Donnerstag, 8. August 2019

Volksherrschaft

"Ich vertrete also die Ansicht, daß das Wichtigste einer demokratischen Regierungsform darin besteht, daß sie es ermöglicht, die Regierung ohne Blutvergießen abzusetzen, worauf eine neue Regierung die Zügel übernimmt. Es scheint verhältnismäßig unwichtig, wie diese Absetzung zustande kommt - ob durch Neuwahl oder durch den Bundestag-, solange der Beschluß der einer Majorität ist, entweder von Wählern oder deren Vertretern oder auch von Richtern eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofes. 
Bei einem Regierungswechsel ist diese negative Macht, die Drohung mit Entlassung, das Wichtige. Eine positive Macht zur Einsetzung einer Regierung oder ihres Chefs ist ein verhältnismäßig unwichtiges Korrelat. Das ist leider nicht die gängige Ansicht. Und zu einem gewissen Grad ist die falsche Betonung der Neueinsetzung gefährlich: Die Einsetzung der Regierung kann interpretiert werden als eine Lizenzerteilung durch die Wähler, eine Legitimierung im Namen des Volkes und durch den »Willen des Volkes«. Aber was wissen wir und was weiß das Volk, welchen Fehler - ja, welches Verbrechen - die von ihm gewählte Regierung morgen begehen wird?
Wir können eine Regierung oder eine Politik im nachhinein beurteilen und vielleicht unsere Zustimmung geben und sie wiederwählen. Im vorhinein können sie vielleicht unser Vertrauen haben; aber wir wissen nichts, wir können nicht wissen, wir kennen sie nicht; und wir dürfen darum nicht voraussetzen, daß sie unser Vertrauen nicht mißbrauchen werden.
Nach dem Bericht von Thukydides hat Perikles diese Gedanken in einfachster Weise formuliert:  »Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen.«
Ich halte diese knappe Formulierung für grundlegend und möchte sie wiederholen. Es ist zu beachten, daß hier die Idee einer Herrschaft des Volkes, ja sogar die Idee einer Initiative durch das Volk abgelehnt werden. Sie werden durch die ganz andere Idee einer Beurteilung durch das Volk ersetzt.
Perikles hat hier in aller Kürze gesagt, warum das Volk nicht regieren kann, auch wenn es sonst keine Schwierigkeiten gäbe. Ideen, insbesondere neue Ideen, können nur das Werk von einzelnen sein, vielleicht geklärt und verbessert in der Zusammenarbeit mit einigen wenigen anderen. Viele können wohl nachher sehen - insbesondere dann, wenn sie die Folgen durchlebt haben, zu denen diese Ideen geführt haben-, ob sie gut waren oder nicht. Und solche Beurteilungen, solche »ja-Nein-Beschlüsse«, können auch von einer großen Wählerschaft durchgeführt werden.
Ein Ausdruck wie »Volksinitiative « ist daher irreführend und propagandistisch. Es ist in der Regel eine Initiative von wenigen, die sie bestenfalls dem Volk zur kritischen Beurteilung vorlegen. Und es ist daher in solchen Fällen wichtig, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht hinausgehen über die Kompetenz der Wählerschaft, sie zu beurteilen.
Bevor ich diese Dinge verlasse, möchte ich noch auf eine Gefahr aufmerksam machen, die dadurch entsteht, daß man das Volk und die Kinder lehrt, daß sie in einer Volksherrschaft leben - also etwas, was nicht wahr ist (und gar nicht wahr sein kann). Da sie das bald sehen, werden sie nicht nur unzufrieden, sondern sie fühlen sich belogen: Sie wissen ja nichts über die traditionelle verbale Verworrenheit. Das kann schlimme weltanschauliche und politische Konsequenzen haben und bis zum Terrorismus führen. In der Tat, ich bin solchen Fällen begegnet.
Wie wir gesehen haben, sind wir alle bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für die Regierung, obwohl wir nicht mitregieren. Aber unsere Mitverantwortlichkeit verlangt Freiheit - viele Freiheiten: Redefreiheit; Freiheit des Zugangs zu Informationen und Freiheit, Informationen geben zu dürfen; Publikationsfreiheit und viele andere mehr. Ein »Zuviel« des Staates führt zu Unfreiheit. Aber es gibt auch ein »Zuviel« der Freiheit. Es gibt leider einen Mißbrauch der Freiheit, analog zu einem Mißbrauch der Staatsgewalt. Redefreiheit und Publikationsfreiheit können mißbraucht werden. Sie können zum Beispiel zu Fehlinformationen und zur Verhetzung benutzt werden. Und in genau analoger Weise kann jede Beschränkung der Freiheit durch die Staatsmacht mißbraucht werden.
Wir brauchen die Freiheit, um den Mißbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Mißbrauch der Freiheit zu verhindern. Das ist ein Problem, das offenbar niemals abstrakt und prinzipiell niemals durch Gesetze ganz gelöst werden kann. Es braucht einen Staatsgerichtshof und, mehr als alles andere, einen guten Willen.
Wir brauchen diese Einsicht, daß dieses Problem nie ganz zu lösen ist; oder genauer, daß es nur in einer Diktatur ganz zu lösen ist mit ihrer prinzipiellen Omnipotenz des Staates, die wir aus moralischen Gründen ablehnen müssen. Wir müssen uns mit Teillösungen und Kompromissen abfinden; und wir dürfen uns nicht von unserer Vorliebe für die Freiheit verleiten lassen, die Probleme ihres Mißbrauchs zu übersehen."
 
Aus einem Vortrag von K. R. Popper

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