Freitag, 30. August 2019

Achtundsechziger

"Wie auch immer, im Lauf der Jahre hatte er zugesehen, wie seine Genossen, diese legendären Genossen von 68, anfingen, »vernünftig« zu werden. Sie waren immer vernünftiger geworden, und so war ihre abstrakte Wut dahingeschwunden und hatte sich in konkrete Angepasstheit verwandelt…..
Da es ihnen nicht gelungen war, die Gesellschaft zu verändern, hatten sie sich selbst geändert. Oder sie hatten sich gar nicht zu ändern brauchen, weil sie 68 nur Theater gespielt hatten und in die Kostüme und Masken von Revolutionären geschlüpft waren."
 Andrea Camilleri

Es war also auch in Italien nicht anders als bei uns. Ich hatte das "Glück", zu ebendieser Zeit an der Wiener Uni genau diese Typen als Kommilitonen im Institut für Soziologie zu haben. Es waren fast ausschließlich "höhere Söhne und Töchter" aus der feinen intellektuellen Gesellschaft Wiens und sie haben dann alle eine schöne Karriere gemacht. Einer hat sich sogar zum Zeitungsherausgeber gemausert.

Donnerstag, 22. August 2019

Hommage an Gödel

Hommage an Gödel
Münchhausens Theorem, Pferd, Sumpf und Schopf,
ist bezaubernd, aber vergiss nicht:
Münchhausen war ein Lügner.
Gödels Theorem wirkt auf den ersten Blick
Etwas unscheinbar, doch bedenk:
Gödel hat recht.
"In jedem genügend reichhaltigen System
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind,
es sei denn das System
wäre selber inkonsistent."
Du kannst deine eigene Sprache
in deiner eigenen Sprache beschreiben:
aber nicht ganz.
Du kannst dein eigenes Gehirn
mit deinem eigenen Gehirn erforschen:
aber nicht ganz
Usw.
Um sich zu rechtfertigen
muss jedes denkbare System
sich transzendieren,
d.h. zerstören.
"Genügend reichhaltig" oder nicht:
Widerspruchsfreiheit
ist eine Mangelerscheinung
oder ein Widerspruch.
(Gewissheit = Inkonsistenz)
Jeder denkbare Reiter,
also auch Münchhausen,
also auch du bist ein Subsystem
eines genügend reichhaltigen Sumpfes.
Und ein Subsystem dieses Subsystems
Ist der eigene Schopf,
dieses Hebezeug
für Reformisten und Lügner.
In jedem genügend reichhaltigen System
also auch in diesem Sumpf hier,
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind.
Diese Sätze nimm in die Hand
Und zieh!

Zitiert nach "Die Elixiere der Wissenschaft", Suhrkamp 2002.

Enzensberger bezieht sich auf Kurt Gödels "Unvollständigkeitssatz". Statt die Widerspruchsfreiheit in der Arithmetik zu beweisen (ein ungelöstes Problem der Mathematik) zeigte Gödel, daß es nicht beweisbare Sätze geben kann: man kann nicht entscheiden, ob sie oder ihr Gegenteil zutreffen. Allgemein gesagt: in jeder Sprache die sich selbst zitieren kann gibt es unter der Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit, Sätze, die wahr, aber nicht beweisbar sind.

Hans Magnus Enzensberger (*1929)

Freitag, 9. August 2019

Gejammer und Geraunze über die schlechte Welt

"So ist die Welt. Sie stellt uns Aufgaben. Wir können zufrieden in ihr sein und glücklich. Aber das muß man auch aussprechen! Ich höre es fast nie. Statt dessen hört man täglich Gejammer und Geraunze über die angeblich so schlechte Welt, in der wir zu leben verdammt sind.
Ich halte die Verbreitung dieser Lügen für das größte Verbrechen unserer Zeit, denn es bedroht die Jugend und versucht, sie ihres Rechtes auf Hoffnung und Optimismus zu berauben. Es führt in einzelnen Fällen zu Selbstmord oder zu Drogen oder zum Terrorismus.
Glücklicherweise ist die Wahrheit leicht nachzuprüfen: die Wahrheit, daß wir im Westen in der besten Welt leben, die es je gegeben hat. Wir dürfen diese Wahrheit nicht länger unterdrücken lassen. Die Medien, die in dieser Hinsicht die größten Sünder sind, müssen überzeugt werden, daß sie schweres Unheil anrichten.
Wir müssen die Medien dazu bringen, die Wahrheit zu sehen und zu sagen. Und wir müssen sie auch dazu bringen, ihre eigenen Gefahren zu sehen und, wie alle gesunden Institutionen, Selbstkritik zu entwickeln und sich selbst zu warnen. Der Schaden, den sie gegenwärtig anrichten, ist groß. Ohne ihre Mitarbeit ist es fast unmöglich, ein Optimist zu bleiben."
K. R. Popper
Aber diese "Mitarbeit" ist illusorisch, denn der Pessimismus ist ihr Geschäft. Sie sind "Angstmacher" von Beruf:
https://twitter.com/kumpfuz/status/1159080949130387457?s=20

"Sie fürchten, was sie selbst erfunden haben", so wie Kinder vor dem schwarzen Mann erschrecken, den sie erst selber für ihren Spielgefährten hingemalt haben: "Was ist elender als der Mensch, der sich von den eigenen Hirngespinsten beherrschen läßt?" 



Von meinem Samsung Gerät gesendet.

Westentaschendiktatoren

"Ein wichtiger Punkt in jeder Theorie des nicht-tyrannischen (also »demokratischen«) Staates ist das Problem der Bürokratie. Denn unsere Bürokratien sind »undemokratisch« (in meinem Sinn des Wortes). Sie enthalten unzählige Westentaschendiktatoren, die praktisch nie für ihre Taten und Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden. Max Weber, ein großer Denker, hat dieses Problem für unlösbar gehalten, und er wurde darüber zum Pessimisten."

K. R. Popper 

Donnerstag, 8. August 2019

Volksherrschaft

"Ich vertrete also die Ansicht, daß das Wichtigste einer demokratischen Regierungsform darin besteht, daß sie es ermöglicht, die Regierung ohne Blutvergießen abzusetzen, worauf eine neue Regierung die Zügel übernimmt. Es scheint verhältnismäßig unwichtig, wie diese Absetzung zustande kommt - ob durch Neuwahl oder durch den Bundestag-, solange der Beschluß der einer Majorität ist, entweder von Wählern oder deren Vertretern oder auch von Richtern eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofes. 
Bei einem Regierungswechsel ist diese negative Macht, die Drohung mit Entlassung, das Wichtige. Eine positive Macht zur Einsetzung einer Regierung oder ihres Chefs ist ein verhältnismäßig unwichtiges Korrelat. Das ist leider nicht die gängige Ansicht. Und zu einem gewissen Grad ist die falsche Betonung der Neueinsetzung gefährlich: Die Einsetzung der Regierung kann interpretiert werden als eine Lizenzerteilung durch die Wähler, eine Legitimierung im Namen des Volkes und durch den »Willen des Volkes«. Aber was wissen wir und was weiß das Volk, welchen Fehler - ja, welches Verbrechen - die von ihm gewählte Regierung morgen begehen wird?
Wir können eine Regierung oder eine Politik im nachhinein beurteilen und vielleicht unsere Zustimmung geben und sie wiederwählen. Im vorhinein können sie vielleicht unser Vertrauen haben; aber wir wissen nichts, wir können nicht wissen, wir kennen sie nicht; und wir dürfen darum nicht voraussetzen, daß sie unser Vertrauen nicht mißbrauchen werden.
Nach dem Bericht von Thukydides hat Perikles diese Gedanken in einfachster Weise formuliert:  »Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen.«
Ich halte diese knappe Formulierung für grundlegend und möchte sie wiederholen. Es ist zu beachten, daß hier die Idee einer Herrschaft des Volkes, ja sogar die Idee einer Initiative durch das Volk abgelehnt werden. Sie werden durch die ganz andere Idee einer Beurteilung durch das Volk ersetzt.
Perikles hat hier in aller Kürze gesagt, warum das Volk nicht regieren kann, auch wenn es sonst keine Schwierigkeiten gäbe. Ideen, insbesondere neue Ideen, können nur das Werk von einzelnen sein, vielleicht geklärt und verbessert in der Zusammenarbeit mit einigen wenigen anderen. Viele können wohl nachher sehen - insbesondere dann, wenn sie die Folgen durchlebt haben, zu denen diese Ideen geführt haben-, ob sie gut waren oder nicht. Und solche Beurteilungen, solche »ja-Nein-Beschlüsse«, können auch von einer großen Wählerschaft durchgeführt werden.
Ein Ausdruck wie »Volksinitiative « ist daher irreführend und propagandistisch. Es ist in der Regel eine Initiative von wenigen, die sie bestenfalls dem Volk zur kritischen Beurteilung vorlegen. Und es ist daher in solchen Fällen wichtig, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht hinausgehen über die Kompetenz der Wählerschaft, sie zu beurteilen.
Bevor ich diese Dinge verlasse, möchte ich noch auf eine Gefahr aufmerksam machen, die dadurch entsteht, daß man das Volk und die Kinder lehrt, daß sie in einer Volksherrschaft leben - also etwas, was nicht wahr ist (und gar nicht wahr sein kann). Da sie das bald sehen, werden sie nicht nur unzufrieden, sondern sie fühlen sich belogen: Sie wissen ja nichts über die traditionelle verbale Verworrenheit. Das kann schlimme weltanschauliche und politische Konsequenzen haben und bis zum Terrorismus führen. In der Tat, ich bin solchen Fällen begegnet.
Wie wir gesehen haben, sind wir alle bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für die Regierung, obwohl wir nicht mitregieren. Aber unsere Mitverantwortlichkeit verlangt Freiheit - viele Freiheiten: Redefreiheit; Freiheit des Zugangs zu Informationen und Freiheit, Informationen geben zu dürfen; Publikationsfreiheit und viele andere mehr. Ein »Zuviel« des Staates führt zu Unfreiheit. Aber es gibt auch ein »Zuviel« der Freiheit. Es gibt leider einen Mißbrauch der Freiheit, analog zu einem Mißbrauch der Staatsgewalt. Redefreiheit und Publikationsfreiheit können mißbraucht werden. Sie können zum Beispiel zu Fehlinformationen und zur Verhetzung benutzt werden. Und in genau analoger Weise kann jede Beschränkung der Freiheit durch die Staatsmacht mißbraucht werden.
Wir brauchen die Freiheit, um den Mißbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Mißbrauch der Freiheit zu verhindern. Das ist ein Problem, das offenbar niemals abstrakt und prinzipiell niemals durch Gesetze ganz gelöst werden kann. Es braucht einen Staatsgerichtshof und, mehr als alles andere, einen guten Willen.
Wir brauchen diese Einsicht, daß dieses Problem nie ganz zu lösen ist; oder genauer, daß es nur in einer Diktatur ganz zu lösen ist mit ihrer prinzipiellen Omnipotenz des Staates, die wir aus moralischen Gründen ablehnen müssen. Wir müssen uns mit Teillösungen und Kompromissen abfinden; und wir dürfen uns nicht von unserer Vorliebe für die Freiheit verleiten lassen, die Probleme ihres Mißbrauchs zu übersehen."
 
Aus einem Vortrag von K. R. Popper

Mittwoch, 7. August 2019

Signale aus der Nacht

Christen fragen oft, warum Gott nicht zu ihnen spreche, wie er es in früheren Zeiten getan haben soll. Wenn ich solche Fragen höre, denke ich immer an den Rabbi, der gefragt wurde, wie es käme, dass Gott sich früher den Menschen so oft gezeigt habe, heutzutage aber niemand ihn mehr zu sehen bekomme. Der Rabbi antwortete: «Heutzutage gibt es niemanden mehr, der sich tief genug bücken kann.»
Diese Antwort trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sind von unserem subjektiven Bewusstsein so gefangen und eingewickelt, dass wir die jahrhundertealte Tatsache vergessen haben, dass Gott hauptsächlich in Träumen und Visionen spricht. Der Buddhist tut die Welt der unbewussten Phantasien als nutzlose Illusion ab; der Christ stellt seine Kirche und seine Bibel zwischen sich und sein Unbewusstes, und der rational denkende Intellektuelle weiß noch nicht, dass sein Bewusstsein nicht seine ganze Psyche ist. Die Ignoranz besteht immer noch, trotz der Tatsache, dass seit über siebzig Jahren das Unbewusste ein grundlegendes wissenschaftliches Konzept darstellt, das für jede ernsthafte psychologische Forschung unerlässlich ist.
Wir dürfen uns nicht länger zu gottähnlichen Richtern über Verdienste und Fehler natürlicher Erscheinungen aufwerfen. Wir gründen unsere Botanik nicht auf die altmodische Einteilung in nützliche und nutzlose Pflanzen oder unsere Zoologie auf die naive Unterscheidung zwischen harmlosen und gefährlichen Tieren. Aber immer noch behaupten wir, nur Bewusstsein sei sinnvoll, das Unbewusste dagegen Unsinn. In der Naturwissenschaft wäre eine derartige Behauptung lächerlich. Haben zum Beispiel Mikroben einen Sinn, oder sind sie Unsinn?
Was auch immer das Unbewusste sonst noch sein mag, es ist eine Naturerscheinung, die Symbole produziert, welche sich als bedeutsam erweisen. Wir können von einem Menschen, der noch nie durch ein Mikroskop geschaut hat, nicht erwarten, dass er eine Autorität auf dem Gebiet der Mikroben ist; ebenso kann man niemanden, der natürliche Symbole noch nicht ernsthaft untersucht hat, als kompetenten Richter in dieser Sache ansehen.
Obgleich die katholische Kirche das Vorkommen von somnia a Deo missa  zugibt, machen die meisten ihrer Denker  keinen ernsthaften Versuch, Träume zu verstehen. Ich bezweifle, dass es eine protestantische Abhandlung oder Lehre gibt, die sich so weit herablässt, die Möglichkeit zuzugeben, man könnte die vox Dei im Traum wahrnehmen. Wenn aber ein Theologe wirklich an Gott glaubt, wie kann kann er dann annehmen, Gott sei nicht imstande, durch Träume zu sprechen?
In einer Periode der menschlichen Geschichte, da alle verfügbare Energie auf die Erforschung der Natur verwandt wird, untersucht man zwar die bewussten Funktionen des Menschen, aber der wirklich komplizierte Teil des Geistes, der die Symbole hervorbringt, ist immer noch weitgehend unerforscht. Es scheint fast unglaublich, dass, obwohl wir jede Nacht von dort Signale empfangen, eine Entzifferung dieser Mitteilungen den meisten Menschen zu lästig erscheint. Das bedeutendste Instrument des Menschen, seine Psyche, wird kaum beachtet, oft sogar mit Misstrauen und Verachtung angesehen. «Das ist bloß psychologisch» heißt sehr häufig: Es bedeutet gar nichts.
Woher kommt dieses immense Vorurteil? Wir  sind offenbar so sehr mit der Frage beschäftigt, was wir selber denken, dass wir ganz vergessen zu fragen, was die unbewusste Psyche eigentlich über uns denkt.
C.G. Jung

Respekt vor den Vorfahren?

"Dieser respektvolle Umgang mit dem » anderen« wäre auch von heute aus gegenüber der Geschichte angebracht. Wird in unseren Tagen mit Recht erwartet, dass man ganz fremde Zivilisationen respektiert und nicht in kolonialistischer Mentalität abwertet, so können das mit gleichem Recht die Vorfahren erwarten, die den heutigen Menschen immerhin den Glauben und nebenbei auch den Wohlstand vermittelt haben. Wie wäre es also mit etwas »Nächstenliebe nach gestern«? Solch wertschätzender Respekt ist ein Zeichen für Humanität und mitmenschliche Dankbarkeit, ohne natürlich berechtigte Kritik auszuschließen."
M. Lütz

>>>>> https://kumpfuz.blogspot.com/2019/03/ex-ante-ex-post.html