Donnerstag, 22. August 2019

Hommage an Gödel

Hommage an Gödel
Münchhausens Theorem, Pferd, Sumpf und Schopf,
ist bezaubernd, aber vergiss nicht:
Münchhausen war ein Lügner.
Gödels Theorem wirkt auf den ersten Blick
Etwas unscheinbar, doch bedenk:
Gödel hat recht.
"In jedem genügend reichhaltigen System
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind,
es sei denn das System
wäre selber inkonsistent."
Du kannst deine eigene Sprache
in deiner eigenen Sprache beschreiben:
aber nicht ganz.
Du kannst dein eigenes Gehirn
mit deinem eigenen Gehirn erforschen:
aber nicht ganz
Usw.
Um sich zu rechtfertigen
muss jedes denkbare System
sich transzendieren,
d.h. zerstören.
"Genügend reichhaltig" oder nicht:
Widerspruchsfreiheit
ist eine Mangelerscheinung
oder ein Widerspruch.
(Gewissheit = Inkonsistenz)
Jeder denkbare Reiter,
also auch Münchhausen,
also auch du bist ein Subsystem
eines genügend reichhaltigen Sumpfes.
Und ein Subsystem dieses Subsystems
Ist der eigene Schopf,
dieses Hebezeug
für Reformisten und Lügner.
In jedem genügend reichhaltigen System
also auch in diesem Sumpf hier,
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind.
Diese Sätze nimm in die Hand
Und zieh!

Zitiert nach "Die Elixiere der Wissenschaft", Suhrkamp 2002.

Enzensberger bezieht sich auf Kurt Gödels "Unvollständigkeitssatz". Statt die Widerspruchsfreiheit in der Arithmetik zu beweisen (ein ungelöstes Problem der Mathematik) zeigte Gödel, daß es nicht beweisbare Sätze geben kann: man kann nicht entscheiden, ob sie oder ihr Gegenteil zutreffen. Allgemein gesagt: in jeder Sprache die sich selbst zitieren kann gibt es unter der Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit, Sätze, die wahr, aber nicht beweisbar sind.

Hans Magnus Enzensberger (*1929)

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