend körperlich verursacht vorstellen konnte. Was dem Patienten Fontane als innere Ursache seiner Krankheit zunehmend deutlich wird, bleibt seiner Umgebung verborgen. Das muß zu Spannungen führen.
Wir müssen uns dabei vor Augen führen, wie sehr die Angehörigen eines solchen Kranken mitzuleiden haben: »ich fühle, ich bin euch zur Qual«, sagt Fontane (Emilie an den Sohn Friedrich am 7. ]uli 1892). Ein »schwerer Traum« ist für Frau Emilie die Krankheit ihres Mannes (Emilie Fontane an Friedlaender am 15. September). Als »die ganz aufgezelırte arme Frau«  beschreibt Fontane Emilie am 13. August (an W. Hertz) ….
 »Der Zustand ist elend und die Kraft von Frau und 'Tochter hin, auch ihre Geduld. Ich bin Quängelpeter  u. Egoist, Du lieber Gott, die Krankheiten sind verschieden in ihrer Wirkung aufs Gemüth. « (An Karl Zöllner am 8. August 1892). Über solche Spannungen, die auch in der Zeit der allmählichen Genesung fortbestehen, erfahren wir einiges aus Briefen Fontanes an Friedlaender:
Am 29. September 1892: »Ich muß mich oft einen Hypochonder schelten lassen, aber es ist nicht so schlimm damit, und was wirklich hübsch ist, erfreut mich immer noch.« Am 14. Oktober 1892: »Gestern setzten mir Frau und Tochter auseinander, daß ich diese meine alten Tage auch als sehr
erträgliche, ja als sehr bevorzugte ansehen könne. [. . .] Ich gebe das zu, aber das Gefühl von Schwäche und Freudlosigkeit bleibt, das ist eben die Krankheit dran ich laborire. Des „Wollens“, 
das Sie mir aus dem väterlichen Erbschatz als Heilwort mit auf den Weg gegeben, befleißige ich mich, aber es bleibt Zwangsarbeit«.
Am 7. November bezieht sich Fontane auf einen nicht überlieferten Brief Friedlaenders vom 17. Oktober: »Es heíßt darin, es würde Personen wie Ihnen, und wohl auch mir, so vieles als ›Launen angerechnet. Gewiß ist es so und es kann auch sein, daß in dem was man uns vorwirft, "Laune" mit drunter läuft, wenn ich aber speziell auf meine diesjährigen Erlebnisse zurückblicke,
auf die, die seit Monaten und dann auf die, die seit Kurzem zurückliegen, so liegt, ich will nicht sagen die Laune, aber doch das Anfechtbare überhaupt, ganz wo anders, nämlich auf der Seite der Ankläger. Ich werde jetzt seit drei, vier Wochen mit derselben Liebe und Zärtlichkeit behandelt wie in alten Tagen, was mir natürlich sehr lieb ist, aber mitten in meinem Glück mich doch auch schmerzlich berührt. Was mich angeht, so besteht die ganze Differenz darin, daß ich im Sommer viele viele Male nicht eine Stunde geschlafen hatte und daß ich jetzt in der angenehmen Lage bin, wieder 8 Stunden oder in besonderen glücklichen Nächten auch noch eine mehr schlafen zu können. So habe ich denn auch wieder die Kraft heiter zu sein und mich der Heiterkeit andrer freuen zu können. Nichts hat sich geändert, mit Ausnahme des Kraftmaßes mit dem ich so zu sagen frühmorgens ins Feld rücke. Mein Charakter ist unverändert geblieben, ich bin, wenn Egoist, noch gerade so egoistisch wie früher, ich bin auch nicht heldenmäßiger geworden, ich kann nur wieder schlafen und konnte es im Sommer nicht. Meine Widerstandskraft war hin, das war mein ganzes Verbrechen, darum Räuber und Mörder«.
Es spiegelt sich hier ein Konflikt wider, der bei endogenen Depressionen häufig ist: Die Angehörigen betrachten das, was eigentlich Krankheit ist, als Charakterdefekt. Sie erheben daher Vorwürfe und appellieren an den Willen. Der Kranke wird durch solches Fehlverhalten, verbunden mit zeitweiligem Entzug von Liebe und Zärtlichkeit, »schmerzlich berührt«. 
Natürlich hat Fontane gewußt, daß ihn auch die Medizin seiner Zeit in seiner Krankheit im Stich lassen mußte. Im Brief an Friedlaender vom ıo.]anuar 1893 erinnert er sich der eigentlich angenehmen äußeren Bedingungen seines Sommeraufenthaltes 1892 und fährt dann fort: »Trotzdem war es wochenlang so schrecklich, daß mir die Stätte verleidet ist. Ich schiebe die Hauptschuld auf den ärztlichen Satz: ›Ich sei nur nervenkrank, alle solche Kranke ließen sich gehn und quälten in egoistischer Weise ihre Umgebung, weshalb solche Kranke scharf angcfaßt werden müßten; bei gutem Willen heilten sie sich (auf rnoralischeın Wege) selberEs ist möglich, daß solche Sätze auf viele derartige Kranke passen, auf mich paßten sie nicht. Ich mußte ganz anders behandelt werden und hatte den vollsten Anspruch darauf. Auf Mohrenwäsche lasse ich mich übrigens nicht ein, es mag also bei der alten Anschauung verbleiben; nur dazu gebe ich mich nicht her, diese
Anschauung auch meinerseits zu theilen«. Den »ärztlichen Satz« versieht er noch mit einer Fußnote: »Der vorcitirte Satz rührt nicht von [Dr.] Wille her, sondern ist die ganz allgemeine Auffassung, ich bestreite diese auch nur in Anwendung auf jeden Einzelfall«. Und wenn dann im Brief vom 12. Mai 1893 (wieder an Friedlaender) das Wort »grausam« fällt, dann erinnern wir uns der »elektrischen Behandlung«, der Mitteilung der Fehldiagnose ››Hirnanämie « an den Schwerkranken,  der drohenden Abschiebung in eine ››Nervenheilanstalt« und der "drastischenÄußerung des behandelnden Arztes Dr. Wille. »Auf meinen Spaziergängen im Thiergarten steigt dann auch der vorige Sommer als Gesammtbild wieder vor mir auf. [. . .] Was ich damals in vielen Gesprächen mit Ihnen nur vermuthungsweise ausgesprochen habe, das steht mir jetzt ganz fest: die ganze Behandlung war falsch, schablonenhaft, grausam. Es ist gewiß ganz richtig, daß es bei Nervenkranken einen hochgradigen Kranken-Egoismus giebt, ich habe diesen Kranken-Egoismus aber sicherlich nicht gehabt, sondern habe mich umgekehrt in dieser schweren Zeit besser benommen, als zu irgend einer andern Zeit. «"

Im Gegenteil

„Das Gegenteil von schlecht muss nicht gut sein - es kann noch schlechter sein.“
Paul Watzlawick

Montag, 4. September 2017

Zauber der Phantasie

"...es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eignen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt."
Marcel Proust

Mittwoch, 30. August 2017

Rollenspiel

"Die meisten unserer Unternehmungen sind Gaukelpossen.
 »Die ganze Welt spielt Komödie.« (Petronius) 
Wir sollen unsere Rolle gehörig spielen, aber nie vergessen, daß es nicht unsere Kleider sind."
Montaigne, Essais


Ähnliches Foto

Einstellungssache

"An mich wendet sich ein alter praktischer Arzt; vor einem Jahr ist ihm seine über alles geliebte Frau gestorben, und über diesen Verlust kann er sich nicht hinwegsetzen. Ich frage den schwerst deprimierten Patienten, ob er sich überlegt habe, was geschehen wäre, wenn er selbst früher als seine Frau gestorben wäre. ,,Nicht auszudenken“, antwortete er, ,,meine Frau wäre verzweifelt ge-
wesen.“ Nun brauchte ich ihn nur darauf aufmerksam zu machen: ,,Sehen Sie, dies ist Ihrer Frau erspart geblieben, und Sie haben es ihr erspart, freilich um den Preis, daß nunmehr Sie ihr nachtrauern müssen.“ Im gleichen Augenblick hatte sein Leiden einen Sinn bekommen: den Sinn eines Opfers. Am Schicksal konnte nicht das geringste geändert werden; aber die Einstellung hatte sich gewandelt! Das Schicksal hatte ihm abverlangt, sich von der Möglichkeit, durch Lieben Sinn zu erfüllen, zurückzuziehen; aber die Möglichkeit war ihm geblieben, sich auch diesem Schicksal zu stellen, sich richtig einzustellen."

V. E. Frankl

Samstag, 26. August 2017

Schlechteres Fernsehen

"Ich halte nicht viel von Anregungen zur qualitativen Verbesserung der Fernsehsendungen. Wie ich schon angedeutet habe, ist das Fernsehen für uns dort am nützlichsten, wo es uns mit »dummem Zeug« unterhält - und am schädlichsten ist es dort, wo es sich ernsthafte Diskursmodi - Nachrichten, Politik, Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft, Religion - einverleibt und sie zu Unterhaltungsstrategien bündelt. Wir alle stünden besser da, wenn das Fernsehen schlechter wäre, nicht besser."
Neil Postman

Donnerstag, 24. August 2017

Ordnung ist das halbe Leben

Die andere Hälfte ist Unordnung.

Leben ist Zeit

.-.

Relativ absolut

"So haben wir, wenn sich uns eine neue Lehre verstellt, große Ursache, mißtrauisch zu sein und zu bedenken, daß, bevor sie gemacht wurde, eine andere im Schwange war; und daß, so wie diese von jener umgeworfen ist, in Zukunft eine dritte entstehen könnte, die der zweiten gleicherweise den Stoß versetzt. Bevor die Grundsätze, die Aristoteles eingeführt hat, in Ansehen kamen, war die menschliche Vernunft mit anderen so zufrieden wie wir heute mit denen des Aristoteles."
..............
"Was ist das für eine Sittlichkeit‚ die ich heute in Geltung sehe und morgen nicht mehr, die zum Verbrechen wird, wenn man den Fluß überquert? Was ist das für eine Wahrheit, die an den Bergen aufhört und in der Welt dahinter als Lüge gilt?"
............
 "Schließlich, weder wir noch die Gegenstände haben eine beständige Wirklichkeit. Wir, unser Urteil, alle sterblichen Dinge fließen und rollen ohne Unterlaß fort. Also kann man nicht mit Sicherheit von einem auf das andere schließen und der Urteilende und das Beurteilte schaukeln und verändern sich andauernd. Wir haben keine Beziehung zum Sein, weil die ganze Natur des Menschen beständig in der Mitte zwischen Geburt und Tod steht, nichts als einen dunklen Schein und Schatten wirft und eine ungewisse schwache Meinung. Und wenn man etwa einmal seine Gedanken darauf richtet, ihr Wesen zu fassen, so ist es nicht mehr oder weniger, als wenn jemand das Wasser fassen wollte: je mehr er zusammendrückt und festhält, was seiner Natur nach durch alles hindurchfließt, um so mehr wird er verlieren, was er ergreifen und festhalten wollte. Weil demnach alle Dinge dem Übergang von einer Veränderung zur nächsten unterworfen sind, findet sich auch die Vernunft betrogen, wenn sie darin eine greifbare Substanz sucht; denn sie kann nichts Dauerndes und Bleibendes ergreifen, weil alles entweder entsteht und noch nicht ist oder schon zu sterben beginnt, bevor es noch geboren wurde.
( ... ) Die Blüte des Lebens stirbt und vergeht, wenn das Alter eintritt, und die Jugend endet in der Blüte des Mannesalters, die Kindheit in der Jugend und das Säuglingsalter in der Kindheit, und der gestrige Tag stirbt im heutigen, und der heutige wird im morgigen sterben; und es ist nichts, das bleibt, und nichts, was immer eines wäre. ( ... ) Ebenso geht es der Natur, die gemessen wird, und der Zeit, die sie mißt. Denn auch in ihr ist nichts, das bliebe oder Bestand hätte; sondern alle Dinge in ihr sind entweder geboren oder werden geboren oder sterben. Deshalb wäre es eine Sünde, von Gott, welcher allein ist, zu sagen: er war oder er wird sein. Denn diese Ausdrücke bezeichnen die Wandlungen, die Übergänge und die Vergänglichkeit dessen, was nicht dauern noch seine Wirklichkeit behalten kann. Daher muß man schließen, daß Gott allein ist, nicht nur nach irgendeinem Maß der Zeit, sondern in einer unveränderlichen und unbewegten Ewigkeit, die von keiner Zeit gemessen wird und keiner Wandlung unterworfen ist. Vor dem nichts ist, nach dem nichts sein wird, in welchem kein Ding neuer oder jünger als ein anderes ist; sondern er ist ein wirklich Seiendes, das durch ein einziges Jetzt das Immerdar ausfüllt; und es gibt nichts, was wirklich ist, als ihn allein, ohne daß man sagen könnte: Er war; oder: Er wird sein; ohne Anfang und ohne Ende." 

(die letzten Sätze sind eine Paraphrase von Plutarchs "De E apud delphos")
Montaigne, Essais.