Mittwoch, 7. August 2019

Signale aus der Nacht

Christen fragen oft, warum Gott nicht zu ihnen spreche, wie er es in früheren Zeiten getan haben soll. Wenn ich solche Fragen höre, denke ich immer an den Rabbi, der gefragt wurde, wie es käme, dass Gott sich früher den Menschen so oft gezeigt habe, heutzutage aber niemand ihn mehr zu sehen bekomme. Der Rabbi antwortete: «Heutzutage gibt es niemanden mehr, der sich tief genug bücken kann.»
Diese Antwort trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sind von unserem subjektiven Bewusstsein so gefangen und eingewickelt, dass wir die jahrhundertealte Tatsache vergessen haben, dass Gott hauptsächlich in Träumen und Visionen spricht. Der Buddhist tut die Welt der unbewussten Phantasien als nutzlose Illusion ab; der Christ stellt seine Kirche und seine Bibel zwischen sich und sein Unbewusstes, und der rational denkende Intellektuelle weiß noch nicht, dass sein Bewusstsein nicht seine ganze Psyche ist. Die Ignoranz besteht immer noch, trotz der Tatsache, dass seit über siebzig Jahren das Unbewusste ein grundlegendes wissenschaftliches Konzept darstellt, das für jede ernsthafte psychologische Forschung unerlässlich ist.
Wir dürfen uns nicht länger zu gottähnlichen Richtern über Verdienste und Fehler natürlicher Erscheinungen aufwerfen. Wir gründen unsere Botanik nicht auf die altmodische Einteilung in nützliche und nutzlose Pflanzen oder unsere Zoologie auf die naive Unterscheidung zwischen harmlosen und gefährlichen Tieren. Aber immer noch behaupten wir, nur Bewusstsein sei sinnvoll, das Unbewusste dagegen Unsinn. In der Naturwissenschaft wäre eine derartige Behauptung lächerlich. Haben zum Beispiel Mikroben einen Sinn, oder sind sie Unsinn?
Was auch immer das Unbewusste sonst noch sein mag, es ist eine Naturerscheinung, die Symbole produziert, welche sich als bedeutsam erweisen. Wir können von einem Menschen, der noch nie durch ein Mikroskop geschaut hat, nicht erwarten, dass er eine Autorität auf dem Gebiet der Mikroben ist; ebenso kann man niemanden, der natürliche Symbole noch nicht ernsthaft untersucht hat, als kompetenten Richter in dieser Sache ansehen.
Obgleich die katholische Kirche das Vorkommen von somnia a Deo missa  zugibt, machen die meisten ihrer Denker  keinen ernsthaften Versuch, Träume zu verstehen. Ich bezweifle, dass es eine protestantische Abhandlung oder Lehre gibt, die sich so weit herablässt, die Möglichkeit zuzugeben, man könnte die vox Dei im Traum wahrnehmen. Wenn aber ein Theologe wirklich an Gott glaubt, wie kann kann er dann annehmen, Gott sei nicht imstande, durch Träume zu sprechen?
In einer Periode der menschlichen Geschichte, da alle verfügbare Energie auf die Erforschung der Natur verwandt wird, untersucht man zwar die bewussten Funktionen des Menschen, aber der wirklich komplizierte Teil des Geistes, der die Symbole hervorbringt, ist immer noch weitgehend unerforscht. Es scheint fast unglaublich, dass, obwohl wir jede Nacht von dort Signale empfangen, eine Entzifferung dieser Mitteilungen den meisten Menschen zu lästig erscheint. Das bedeutendste Instrument des Menschen, seine Psyche, wird kaum beachtet, oft sogar mit Misstrauen und Verachtung angesehen. «Das ist bloß psychologisch» heißt sehr häufig: Es bedeutet gar nichts.
Woher kommt dieses immense Vorurteil? Wir  sind offenbar so sehr mit der Frage beschäftigt, was wir selber denken, dass wir ganz vergessen zu fragen, was die unbewusste Psyche eigentlich über uns denkt.
C.G. Jung

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