Mittwoch, 23. Dezember 2020

Tonarten

..... konsequenterweise auch noch die Frage nach dem Sinn der verschiedenen Dur und Moll Tonarten kommt. In einem System gleichschwebender Temperatur können sie sich ja, außer durch Tonhöhe, durch nichts anderes voneinander unterscheiden. Es wundert mich schon lange, wie man heute, in einer Zeit der präzisen Formulierung, noch immer und ohne jedes sachliche Fundament, verschiedene Stimmungsgehalte glaubt verschiedenen Tonarten zuordnen zu müssen, zumal es doch gar keine Tonarten mehr gibt außer transponiertem C-Dur und a-Moll. 

N. Harnoncourt

Das dachte ich mir auch schon, hier lese ich es zum erstenmal und dazu von einem, der es wissen muß.

Samstag, 5. Dezember 2020

Viceversa

 „Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.“

Marcus Aurelius

Und umgekehrt bei Seneca:

Non potest alius esse ingenio, alius animo color.

Nicht kann der Geist eine, die Seele eine andere Färbung haben. Wenn sie gesund ist, wenn ausgeglichen, ernst, beherrscht, ist auch der Geist trocken und nüchtern: ist die Seele fehlerhaft, so wird auch der Geist angesteckt. 


QUID ERGO?


Samstag, 14. November 2020

Coronartiges

  • Jetzt  ist die große Zeit der Blockwarte, Hilfssheriffs, Besserwisser, Mahner, Unheilspropheten, Zeigefinger-Prognostiker, der privaten und medialen Angstmacher angebrochen - jener Zeitgenossen also, die die Kirche partout nicht im Dorf lassen wollen und können, weil sie außerhalb mit ihr bessere Geschäfte machen.
  • Jetzt leben jene auf, die "immer schon dagegen" waren und sind - gegen Alles, aber ganz besonders, wenn es "von oben" kommt. Und nun gar vom politischen Gegner! Leider ist "dagegen sein" bis jetzt auch der einzige Beitrag, der von der Opposition kommt.
  • Es ist aber auch die Zeit derer, die auch am Telefon den Mund-Nasen-Schutz tragen und in der Nacht aufstehen, um sich die Hände zu waschen.
  • Und leider ist es aber auch eine Zeit der realen Angst, dem stärksten Gift überhaupt für Gesellschaft und Individuen. Und die Medien sorgen dafür, dass sie nicht erlischt, denn:  'fear sells'!
  • Und die Wissenschaft? Einerseits erbringt sie favelhafte Leistungen durch Entwicklung und Bereitstellung eines Impfstoffs, andererseits ist sie zerstritten über die richtigen sozialen und finanziellen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Man glaubt es nicht, wie eitel und eifersüchtig die diversen Professoren von den diversen Universitäten und den diversen Lehrkanzeln sich einander belauern, verleumden und bekämpfen. Sicher ist, dass es nicht nur eine richtige Strategie gibt, aber völlig unklar, welche die richtige ist. Verschiedene Länder haben verschiedene Vorgangweisen gewählt, aber nirgenwo ist es eklatant besser verlaufen. Aber die wissenschaftlichen Meinungsunterschiede - ein völlig normaler Vorgang in diesem Bereich - liefern natürlich jede Menge Munition für frustgeborene Empörungen und somit für alle jene Kräfte, die mit der Krise  ihr politisches oder noch häufiger kommerielles Süppchen kochen.
Leider haben die sog. "Verweigerer" auch den Begriff "Querdenker" in Verruf gebracht (s.u.).Dabei sind das in meinen Augen  nur  "Verquer-Denker"  sowie "Engdenker", die sich eine Welt außerhalb ihres Scheuklappen-Sichtfeldes  nicht vorstellen können bzw. nur in der Form von diffusen Ängsten und Verschwörungstheorien: Wenn etwas auftritt, dass sie in ihrem Denkapparat nicht unterbringen können, dann ist es erstens grundverdächtig und muß zweitens durch finstere, geheime Absichten gesteuert sein. Siehe ein praktisches Beispiel: https://kumpfuz.blogspot.com/2021/01/bahnhofsabenteuer-corronarrisch.html

Der wahre Skeptiker ist niemals "von Haus aus" GEGEN etwas, sondern er will nur immer zuerst prüfen, ob es auch stimmt oder stimmen kann. Der "Dagegner" ist von Anfang an schon einmal gefühlsmäßig dagegen und sucht sich erst nachher sog. rationalen Argumente für seine Gegnerschaft zusammen: Und - wie die Welt nun mal beschaffen ist: Argumente finden sich immer und für alles und für jeden, der sie glauben will. 

Die Regeln für echte Zweifler sind nach G. Chr. Lichtenberg:

»Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall«,

 »Warum glaube ich dieses? Ist es auch würklich so ausgemacht?«

 »Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es auch der Satz: Zweimal zwei ist vier« 

 »Imrner sich fragen: sollte hier nicht ein Betrug stattfinden? und welches ist der natürlichste, in den der Mensch unvermerkt verfallen, oder den er am leichtesten erfinden kann?«

😉

Und es sei an das Grundmotto dieses Blogs erinnert:

Prudenter dubitare!  Zweifle mit Hirn! 

Richtiges

.....daß er ein sehr abgeschlossener, bewußter, eigensinniger Herr ist, der sich nicht fördern und entwickeln, sondern weil er das Richtige bereits zu haben glaubt, dies sein »Richtiges« à  tout prix durchdrücken will. Solche Personen kann ich bis zu einem gewissen Grade anerkennen, aber ich kann nicht mit ihnen leben. Personen, denen irgend etwas absolut feststeht, sind keine Genossen für mich; nichts steht fest, auch nicht einmal in Moral und Gesinnungsfragen und am wenigsten in sogenannten Thatsachen. Taufregister sind sprichwörtlich falsch. 

Fontane

Mittwoch, 11. November 2020

Kritiker kritisch gesehen

 Günter Grass: über Lichtenberg und Reich-Ranitzky:

 „Nach dem Wolkenbruch heute nacht dampft der Garten. Vorsicht! Keine überflüssige Bewegung! Allenfalls Lichtenberg lesen, dessen Prosa kühlt. Wie er die Kritiker zu seiner Zeit (mit Nachhall bis heute) trifft, wie er sich immer wieder - und nicht ohne Genuß - den »Frankfurter Rezensenten« vornimmt. Gleich kommt mir, wie aufgerufen, ein gegenwärtiges Exemplar in die Quere, dessen eloquenter Pfusch sich ungeschmälerter Wirkung erfreut, weil weit und breit kein Lichtenberg dem Beckmesser sein einzig gültiges Werkzeug, die Meßlatte des Sozialistischen Realismus nachweist. Dabei erinnere ich mich an seine umtriebene Präsenz während der letzten Treffen der Gruppe 47: ein amüsanter Literaturnarr, liebenswert noch in seinen Fehlurteilen. Erst als ihm die Chefetage der FAZ Macht zuschanzte - das große Geld weiß, was frommt -, wurden seine Verrisse übellaunig bis bösartig, mißriet er zu Lichtenbergs »Frankfurter Rezensenten«.“

 🔆

Und hier noch ein paar Lichtenberg-Originale:

 » Ich sehe die Rezensionen als eine Art von Kinderkrankheiten an, die die neugebornen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, daß die gesündesten daran sterben, und die schwächlichen oft durchkommen. Manche bekommen sie gar nicht. Man hat häufig versucht, ihnen durch Amulette von Vorrede und Dedikation vorzubeugen oder sie gar durch eigene Urteile zu inokulieren, es hilft aber nicht immer.«

 »Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall«,

 »Warum glaube ich dieses? Ist es auch würklich so ausgemacht?«

 »Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4« -

 »Immer sich fragen: sollte hier nicht ein Betrug stattfinden? und welches ist der natürlichste, in den der Mensch unvermerkt verfallen, oder den er am leichtesten erfinden kann?«

"Zweifel muß nichts weiter sein als Wachsamkeit, sonst kann er gefährlich werden."

Katzengedicht


KATZEN GEDICHT

von Robert Gernhardt



Von einer Katze lernen
heißt siegen lernen.
Wobei siegen »locker durchkommen« meint,
also praktisch: liegen lernen.

Sie sind ein sieghaftes Geschlecht,
diese Katzen.
Es gibt ihrer so viele wie Spatzen im Land.
Doch wer streichelt schon Spatzen?

Sie ist gar kein rätselhaftes Tier,
so eine Katze.
Sie will viel Fraß, etwas Liebe, doch meist
horcht sie an der Matratze.

Was eine einzige Katze uns lehrt,
lehren uns alle:
So viel wie möglich nehmen, ohne zu geben,
und dann ab in die Falle.

Mit einer Katze leben,
heißt die Katze überleben.
Jedenfalls dann, wenn man noch mitten im Leben steht.
Eine Katze steht schneller daneben.

Wie alt wird so eine Katze?
Maximal zwanzig Jahre.
Viele streckt's aber auch schon früher hin
auf die, sagen wir ruhig: Bahre.

Die ist dann vielleicht dein Schreibtisch.
Darauf kriegt sie ihre Injektion.
Sie seicht dir noch rasch die Tischplatte voll,
und das war's dann auch schon.

Eine Katze haben,
heißt eine Katze verlieren.
Andere mögen von Menschen reden,
ich rede von Tieren.

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Nutzlose Vorschriften

 ...wenn irgendein Hindernis die Seele verdunkelt und sie die Reihenfolge der Pflichten zu überblicken hindert, richtet nichts aus, wer Vorschriften formuliert: "So mußt du mit dem Vater leben, so mit der Ehefrau". Nichts nämlich werden Vorschriften nützen, solange den Verstand Irrtum umgibt: wenn er entfernt wird, zeigt sich deutlich, was man jeder Pflicht schuldet. Sonst lehrst du ihn, was der Gesunde tun muß, machst ihn aber nicht gesund.  Dem Armen zeigst du, wie er den Reichen spielen soll: wie kann das, wenn die Armut anhält, geschehen? Du zeigst dem Hungrigen, was er als Gesättigter tun soll: Nimm ihm lieber den Hunger aus den Eingeweiden. Dasselbe sage ich dir über alle Fehlhaltungen: sie selbst müssen entfernt werden, nicht darf man vorschreiben, was nicht geleistet werden kann, wenn sie noch andauern. 

 Seneca, Ep. m. XV.

Nihil enim proficient praecepta quamdiu menti error obfusus est ...

Dienstag, 13. Oktober 2020

ἀταραξία

 Ein Mensch, der nach vielen bitteren Kämpfen gegen seine eigene Natur endlich ganz überwunden hat, ist nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig. Ihn kann nichts ängstigen, nichts mehr bewegen; denn alle die tausend Fäden des Wollens, welche uns an die Welt gebunden halten und als Begierde, Furcht, Neid, Zorn uns hin und her reißen unter beständigem Schmerz, hat er abgeschnitten. Er blickt nun ruhig lächelnd zurück auf die Gaukelbilder dieser Welt, die einst auch sein Gemüt zu bewegen und zu peinigen vermochten, die aber jetzt so gleichgültig vor ihm stehn wie die Schachfiguren nach geendigtem Spiel oder wie am Morgen die abgeworfenen Maskenkleider, deren Gestalten uns in der Faschingsnacht neckten und beunruhigten. Das Leben und seine Gestalten schweben nur noch vor ihm wie eine flüchtige Erscheinung, Wie dem Halberwachten ein leichter Morgentraum, durch den schon die Wirklichkeit durchschimmert und der nicht mehr täuschen kann; Und eben auch wie dieser verschwinden sie zuletzt ohne gewaltsamen Übergang. 

Schopenhauer

>>> ἀταραξία=Gemütsruhe

Samstag, 3. Oktober 2020

Bauwut zeitlos

 ,,Wie lange, und es wird keinen See geben, über den nicht die Giebel eurer Landhäuser ragen? Keinen Fluß, dessen Ufer nicht eure Bauten säumen? Wo immer warmer Quellen Adern sprudeln, dort werden neue Herbergen eurer Genußsucht entstehen. Wo immer sich zu einer Bucht die Küste krümmt, werdet ihr sofort Fundamente eines Baus legen und, nicht zufrieden mit einem Boden, wenn ihr ihn nicht mit eigener Hand geschaffen habt, das Meer nach drinnen leiten. Alle Orte mögen von euren Dächern leuchten, hier auf Bergen errichtet zum weiten Ausblick über Länder und Meer, dort aus der Ebene zur Höhe von Bergen aufgeführt- obwohl ihr viel baut, obwohl riesig, dennoch seid ihr jeder ein Körper, und zwar ein kümmerlicher."

SENECA - vor 2000 Jahren 

Freitag, 25. September 2020

Vermessen

 »Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt; sie ist die messbare Seite derWelt«

meint der Frankfurter Philosoph Martin Seel.

 👉 https://kumpfuz.blogspot.com/2017/04/eigenma.html

Ich gestatte mir eine Variation:

Die mediale Sicht der Welt ist nicht die Welt; sie ist die mediale Sicht der Welt.

Mittwoch, 23. September 2020

Nation und Demokratie

"Zu diesen Lehren muß aber auch die Erkenntnis gehören, daß in der bisherigen Geschichte Nation und Demokratie immer eng verbunden waren, so daß man Gefahr für die Demokratie wittern sollte, wenn es, wie manche wünschen und schon bald erreicht zu haben meinen, mit den Nationen zu Ende geht." 

G. de Bruyn



Solche Hitze

"Solche Hitze bringt mich um und ist für mich gleich bedeutend mit völliger Brachlegung meiner leiblichen und geistigen Kräfte."

Th. Fontane (wer sonst?) Ein Hitzehasser wie ich.....


Donnerstag, 17. September 2020

Wegbereiter

Das Gemeinsame der großen Maler, Denker und Dichter besteht darin, daß die Nachkommen mehr Erfahrungen machen können, weil jene lebten. Ich glaube, Freud gehörte zu dieser erlauchten Schar. Allerdings macht erst das Alter eines Werks einen solchen Glauben zu einem Dekret des Weltgerichts.

L. Marcuse 

Da macht es auch nichts aus, dass sie jeder Menge Irrtümer erlegen sind, aber sie haben Türen geöffnet, die nie mehr geschlossen werden können.



"Tugendboldschaft"

 ...ist eine Wortschöpfung von Th. Fontane. 

Noch besser:

"Tugendpriester und Gesinnungstrampel"

oder

"Gesinnungstüchtige Großmäuligkeit"

Da befallen mich aber sofort heftigste Assoziationen!

Und gleich noch was Schönes:

"…. ist es gar nichts, aber journalistisch-moralisch angesehn, wenn sich diese beiden Adjektiva so dicht nebeneinander vertragen"

👀

Diese Verb-Schöpfung ist auch merkenswert:

"Zu den Merkwürdigkeiten, gehört auch, daß sich der Sprechanismus als Bekehrungsopfer immer solche aussucht, die auf bestimmten Gebieten eine größere oder kleinere Autorität sind. So daß man von ihm sagen darf: er hat sich nıe mit Kleinigkeiten abgegeben, er ist wählerisch, noblesse oblige. Er sucht sich seinen Mann, und wenn er ganz echt ist, so wird er einen Generalstäbler über die Fehler, die bei Mars-la-Tour gemacht wurden, und Mommsen über Geschichtschreibung bestandpunkten...."

Dienstag, 15. September 2020

Genußunfähig?

»In der Musik bin ich fast genußunfähig«‚ heißt es in einem Bekenntnis  Sigmund Freuds. Weshalb? Kunstwerke »erfassen« heißt: »mir begreiflich machen, wodurch sie wirken«. Aber muß man Kunst "erfassen", um sie zu genießen? Eine Wirkung vor diesem Sich-begreiflich-Machen zog er offenbar nicht in Betracht; Kunstgenuß war ihm erst möglich, nachdem er begriffen hatte, warum er berührt worden war. Man könnte einfacher sagen: er wurde gar nicht ursprünglich berührt. Er brauchte die Rationalisierung des Eindrucks als Vermittler zum Genuß. Erst die Einordnung schuf das Erlebnis. 

... es kommt bei der Musik besonders deutlich diese Unfähigkeit heraus, weil ihr prinzipiell fehlt (wenn man von dem bißchen TonMalerei absieht), was Freud den »Inhalt« nennt. Dieser Inhalt besteht in allen andern Künsten fast ausschließlich aus Elementen, welche Reales abbilden -zum Beispiel Formen, Farben, Gegenstände und Kreaturen; außerdem noch aus Begriffen. Reales und Begriffliches kann man be-greifen und begreifen; die Musik allein hat diese Elemente nicht. Freuds Vorstellung, daß die Freude am "Begreifen" eines Kunstwerks -Kunstgenuß ist, beweist, wie wenig er diesen spezifischen Genuß kannte. 

Ludwig Marcuse

Ich halte das für eine überzeugend gelungene Beschreibung jener Leute, die "Genuß" am Opern-Regietheater haben.


😝

Dazu ein Leserbrief von mir aus 2018:

 Im Musiktheater ist Regie heute wichtiger als Musik

Die Regisseure heften sich ihre Buhs an die Brust wie die russischen Generäle ihre Orden. Speziell was das Musiktheater betrifft, kalkulieren die Intendanten: Diejenigen, welche wegen der Musik kommen, kommen sowieso. Deshalb konzentrieren sie sich auf jene mit anderen Prioritäten.

Ich persönlich gehe nicht in die Oper um des intellektuellen Vergnügens willen, sondern sitze oder stehe dort "mit sinnlichem Interesse und geistiger Aufmerksamkeit" (Zitat Thomas Mann). Unbeschreiblich auf die Nerven gehen mir "Regisseure, die nicht eigentlich ein Stück, sondern ihren Kommentar zum Stück inszenieren" (Zitat Friedrich Dürrenmatt), auf Wienerisch gesagt: mir irgendwas "einidruckn" wollen.


Freitag, 11. September 2020

Andacht

 »Man sage nicht, daß eine Stimme uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf.«

H. v. Kleist



Mittwoch, 9. September 2020

Das frühere Leben

"Wenn ich mein Leben noch einmal zu leben hätte, würde ich wieder so leben, wie ich gelebt habe: ich bedaure nicht, was vergangen ist, und ich fürchte nicht, was noch kommen soll; und wenn ich mich nicht täusche, ist mein Leben innerlich etwa ebenso abgelaufen wie äußerlich. Ich bin meinem Schicksal zu besonderem Dank verpflichtet, daß in meiner körperlichen Entwicklung jede Veränderung zu ihrer Zeit eingetreten ist; ich habe das junge Grün und die Blüten und die Frucht erlebt, und jetzt sehe ich, wie es allmählich vertrocknet: so ist es beglückend, weil es natürlich ist. Das Leid, das ich zu tragen habe, trage ich leicht, kommt es doch zu seiner Zeit und wird es doch gemildert durch die Erinnerung an das lange Glück meines früheren Lebens."

Montaigne 



Gipfel der Verlogenheit

 

Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als die Angst am Leben zu erhalten ... es ist ihr Geschäftsmodell.

Zuerst erzeugen sie Angst und dann schüren sie sie.

"Wie auch heute noch üblich, lenkte man die Volksmeinung unter dem Vorwand, sie wiederzugeben." (G.d.Bruyn)
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Mein Problem mit den Medien: Sie servieren die reinen Tatsachen mit schmutzigen Händen und auf schmutzigem Geschirr. Zum Beispiel würde ich manche Erzeugnisse der Wissenschafts-Küche viel bereitwilliger goutieren, wenn sie nicht von Kellnern mit schmutzigen Fingernägeln aufgetragen würden....

Und hier ein Musterbeispiel, ganz aktuell:


Wen wundert's? Wird ihnen ja täglich eingebleut.

Perversion XXI

No commemt. 

Mittwoch, 2. September 2020

Und wenn mich auch niemand liest...

 "Und wenn mich auch niemand liest, kann ich die Zeit als verloren ansehen, die ich zu so nützlichem und zugleich angenehmem Nachdenken verwendet habe, in all den Stunden, wenn ich nichts anderes zu tun hatte? "

Montaigne


Siehe auch:


Dienstag, 1. September 2020

Quis deus incertum est

 "So sage ich, Lucilius: Ein heiliger Geist sitzt in uns, als Beobachter und Wächter über unser Übel und Gutes; je nachdem er von uns behandelt wird, so behandelt uns dieser selbst. Ohne Gott ist aber niemand ein guter Mann: ob sich irgendjemand über das Schicksal erheben kann, wenn er nicht von ihm unterstützt wird? In jedem einzelnen der guten Männer wohnt Gott; welcher Gott, ist unsicher."

"....sacer intra nos spiritus sedet....Bonus vero vir sine deo nemo est....In unoquoque virorum bonorum quis deus incertum est habitat deus...."

Seneca, Ep.m.41

Mit der Übersetzung tun sich manche schwer und müssen ein Komma vor "quis" zu Hilfe nehmen! 😈

Donnerstag, 27. August 2020

Extreme Mitte

 Das Wesen der Kunst ist nicht das Extreme, sondern die Mitte. Über die Grenzen hinauszubrechen ist einfach. Die Mitte zu treffen ist schwer.

H. Rosendorfer

Ist natürlich ein totaler Antagonismus zum gegenwärtigen Verständnis von Kunst.

 

 

Mittwoch, 26. August 2020

Bei Betrachtung der auf dem Fensterbrett schlafenden Katze

 "Was tut eine Katze? Sie frißt, sie jagt, sie tobt herum, sie lauert. Sie denkt nicht. Natürlich geht in ihrem Gehirn etwas vor, aber wir täuschen uns, wenn wir meinen, sie denke. Sie denkt nicht, denn sie hat keine Begriffe. Denken heißt: Instinkte in Begriffe verwandeln. (Der Denkansatz bei der Entschlüsselung der artificial intelligence, der die Entschlüsselung der natürlichen Intelligenz vorausgehen muß, also die Antwort auf die Frage: haben Computer eine Intelligenz?, ist falsch, weil er an der Begriffseite beginnt; er müßte an der Instinktseite anfangen.) Ein Bein und der Schwanz hängen übers Fensterbrett herunter. Über die Silhouette erhebt sich nur ein Ohr. Wenn sie weder frißt, jagt, tobt und so fort, schläft sie.

Wecken hieße: sie ein klein wenig töten. Nicht nur die Katze, jedes Lebewesen. Ein gewaltsames oder auch nur durch unberechenbare äußere Einflüsse herbeigeführtes Ende einmal beiseite gelassen, hat jedes Lebewesen, vermute ich, ein zugewiesenes Maß an Lebenskraft, das sich im Lauf seines Lebens verbraucht; und dann erlischt es, das Leben. Wenn das Lebewesen schläft, verbraucht es keine Lebenskraft oder vielleicht nur ganz, ganz wenig. Was es schläft, lebt es länger. Mozart hat so wenig geschlafen, heißt es. Wenn er mehr geschlafen hätte, hätte er vielleicht länger gelebt, aber mehr geschrieben hätte er auch nicht, denn im Schlaf hat er nicht geschrieben, das nicht; unter allen möglichen Umständen hat er geschrieben, aber im Schlaf nicht.

Langgestreckt, schwarz, seidig glänzendes Fell, tief atmend, draußen der leichte Nebel auf der herbstlichen Wiese. Nicht wecken: sie verlängert grad ihr Leben."

H. Rosendorfer

Dazu passt:

Muezza (arabisch معزة) war nach der Überlieferung die Katze des islamischen Religionsstifters Mohammed. Über sie existieren einige Legenden: Um das in seinem Arm schlafende Tier nicht zu wecken, soll Mohammed ohne Zögern den Ärmel seines Gewandes abgeschnitten haben, als er zum Gebet gerufen wurde.



Dienstag, 18. August 2020

Die unverstehbare Macht.

 "Über die Religion haben die Menschen seit alter Zeit im­mer menschlich gedacht; und diejenige von diesen Vorstel­lungen scheint mir noch die wahrscheinlichste und ent­schuldbarste, die in Gott eine unverstehbare Macht sieht, den Schöpfer und Bewahrer aller Dinge…

Wieviel folgsamer und lenksamer sind, sowohl auf reli­giösem wie auf politischem Gebiet, einfache Menschen ohne besonderen Wissensdrang als die Geister, die bei allen gött­lichen und menschlichen Dingen die Gründe erkennen und überwachend und erziehend in sie eingreifen wollen. Nichts, was Menschen erfunden haben, ist so wahrheitsnah und nützlich wie eine solche Hingabe: sie stellt den Men­schen nackt und leer hin, wie er ist; sie erkennt seine natür­liche Schwäche und ist deshalb bereit, von oben her eine fremde Macht auf sich einwirken zu lassen; sie ist nicht mit menschlichem Wissensdrang belastet und darum um so of­fener für göttliche Erkenntnis; sie achtet die eigene Urteils­kraft gering und gibt dadurch dem Glauben mehr Raum; sie verleitet nicht zum Unglauben und zur Bildung von Dog­men, die der üblichen Religionsübung zuwiderlaufen; sie macht demütig, gehorsam, eifrig, sie ist die geschworene Feindin jeder Häresie und infolgedessen gefeit gegen die re­spektlosen Irrlehren, die von falschen Sekten verbreitet wer­den. Sie ist wie ein weißes Blatt, auf das Gottes Finger schreiben kann, was er will. Wir werden um so vollkomme­ner, je mehr wir uns dem Willen Gottes unterstellen und uns ihm hingeben und damit auf unser Selbst Verzicht lei­sten. «Nimm«, sagt der Ecclesiasticus, «die Dinge in gutem Sinne, so wie sie sich gerade bieten, wie sie gerade heute aussehen und munden; das übrige ist für dich nicht erkenn­bar».

Der Menschengeist hat keinen Halt, wenn er sich in der Unbegrenztheit gestaltloser Gedanken bewegt: er muß sie zu bestimmten Bildern verdichten, die seiner Welt entnommen sind. So hat sich die göttliche Maje­stät in das beschränkte Bild einer körperlichen Erscheinung bannen lassen: seine unirdische Helligkeit wird durch Zei­chen angedeutet, die unserer Irdischkeit entsprechen: seine Anbetung kommt zum Ausdruck in einem Gottesdienst, den man sehen, und in Worten, die man hören kann: denn es sind Menschen, die glauben und beten; jedenfalls wird schwerlich je­mand mich überzeugen, daß nicht eine warme religiöse Stimmung, die sehr nützlich wirkt, von ihr ausgelöst wird: vom Anschauen der christlichen Kruzifixe und der Bilder der Leidensgeschichte, vom Schmuck und den rituellen Be­wegungen In unseren Kirchen, von dem andächtigen Ge­sang und überhaupt von dem sinnlichen Reiz des Gottesdienstes.

 Wie die Mohammedaner sind auch manche Christen dem Irrtum verfallen, daß sie nach der Auferstehung ein irdisches, weltliches Leben erhofften, mit allen Freuden und Annehmlichkeiten der Erde. Glauben wir, daß Plato, der doch vom Himmel etwas ahnte und der mit dem Göttlichen so vertraut war, daß dies in seinem Beinamen zum Aus­druck kam, gemeint habe, der Mensch, dieses arme Ge­schöpf, könne diese unverstehbare Macht irgendwie deu­ten und daß er geglaubt habe. unser schwaches Fassungsvermögen sei geeignet und die Kraft unserer ausreichend, um uns eine Vorstellung von der oder der ewigen Verdammnis zu ermöglichen. Im Namen der Menschenvernunft müßte man dann so zu ihm spre­chen: Wenn die Freuden, die du uns im anderen Leben versprichst, derart sind, wie ich sie hier auf Erden gefühlt habe, so haben sie nichts mit der Ewigkeit zu tun. Wenn auch meine natürlichen fünf Sinne überglücklich gemacht wür­den und meine irdische Seele alles Glück erführe, das sie hoffen und wünschen kann, so kennen wir doch ihre Be­grenzung; das wäre dann alles noch nichts; wenn noch etwas Persönliches darin ist, ist nichts Göttliches dabei; wenn alles das nichts anderes ist, als was wir auch im jetzigen Leben er­fahren können, so kann es nicht in Betracht kommen: „Alles Glück der Sterblichen ist sterblich", das Wiedersehen mit unseren Eltern, unseren Kindern und Freunden, angenom­men, es könnte in der anderen Welt uns noch berühren und beglücken, und angenommen, es läge uns dann noch etwas an dieser Freude, so bleiben wir immer im Rahmen irdi­scher und begrenzter Annehmlichkeiten. Ihrer Würde ent­sprechend können wir die Größe der göttlichen Verheißun­gen nicht erfassen, solange wir sie noch irgendwie erfassen können; wenn wir uns eine angemessene Vorstellung davon bilden wollen, muß sie unvorstellbar, unsagbar und unver­stehbar sein, jedenfalls ganz abweichend von allem, was un­sere elende Erfahrung uns lehrt."

Montaigne

Siehe auch:  https://kumpfuz.blogspot.com/2018/12/alles-symbole.html

Sonntag, 26. Juli 2020

Geselligkeit

Das macht die gewöhnlichen Leute so gesellig, es wird ihnen nämlich leichter, a n d e r e zu ertragen, als sich selbst. 
Schopenhauer


Donnerstag, 23. Juli 2020

Liebe ist

 »In der Jugend ist die Liebe stürmischer, aber nicht so stark, so allmächtig wie später. Auch ist sie in der Jugend nicht so dauernd, denn der Leib liebt mit, lechzt nach leiblichen Offenbarungen in der Liebe und leiht der Seele allen Ungestüm seines Blutes, die Überfülle seiner Sehnenkraft. Später, wo diese aufhört, wo das Blut langsamer in den Adern sintert, wo der Leib nicht mehr verliebt ist, liebt die Seele ganz allein, die unsterbliche Seele, und da ihr die Ewigkeit zu Gebote steht, da sie nicht so gebrechlich ist wie der Leib, nimmt sie sich Zeit und liebt nicht mehr so stürmisch, aber dauernder, noch abgrundtiefer und übermenschlicher«

H. Heine



Dienstag, 21. Juli 2020

Samstag, 18. Juli 2020

Geplanter Zufall

"Ein Plan ist der Perfektion um so näher, je mehr er den Zufall in Rechnung stellt."
Klaus Leonhardt

Wohl wahr - nur muss man bei der real existierenden Projektplanung den Einfluss des Zufalls trickreich verstecken, sonst schafft es kein Plan durch die Genehmigungs-Instanzen. Wird er nämlich "sichtbar", so wird er für "Unsicherheit" des Planers gehalten.


Freitag, 10. Juli 2020

Heiterkeit ist ...

….  das höchste Gut für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer unteilbaren Gegenwart zwischen zwei unendlichen Zeiten hat.

Schopenhauer

Donnerstag, 2. Juli 2020

Lasterfefizit

"Ich habe mir nie besondere Mühe gegeben, die Wünsche, die mich bestürmten, zu bekämpfen; meine Tugend ist eine Zufallstugend oder besser, eine Zufallsunschuld. Wenn ich eine stärkere Anlage zur Liederlichkeit gehabt hätte, so hätte ich wahrscheinlich jämmerlich Schiffbruch gelitten; denn ich habe eigentlich nie wirkliche seelische Energie aufwenden müssen, um mit meinen Leidenschaften fertig zu werden; wer weiß, wie es gegangen wäre, wenn sie nur ein wenig drängender gewesen wären: innerlich kämpfen, das kann ich nicht. Deshalb darf ich mir nichts darauf einbilden, daß ich eine Anzahl Laster nicht habe . .. das verdanke ich mehr meinem Glück als meiner Vernunft."

 Montaigne


Mittwoch, 24. Juni 2020

Zerrspiegel

Wer das Schauspiel nicht besucht, gleicht dem, der seine Toilette ohne Spiegel macht.
Schopenhauer

Nur ist leider das moderne Theater ein Zerrspiegel.  

Freitag, 19. Juni 2020

Rückschritte

Bei meiner retrograden Reise durch Literatur und Philosophie* bin ich nun endlich beim alten Seneca gelandet. Ich finde dort Stellen wie diese:
(24,12) Securus itaque inimici minas audi; et quamvis conscientia tibi tua fiduciam faciat, tamen, quia multa extra causam valent, et quod aequissimum est spera et ad id te, quod est iniquissimum, compara. Illud autem ante omnia memento, demere rebus tumultum ac videre, quid in quaque re sit: scies nihil esse in istis terribile nisi ipsum timorem.
(12) Sorglos höre also deines Feindes Drohungen: und so viel Zuversicht dir auch dein gutes Gewissen gibt, so hoffe zwar auf die gerechteste Entscheidung, aber bereite dich, weil vieles von außerhalb der Rechtssache einwirkt, auf die ungerechteste vor. Vor allem aber vergiss nie, den Dingen ihre schreckenden Begleiterscheinungen zu nehmen und zu sehen, was an jeder Sache ist. Du wirst dich überzeugen: die Furcht allein ist es, was sie schrecklich macht.

.... und viele andere, die mir "aus der Seele sprechen". Fast auf jeder Seite finde ich großartige Sätze, die ich gar nicht alle notieren kann.
Es kommt dazu, dass mir jetzt im Alter meine 8 Jahre Latein-Studium in der Jugend wieder von Nutzen sind und zu meinem Vergnügen beiträgt. Es ist noch genug da - und einiges taucht auch wieder auf. Wer hätte das gedacht? 

Und gleich noch ein passendes Zitat von ihm:

„Soll ich etwa nicht den Spuren der Vorgänger folgen? Wahrlich, ich werde den alten Weg einschlagen; finde ich aber einen geeigneteren und ebeneren, so werde ich mich an diesen halten. Die Menschen, die vor uns diese Lehren aufbrachten, sind nicht unsere Gebieter, sondern unsere Wegweiser. Die Wahrheit steht allen offen, sie ist nicht vergeben. Künftigen Generationen wird noch ein großer Teil ihrer Erforschung überlassen sein."

 

* Meine Reise führt mich von Thomas Mann zu Theodor Fontane und von dort zu Montaigne (beide Gascogner!), welcher mich mit seinen Zitaten zu Seneca geleitete. Und bei Schopenhauer und Lichtenberg schaue ich auch immer wieder gerne vorbei: Sie bieten so herrliche Erfrischungen!
Aber ich eigne mich nicht zum Jünger: Ich entnehme ganz verschiedene Gedanken und verarbeite sie auf meine Weise, ganz so wie es Seneca formuliert:
"....meine Bücher sollst Du als Zeugnisse eines hartnäckigen Wahrheitssuchers lesen, nicht als die eines Wissenden. Denn ich habe mich keinem Leitbild verschworen, bin keinesfalls nur Schüler. Zwar gebe ich viel auf das Urteil bedeutender Männer, aber eine gewisse Entscheidungsfreiheit behalte ich mir vor."

Oder noch besser:

"...wie ich vorgehe: ein Stückchen von einem und dann von einem anderen Autor lesen; ihre Gedanken sozusagen einmal am Kopfe und einmal an den Füßen zu packen, und keineswegs um eigentlich daraus zu lernen; nein, um die Gedanken, die ich schon habe, zu stützen, um bei ihrer Formulierung' als Schmuck und Hilfe zu dienen." 


Donnerstag, 4. Juni 2020

Die Dinge sind nicht eben so

.....sonst haben es alle Bereiche der Seele irgendwie mit jedem Objekt zu tun; alle wirken gemeinsam darauf ein; allerdings wird immer nur ein Objekt auf einmal von dieser Einwirkung betroffen, und jedesmal geschieht das nicht nach den Gesetzen, die in den Dingen liegen, sondern nach denen, die in der Seele liegen. Nimmt man die äußeren Dinge für sich, so kann man vielleicht von ihrem Gewicht, ihren Dimensionen, ihrer sonstigen Beschaffenheit sprechen; aber im Innern, in uns, bestimmt die Seele, wie das alles auszusehen hat. Der Tod ist für Cicero fürchterlich, für Cato wünschenswert, für Sokrates ohne Belang. Gesundheit, Gewissen, Einfluß, Wissen, Reichtum, Schönheit und die Gegenbegriffe dazu, alle müssen sich entkleiden, wenn sie in uns eingehen, und bekommen von unserer Seele ein neues Kleid oder eine andere Färbung, die ihr gefällt: braun, hell, grün, düster, bitter, süß, tief, oberflächlich; jedes Ding wieder anders, wie es zu ihm paßt: denn sie richten sich nun nicht etwa alle nach einem Stil, einer Regel und einer Form; jeder dieser Begriffe ist König in seinem Reich. Deshalb sollten wir es uns nicht dadurch bequem machen, daß wir sagen: die Dinge sind eben so; wir müssen von uns aus zu ihnen Stellung nehmen. Nur von uns hängt unser Wohl und Wehe ab. Nicht das Schicksal sollten wir durch Opfergaben und Wünsche zu beeinflussen suchen, sondern uns selber: das Schicksal hat keinen Einfluß auf unseren Charakter; im Gegenteil: der Charakter bestimmt das Schicksal und modelt es um nach seinem Bild.  
Montaigne 

Th. Fontane: "Es kommt auf die Beleuchtung an"

Dienstag, 26. Mai 2020

Deutsche Sprache

Eine solche Sprache auf das Mutwilligste und Hirnloseste misshandeln und dilapidieren zu sehen von unwissenden Sudlern, Lohnschreibern, Buchhändlersöldlingen, Zeitungsberichtern und dem ganzen Gelichter des Federviehs, ist mehr, als ich schweigend ertragen konnte und durfte. 
Schopenhauer

....fehlt noch die Invektive "Skribler", die er andernorts auch gerne verwendet.


Sonntag, 17. Mai 2020

Verschwörungstheorien

…. at the same time a universal appeal to conspiracy theories and a type of situation in which they are more likely to occur, even among the more rational.

To the extent that conspiracy theories fill a need for certainty, it is thought they may gain more widespread acceptance in instances when establishment or mainstream explanations contain erroneous information, discrepancies, or ambiguities (Miller, 2002). A conspiracy theory, in this sense, helps explain those ambiguities and "provides a convenient alternative to living with uncertainty" (Zarefsky). Or as Young and colleagues (1990) have put it, "The human desire for explanations of all natural phenomena - a drive that spurs inquiry on many levels - aids the conspiracist in the quest for public acceptance."

Conspiracy thinking is rooted in a desire for control and understanding, triggered by a lack of said control or ambiguous and unsatisfying information. The authors emphasize that the public often lacks access to adequate information to explain historical events (a situational factor).

Aus Steven Novella, The skeptic’s Guide to the Universe, S. 214



Sonntag, 10. Mai 2020

Abend im Schatten

"Bis jetzt habt Ihr gelebt wie ein Schwimmer oder ein Seefahrer; kommt nun zum Sterben in den Hafen. Bis jetzt verlief Euer Leben im Licht; kommt nun zum Abend in den Schatten. Ihr könnt unmöglich von den Mühen loskommen‚ wenn ihr euch nicht von dem Ziel dieser Mühen freimacht. Laßt deshalb alle Sorgen um Ruhm und Namen. Die Lüste reizen euch nicht mehr; entsagt nun auch der letzten Lust, der Lust am Beifall anderer. Was Ihr wißt und könnt, dem braucht Ihr nicht nachzutrauern; es ist nicht verloren, wenn Ihr selbst daran gewachsen seid. Nicht darauf soll es Euch ankommen, daß von Euch gesprochen wird, sondern darauf, wie Ihr selbst mit Euch fertig werdet. Zieht Euch auf Euer Inneres zurück; aber vorher bereitet dieses Euer Inneres darauf vor, daß es euch dort einen würdigen Empfang bereitet"
Seneca  in einem Brief an Lucilius

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Mittwoch, 6. Mai 2020

der Umgang mit Büchern

"…der Umgang mit Büchern, ist weit zuverlässiger und mehr unser eigen. Er tritt den ersten die anderen Vorzüge ab, doch er hat für sich die Beständigkeit und Willigkeit seiner Dienste. Dieser geht mir auf meiner ganzen Lebensbahn zur Seite und ist mir überall gewärtig. Er tröstet mich im Alter und in der Einsamkeit. Er nimmt mir die Last eines öden Müßiggangs ab und befreit mich zu jeder Stunde von verdrießlicher Gesellschaft. Er lindert den Stachel der Schmerzen, wenn sie nicht gänzlich maßlos und übermächtig sind. Um lästige Gedanken von mir abzuschütteln, brauche ich nur zu meinen Büchern zu greifen; sie lenken leicht meinen Geist auf sich und verscheuchen den Unmut. Und sie verübeln es mir nicht. zu sehen, daß ich sie nur mangels jener andern, wirklicheren, lebendigeren und natürlicheren Annehmlichkeiten aufsuche: sie empfangen mich immer mit gleicher  Freundlichkeit."
Montaigne

                      https://kumpfuz.blogspot.com/2017/10/bucher.html

Dienstag, 5. Mai 2020

Der Lauf der Welt

...im Ganzen genommen, liegt die Welt im Argen: die Wilden fressen einander und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt.
A. Schopenhauer


Montag, 4. Mai 2020

Römisches

Mag Luther der Führer und oberste Repräsentant der Christen sein, denen der Durst nach Freiheit etwas Natürliches und Selbstverständliches ist, also der Individualisten, der über Durchschnitt Differenzierten an Geist, Charakter und Gewissen - es bleibt dann doch eben jener übergroße Teil der Menschheit übrig, der lieber gehorcht als selber entscheidet, der schwachen Geistes, aber doch guten Willens ist und die Denk- und Gewissenskämpfe jener andern gar nicht kennt. Diesen Teil der Menschheit in Ordnung zu halten, am Versumpfen oder Entarten zu hindern, ihm für Leben und Sterben einen Trost zu spenden, und überdies manches schöne Fest, dazu sind Kirchen wie die von Rom gut. Sie haben Millionen geholfen, das Leben zu bestehen und schöner zu machen, und haben uns andere überdies mit den herrlichsten Architekturen, Mosaiken, Fresken und Skulpturen beschenkt, lauter Dinge, die von Protestanten zwar entweder kaputtgeschlagen oder hochgeschätzt, niemals aber geschaffen werden können.

H. Hesse


Sonntag, 26. April 2020

Abbaumethoden in den 30iger Jahren

"Die allgemeinen Abbaumotive sind immerhin durch einige besondere zu ergänzen, die gerade zur Ausschaltung der älteren Leute drängen. Schon dar· um etwa muß die Rationalisierung gern über Leichen fortgeschritteneren Alters gehen, weil diesen das höchste Tarifgehalt zusteht. Außerdem sind sie meistens verheiratet, erläutert der Sozialpolitiker einer großen Angestellten-Gewerkschaft, und haben Anspruch auf Zulagen; die mechanisierte Arbeit aber kann ebensogut von Kräften bewältigt werden, die sich ledig des Glückes der Jugend erfreuen.
Es gibt schnelle und langsame Abbaumethoden. Mögen diese feinen Nuancen gegenüber der Tatsache des Abbaus auch nicht ins Gewicht fallen, so wäre ihre Vernachlässigung doch um so weniger angebracht, als es sich ja immer um einzelne Angestellte handelt. In einer Großbank sind vor einiger Zeit einem Haufen von Maschinenmädchen Kündigungsbriefe zugeschickt worden, deren Kürze der Beschäftigungsdauer des Personals umgekehrt proportional war. Bei den lochenden Mädchen rechnet man im allgemeinen mit dem »natürlichen Abgang«; das heißt, man erwartet, daß sie von selber den Betrieb verlassen, wenn sie das Alter herannahen fühlen. Obwohl die Gekündigten schon über dreißig Jahre zählten, wankten und wichen sie nicht. Hatten sie etwa die Absicht, sich durch fortgesetztes Lochen so lange abzunutzen, bis ihnen die Extravergütung sicher gewesen wäre? Man hat ihnen eine großzügige Abfindung gewährt, aber sie werden in ihrem Alter kaum wieder unterkommen. Eine von ihnen ist neununddreißig und besitzt außer der Abfindung nur noch eine arbeitsunfähige Mutter.
Die verschiedenen Arbeitnehmer- Kategorien werden vom Abbau verschieden betroffen. Gewiß ist das Alter immer schwach konstruiert, aber die technischen Angestellten vertragen doch eine stärkere Belastung als die kaufmännischen. »In den Kalkulationsbüros«, erklärt mir ein Diplomingenieur, »bedarf man erfahrener Leute und schätzt durchaus nicht den Schneid junger Herren, die durch ihre unbilligen Forderungen nur die Arbeiter in der Werkstatt verärgern.« freilich ist er selbst ein älterer Kalkulator. Seiner Auskunft entspricht, daß die im Werkmeisterverband organisierten Werkmeister durchschnittlich über fünfzig Jahre alt sind. Auch die Betriebe haben sich nicht alle mit demselben Eifer verjüngt. Ein Spezialgeschäft zum Beispiel, in dem es auf individuelle Kundenbehandlung ankommt, ist nicht im geringsten am raschen Personalumschlag interessiert, sondern will sich die eingeübten Angestellten so lange wie möglich erhalten. Ebensowenig verschmähen ein paar mir bekannte Warenhäuser die Weisheit des Alters. Daß sie es überdies ehren, sucht der Personalchef eines Warenhauses, der gleiche, der die »moralisch-rosa Hautfarbe- als eine Annehmlichkeit empfindet, durch den Hinweis auf die Ansprache zu erhärten, die jedem Betriebsangehörigen nach fünfundzwanzigjähriger Dienstzeit zuteil wird. Die Ansprache ist mit einem Geschenk verbunden. Nicht zuletzt finden sich etliche Großbanken und Industriewerke, die darauf verzichtet haben, sich plötzlich in Jugendherbergen zu verwandeln. »Ausgesprochene Halb- und Vollidioten können wir natürlich nicht ewig mitschleppen«, meinte der Personaldirektor eines solchen Bankinstituts zum Betriebsratsvorsitzenden anläßlich der Entlassung von Veteranen, die, wie der Betriebsratsvorsitzende wiederum mir gegenüber meinte, ursprünglich durch Protektion hereingekommen waren. Am behaglichsten altert es sich begreiflicher· weise in den oberen Verwaltungsregionen, deren Bewohner sich oft durch langfristige Verträge 'und durch die Garantie stattlicher Abfindungssummen vor der Kündigung zu schützen wissen. Die atmosphärischen Entladungen in den Betrieben sind fast nie Höhengewitter."


Siegfried Kracauer, um 1930 


Kultivierte Leute

"Es war ein einfacher, ungebildeter Mann; gerade dieser Umstand macht sein Zeugnis glaubwürdig. Denn kultivierte Leute sind zwar wißbegieriger und sehen mehr, aber sie wollen alles erklären; und um ihre Deutung wahrscheinlich und für andere einleuchtend zu machen, laufen sie Gefahr, die Tatsachen etwas zu fälschen. . . . Für unseren Zweck aber muß der Berichterstatter absolut zuverlässig sein, oder so einfach, daß er nicht in der Lage ist, sich etwas auszudenken und seinen Erfindungen den Anschein der Wahrheit zu geben; er darf sich nicht in seine VorStellungen verliebt haben".
Montaigne

Samstag, 25. April 2020

Corona-Impressionen

Die Vögel warten...
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Jetzt ist eine große Zeit für Unheilspropheten angebrochen, für die mit "Ich habe es ja immer gesagt" und jene mit "Ihr werdet sehen, das wird alles noch viel schlimmer"! - Ebenso hat der Konjunktiv Hochsaison, praktisch alle Medien und "Experten" ernähren sich derzeit davon, uns zu erzählen, was alles auf uns zukommen "könnte". Aber:
„Wozu hätte der Mensch sein bißchen Vernunft, wenn er solche Proben nicht mit ihrer Hilfe bestehen könnte.“ (N. Dumba)
Ich selber bin als Pensionist und Singleton ja privilegiert: "Social distancing" fällt mir nicht schwer, ich habe sogar den Verdacht, dass es meinen klandestinen misanthropischen Neigungen entgegenkommt. Die Gastronomie muss sowieso schon seit 5 Jahren ohne mich auskommen. Um einige Opernabende bin ich "umgefallen", darunter leider auch der alljährliche Parsifal in der StOp. Auch die freudig erwartete "Cosi" unter Muti ist ins Wasser gefallen. Aber das sind alles keine Dramen, so lange ich meine Bücher habe und meinen überreichen Schatz an musikalischen Videos. Auf zwei meiner Strawanz-(Streuner-)Hobbies muss ich allerdings eine Weile verzichten: "Railway-roaming" und "rummage through flea markets". Ich halte mich schadlos, indem ich täglich den praktisch vor meiner Haustür liegenden Volksprater ausgiebig durchstreife, sozusagen meinen inneren Schweinehund äußerln führe - häufig bis zum Heustadelwasser:

Weitere fotografische Impressionen:
             https://photos.app.goo.gl/Niuz7exLk32uiHdU8
von meinen Streifzügen in und rund um Wien.

Es gibt viele Opfer dieser Krise: Einmal mehr und noch stärker als je zuvor zählt dazu die Wissenschaft der Statistik. Sie wird tagtäglich in schändlichster Weise von den Journalisten missbraucht. Sie wird aber auch von einigen "Experten" wissentlich auf den Strich geschickt. Man kann es kaum glauben: Fast immer werden die absoluten Todesfall-Zahlen der verschiedenen Länder zum Vergleich herangezogen, ohne jeden Bezug zur Bevölkerungszahl. Hier zeigt sich so deutlich wie sonst kaum, dass es den Medien nur auf den Schock-Effekt ankommt und nicht auf die Realität. Und wenn sie schon einmal Relativzahlen bringen, dann in der überaus beliebten schlichten %-Form und auch diese wird in 2/3 der Fälle noch falsch angewendet. Ganz abgesehen davon ist jede "wissenschaftliche" Prognose wertlos, wenn nicht der Grad der Wahrscheinlichkeit mit angeführt wird.  Ganz schlimm treiben sie es mit den überaus beliebten Diagrammen, wo sie heute die Y-Achse so unterteilen und morgen so - immer zum gleichen Sachverhalt! - um die den gewünschten WOW-Effekt zu erreichen. Bei den Wetterprognosen praktizieren sie das ja seit langem ohnehin. Das ist die Form der "Lügenpresse", die den wenigsten überhaupt auffällt und die mich am meisten stört.
😕😠😫
In Zeiten wie diesen treten sowohl positive als auch negative Seiten der Menschen stärker hervor. Und wie immer fallen letztere viel mehr auf: Besserwisser,  Mahner, Maßregler, Volkserzieher und jede Menge selbsternannter deputies drängen sich penetrant nach vorne und die Medien geben ihnen bereitwilligst ein Forum (s. u. *). 
Und dann natürlich die Politik: Natürlich ist es für die Oppositionsparteien, speziell für die SPÖ, fatal, dass sich die ganze Aufmerksamkeit der Medien und der Bürger auf die Regierenden richtet. Das muss speziell den Wiener Sozialdemokraten chronisches Bauchgrimmen verursachen. Ihre verzweifelten Versuche, dagegen zu halten, wirken verkrampft und wenig überzeugend. Dabei ist es "noch ein Glück", dass die Grünen in der Regierung sind. Damit müssen sich die linksaffinen Krakeeler, die obstinaten Gegen-die-Einbahn-Fahrer sowie die notorischen Kurz-Hasser ein wenig zurückhalten, zumindest was eine aktive manifeste "Gehorsamsverweigerung" betrifft ... umso lauter das Geschrei in den einschlägigen Foren. Am unsinnigsten verhält sich wieder einmal die FPÖ, vor allem wenn man bedenkt, was ein Innenminister Kickl in so einer Situation aufgeführt hätte - das wäre ganz sicherlich sehr viel weniger moderat gewesen. Aber so unglaubhaft etwas auch ist, es gibt immer Leute, die es gerne glauben. Und natürlich blühen überall heftig Neurosen und  http://kumpfuz.blogspot.com/2020/05/verschworungstheorien.html
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Ende Mai 2020: Es sind gut 2 Monate vergangen und die üblichen "Obergscheiten" beginnen sich wieder zu "derappeln" und zetern lautstark darüber, was die Regierenden alles falsch gemacht haben und noch machen. Und natürlich dürfen auch "Demos gegen Corona" nicht fehlen. Entscheidend ist aber doch nur, dass die Verantwortlichen bei Ausbruch der Pandemie rasch und konsequent gehandelt haben. Hätten sie alles richtig gemacht, so müssten wir sie bei Lebzeiten schon heiligsprechen. Klar, es muß Kritik geben - aber was man derzeit aus manchen Medien und auch aus dem Parlament zu Gesicht und Gehör bekommt, ist sehr selten konstruktiv, sondern riecht deutlich nach ohnmächtiger Wut, nach Hass und Neid.
Und alle schreien nach Geld, Geld, Geld ... nur:  die es am härtesten getroffen hat, nämlich die letzten in der Beschäftigungskette (das sog. Prekariat), haben keine Stimme, die man in dem großen Jammergeschrei hört. Sicher hat es auch viele freischaffende Künstler - also die nicht prominenten - arg erwischt, aber die können sich Gehör verschaffen, weil sie sie ja ohnehin mit den Medien in einem Zug sitzen.
Extrem widerlich ist, wie manche Unternehmer die Krise nutzen, um "einzusparen"; eine bessere Gelegenheit, sang- und klanglos Arbeitskräfte kräftig abzubauen, wird es nicht so bald wieder geben. Aber sie fordern naürlich Hilfe vom Staat. Zum Kotzen!

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Und nun haben wir Ende März 2021, sind kurz vor Ostern und haben schon wieder einen "harten Lockdown". Die Nerven der meisten Leute liegen blank und sogar so besonnene Journalisten wie W. Hämmerle von der WZ verlieren die Contenance und werfen der Regierung Kopflosigkeit vor. Obwohl phantasiebegabt kann ich mir doch nicht vorstellen, dass eine andere Crew auf der Brücke viel anders agieren könnte. Auch sie müsste von den Experten den Most holen und Experten sind notorisch uneins. Zudem irren sie sich auch häufig, vor allem, wenn es um Voraussagen für die Zukunft geht; sie nennen es Modelle. Selbst in der Darstellung der Wirklichkeit liegen sie oft weit auseinander und schänden dazu die Wissenschaft der Statistik auf mannigfaltigste Weise. Kurz gesagt: Auch die Alternativen der Opposition, sofern sie überhaupt welche anbietet, sind stark auf Glauben gegründet. Am einfachsten haben es diejenigen, die gegen alles sind und das auch noch als eine besonders originelle Form des Denkens verkaufen. 


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*) Warum ich mir weitgehende Info-Medienabstinenz verordnet habe:

Die Dosis macht das Gift 

 In Anlehnung an diesen Leitspruch des berühmten Schweizer Alchemisten Paracelsus aus dem 16. Jahrhundert muss in der jetzigen Coronavirus-Krise auf ein Phänomen aufmerksam gemacht werden, das ein zusätzliches Belastungsmoment darstellt: Die Tendenz zur Reizüberflutung mit ihren negativen Folgeerscheinungen auf Körper und Seele ist ein ernstzunehmender, belastender Co-Faktor für unsere Gesundheit. Das Bestreben, sich in einer Ausnahmesituation wie der gegenwärtigen zu informieren und allgemein am Laufenden zu bleiben, ist verständlich. Nur ist der Grat zwischen notwendiger Informationsbeschaffung und dem Kniefall vor medialen Überangeboten mitunter äußerst schmal. Das Mehr an freier Zeit lässt Verhaltensmuster in den Vordergrund treten, die durch das übermäßige Konsumieren von diversen Berichten, Dokus oder Expertenaussagen geprägt sind. Die Sehnsucht nach Aufklärung kann rasch zur Sucht werden, weil die durch TV, Radio, Internet und soziale Medien bereitgestellten Botschaften bei den Empfängern häufig genau das Gegenteil von Klarheit bewirken und auf diese Weise der unstillbare Hunger nach fundierten Antworten bestehen bleibt. Eine Konsequenz daraus sind Unmengen an Bildern, Texten und Stellungnahmen, die geistig unverdaut in die Nacht „mitgenommen" werden und teils massive Schlafstörungen provozieren können. Die Folgen eines nicht erholsamen Schlafs über einen längeren Zeitraum im Klartext: Störung des Energiehaushaltes inklusive ungünstige Effekte auf unser Immunsystem, gereizte Stimmungslage und reduzierte allgemeine Belastbarkeit.

 

Aus NÖN. Dr. Bernhaut ist Psychiater und Psychoonkologe. Mittlerweile arbeitet er als Buchautor und Publizist.