Sonntag, 26. April 2020

Abbaumethoden in den 30iger Jahren

"Die allgemeinen Abbaumotive sind immerhin durch einige besondere zu ergänzen, die gerade zur Ausschaltung der älteren Leute drängen. Schon dar· um etwa muß die Rationalisierung gern über Leichen fortgeschritteneren Alters gehen, weil diesen das höchste Tarifgehalt zusteht. Außerdem sind sie meistens verheiratet, erläutert der Sozialpolitiker einer großen Angestellten-Gewerkschaft, und haben Anspruch auf Zulagen; die mechanisierte Arbeit aber kann ebensogut von Kräften bewältigt werden, die sich ledig des Glückes der Jugend erfreuen.
Es gibt schnelle und langsame Abbaumethoden. Mögen diese feinen Nuancen gegenüber der Tatsache des Abbaus auch nicht ins Gewicht fallen, so wäre ihre Vernachlässigung doch um so weniger angebracht, als es sich ja immer um einzelne Angestellte handelt. In einer Großbank sind vor einiger Zeit einem Haufen von Maschinenmädchen Kündigungsbriefe zugeschickt worden, deren Kürze der Beschäftigungsdauer des Personals umgekehrt proportional war. Bei den lochenden Mädchen rechnet man im allgemeinen mit dem »natürlichen Abgang«; das heißt, man erwartet, daß sie von selber den Betrieb verlassen, wenn sie das Alter herannahen fühlen. Obwohl die Gekündigten schon über dreißig Jahre zählten, wankten und wichen sie nicht. Hatten sie etwa die Absicht, sich durch fortgesetztes Lochen so lange abzunutzen, bis ihnen die Extravergütung sicher gewesen wäre? Man hat ihnen eine großzügige Abfindung gewährt, aber sie werden in ihrem Alter kaum wieder unterkommen. Eine von ihnen ist neununddreißig und besitzt außer der Abfindung nur noch eine arbeitsunfähige Mutter.
Die verschiedenen Arbeitnehmer- Kategorien werden vom Abbau verschieden betroffen. Gewiß ist das Alter immer schwach konstruiert, aber die technischen Angestellten vertragen doch eine stärkere Belastung als die kaufmännischen. »In den Kalkulationsbüros«, erklärt mir ein Diplomingenieur, »bedarf man erfahrener Leute und schätzt durchaus nicht den Schneid junger Herren, die durch ihre unbilligen Forderungen nur die Arbeiter in der Werkstatt verärgern.« freilich ist er selbst ein älterer Kalkulator. Seiner Auskunft entspricht, daß die im Werkmeisterverband organisierten Werkmeister durchschnittlich über fünfzig Jahre alt sind. Auch die Betriebe haben sich nicht alle mit demselben Eifer verjüngt. Ein Spezialgeschäft zum Beispiel, in dem es auf individuelle Kundenbehandlung ankommt, ist nicht im geringsten am raschen Personalumschlag interessiert, sondern will sich die eingeübten Angestellten so lange wie möglich erhalten. Ebensowenig verschmähen ein paar mir bekannte Warenhäuser die Weisheit des Alters. Daß sie es überdies ehren, sucht der Personalchef eines Warenhauses, der gleiche, der die »moralisch-rosa Hautfarbe- als eine Annehmlichkeit empfindet, durch den Hinweis auf die Ansprache zu erhärten, die jedem Betriebsangehörigen nach fünfundzwanzigjähriger Dienstzeit zuteil wird. Die Ansprache ist mit einem Geschenk verbunden. Nicht zuletzt finden sich etliche Großbanken und Industriewerke, die darauf verzichtet haben, sich plötzlich in Jugendherbergen zu verwandeln. »Ausgesprochene Halb- und Vollidioten können wir natürlich nicht ewig mitschleppen«, meinte der Personaldirektor eines solchen Bankinstituts zum Betriebsratsvorsitzenden anläßlich der Entlassung von Veteranen, die, wie der Betriebsratsvorsitzende wiederum mir gegenüber meinte, ursprünglich durch Protektion hereingekommen waren. Am behaglichsten altert es sich begreiflicher· weise in den oberen Verwaltungsregionen, deren Bewohner sich oft durch langfristige Verträge 'und durch die Garantie stattlicher Abfindungssummen vor der Kündigung zu schützen wissen. Die atmosphärischen Entladungen in den Betrieben sind fast nie Höhengewitter."


Siegfried Kracauer, um 1930 


Kultivierte Leute

"Es war ein einfacher, ungebildeter Mann; gerade dieser Umstand macht sein Zeugnis glaubwürdig. Denn kultivierte Leute sind zwar wißbegieriger und sehen mehr, aber sie wollen alles erklären; und um ihre Deutung wahrscheinlich und für andere einleuchtend zu machen, laufen sie Gefahr, die Tatsachen etwas zu fälschen. . . . Für unseren Zweck aber muß der Berichterstatter absolut zuverlässig sein, oder so einfach, daß er nicht in der Lage ist, sich etwas auszudenken und seinen Erfindungen den Anschein der Wahrheit zu geben; er darf sich nicht in seine VorStellungen verliebt haben".
Montaigne

Samstag, 25. April 2020

Corona-Impressionen

Die Vögel warten...
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Jetzt ist eine große Zeit für Unheilspropheten angebrochen, für die mit "Ich habe es ja immer gesagt" und jene mit "Ihr werdet sehen, das wird alles noch viel schlimmer"! - Ebenso hat der Konjunktiv Hochsaison, praktisch alle Medien und "Experten" ernähren sich derzeit davon, uns zu erzählen, was alles auf uns zukommen "könnte". Aber:
„Wozu hätte der Mensch sein bißchen Vernunft, wenn er solche Proben nicht mit ihrer Hilfe bestehen könnte.“ (N. Dumba)
Ich selber bin als Pensionist und Singleton ja privilegiert: "Social distancing" fällt mir nicht schwer, ich habe sogar den Verdacht, dass es meinen klandestinen misanthropischen Neigungen entgegenkommt. Die Gastronomie muss sowieso schon seit 5 Jahren ohne mich auskommen. Um einige Opernabende bin ich "umgefallen", darunter leider auch der alljährliche Parsifal in der StOp. Auch die freudig erwartete "Cosi" unter Muti ist ins Wasser gefallen. Aber das sind alles keine Dramen, so lange ich meine Bücher habe und meinen überreichen Schatz an musikalischen Videos. Auf zwei meiner Strawanz-(Streuner-)Hobbies muss ich allerdings eine Weile verzichten: "Railway-roaming" und "rummage through flea markets". Ich halte mich schadlos, indem ich täglich den praktisch vor meiner Haustür liegenden Volksprater ausgiebig durchstreife, sozusagen meinen inneren Schweinehund äußerln führe - häufig bis zum Heustadelwasser:

Weitere fotografische Impressionen:
             https://photos.app.goo.gl/Niuz7exLk32uiHdU8
von meinen Streifzügen in und rund um Wien.

Es gibt viele Opfer dieser Krise: Einmal mehr und noch stärker als je zuvor zählt dazu die Wissenschaft der Statistik. Sie wird tagtäglich in schändlichster Weise von den Journalisten missbraucht. Sie wird aber auch von einigen "Experten" wissentlich auf den Strich geschickt. Man kann es kaum glauben: Fast immer werden die absoluten Todesfall-Zahlen der verschiedenen Länder zum Vergleich herangezogen, ohne jeden Bezug zur Bevölkerungszahl. Hier zeigt sich so deutlich wie sonst kaum, dass es den Medien nur auf den Schock-Effekt ankommt und nicht auf die Realität. Und wenn sie schon einmal Relativzahlen bringen, dann in der überaus beliebten schlichten %-Form und auch diese wird in 2/3 der Fälle noch falsch angewendet. Ganz abgesehen davon ist jede "wissenschaftliche" Prognose wertlos, wenn nicht der Grad der Wahrscheinlichkeit mit angeführt wird.  Ganz schlimm treiben sie es mit den überaus beliebten Diagrammen, wo sie heute die Y-Achse so unterteilen und morgen so - immer zum gleichen Sachverhalt! - um die den gewünschten WOW-Effekt zu erreichen. Bei den Wetterprognosen praktizieren sie das ja seit langem ohnehin. Das ist die Form der "Lügenpresse", die den wenigsten überhaupt auffällt und die mich am meisten stört.
😕😠😫
In Zeiten wie diesen treten sowohl positive als auch negative Seiten der Menschen stärker hervor. Und wie immer fallen letztere viel mehr auf: Besserwisser,  Mahner, Maßregler, Volkserzieher und jede Menge selbsternannter deputies drängen sich penetrant nach vorne und die Medien geben ihnen bereitwilligst ein Forum (s. u. *). 
Und dann natürlich die Politik: Natürlich ist es für die Oppositionsparteien, speziell für die SPÖ, fatal, dass sich die ganze Aufmerksamkeit der Medien und der Bürger auf die Regierenden richtet. Das muss speziell den Wiener Sozialdemokraten chronisches Bauchgrimmen verursachen. Ihre verzweifelten Versuche, dagegen zu halten, wirken verkrampft und wenig überzeugend. Dabei ist es "noch ein Glück", dass die Grünen in der Regierung sind. Damit müssen sich die linksaffinen Krakeeler, die obstinaten Gegen-die-Einbahn-Fahrer sowie die notorischen Kurz-Hasser ein wenig zurückhalten, zumindest was eine aktive manifeste "Gehorsamsverweigerung" betrifft ... umso lauter das Geschrei in den einschlägigen Foren. Am unsinnigsten verhält sich wieder einmal die FPÖ, vor allem wenn man bedenkt, was ein Innenminister Kickl in so einer Situation aufgeführt hätte - das wäre ganz sicherlich sehr viel weniger moderat gewesen. Aber so unglaubhaft etwas auch ist, es gibt immer Leute, die es gerne glauben. Und natürlich blühen überall heftig Neurosen und  http://kumpfuz.blogspot.com/2020/05/verschworungstheorien.html
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Ende Mai 2020: Es sind gut 2 Monate vergangen und die üblichen "Obergscheiten" beginnen sich wieder zu "derappeln" und zetern lautstark darüber, was die Regierenden alles falsch gemacht haben und noch machen. Und natürlich dürfen auch "Demos gegen Corona" nicht fehlen. Entscheidend ist aber doch nur, dass die Verantwortlichen bei Ausbruch der Pandemie rasch und konsequent gehandelt haben. Hätten sie alles richtig gemacht, so müssten wir sie bei Lebzeiten schon heiligsprechen. Klar, es muß Kritik geben - aber was man derzeit aus manchen Medien und auch aus dem Parlament zu Gesicht und Gehör bekommt, ist sehr selten konstruktiv, sondern riecht deutlich nach ohnmächtiger Wut, nach Hass und Neid.
Und alle schreien nach Geld, Geld, Geld ... nur:  die es am härtesten getroffen hat, nämlich die letzten in der Beschäftigungskette (das sog. Prekariat), haben keine Stimme, die man in dem großen Jammergeschrei hört. Sicher hat es auch viele freischaffende Künstler - also die nicht prominenten - arg erwischt, aber die können sich Gehör verschaffen, weil sie sie ja ohnehin mit den Medien in einem Zug sitzen.
Extrem widerlich ist, wie manche Unternehmer die Krise nutzen, um "einzusparen"; eine bessere Gelegenheit, sang- und klanglos Arbeitskräfte kräftig abzubauen, wird es nicht so bald wieder geben. Aber sie fordern naürlich Hilfe vom Staat. Zum Kotzen!

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Und nun haben wir Ende März 2021, sind kurz vor Ostern und haben schon wieder einen "harten Lockdown". Die Nerven der meisten Leute liegen blank und sogar so besonnene Journalisten wie W. Hämmerle von der WZ verlieren die Contenance und werfen der Regierung Kopflosigkeit vor. Obwohl phantasiebegabt kann ich mir doch nicht vorstellen, dass eine andere Crew auf der Brücke viel anders agieren könnte. Auch sie müsste von den Experten den Most holen und Experten sind notorisch uneins. Zudem irren sie sich auch häufig, vor allem, wenn es um Voraussagen für die Zukunft geht; sie nennen es Modelle. Selbst in der Darstellung der Wirklichkeit liegen sie oft weit auseinander und schänden dazu die Wissenschaft der Statistik auf mannigfaltigste Weise. Kurz gesagt: Auch die Alternativen der Opposition, sofern sie überhaupt welche anbietet, sind stark auf Glauben gegründet. Am einfachsten haben es diejenigen, die gegen alles sind und das auch noch als eine besonders originelle Form des Denkens verkaufen. 


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*) Warum ich mir weitgehende Info-Medienabstinenz verordnet habe:

Die Dosis macht das Gift 

 In Anlehnung an diesen Leitspruch des berühmten Schweizer Alchemisten Paracelsus aus dem 16. Jahrhundert muss in der jetzigen Coronavirus-Krise auf ein Phänomen aufmerksam gemacht werden, das ein zusätzliches Belastungsmoment darstellt: Die Tendenz zur Reizüberflutung mit ihren negativen Folgeerscheinungen auf Körper und Seele ist ein ernstzunehmender, belastender Co-Faktor für unsere Gesundheit. Das Bestreben, sich in einer Ausnahmesituation wie der gegenwärtigen zu informieren und allgemein am Laufenden zu bleiben, ist verständlich. Nur ist der Grat zwischen notwendiger Informationsbeschaffung und dem Kniefall vor medialen Überangeboten mitunter äußerst schmal. Das Mehr an freier Zeit lässt Verhaltensmuster in den Vordergrund treten, die durch das übermäßige Konsumieren von diversen Berichten, Dokus oder Expertenaussagen geprägt sind. Die Sehnsucht nach Aufklärung kann rasch zur Sucht werden, weil die durch TV, Radio, Internet und soziale Medien bereitgestellten Botschaften bei den Empfängern häufig genau das Gegenteil von Klarheit bewirken und auf diese Weise der unstillbare Hunger nach fundierten Antworten bestehen bleibt. Eine Konsequenz daraus sind Unmengen an Bildern, Texten und Stellungnahmen, die geistig unverdaut in die Nacht „mitgenommen" werden und teils massive Schlafstörungen provozieren können. Die Folgen eines nicht erholsamen Schlafs über einen längeren Zeitraum im Klartext: Störung des Energiehaushaltes inklusive ungünstige Effekte auf unser Immunsystem, gereizte Stimmungslage und reduzierte allgemeine Belastbarkeit.

 

Aus NÖN. Dr. Bernhaut ist Psychiater und Psychoonkologe. Mittlerweile arbeitet er als Buchautor und Publizist. 




Rat

"Ich kann an meinen Fehlern und meinen Mißgeschicken kaum jemand anderem als mir Schuld geben. Denn ich hole mir selten Rat bei andern, es sei denn anstands- und ehrenhalber, ausgenommen wenn ich sachliche Belehrung oder Aufschluß über Tatsachen bedarf. Aber in Dingen, in denen ich nur meine Urteilskraft zu gebrauchen habe, können fremde Erwägungen zwar dazu dienen, mich zu bestärken, aber selten, mich umzustimmen.  Ich gebe wenig auf meine Meinungen. aber ich gebe auch wenig auf die der andern.  Wenn ich keinen Rat nehme, so gebe ich erst recht keinen. "
Montaigne

Mittwoch, 1. April 2020

Symbole II

„Situationen sind oft symbolisch; es ist die Schwäche der jetzigen Menschen, daß sie sie analytisch behandeln und dadurch das Zauberische auflösen.“ 
H. v. Hofmannsthal
"Ich glaube, daß die Elite und beste Lebenskraft des Christentums immer bei denen liegt, denen das Formulierte schal zu werden droht, und daß trotzdem die ersehnten neuen Ordnungen nur die alten sind, und daß die alten Formulierungen in dem Maß ihren lebendigen Zauber wiedergewinnen, als der Suchende bereit ist, die Formel als Symbol anzunehmen."
H. Hesse

"....die ungeheuerliche Tatsache, daß die Sphäre des Absoluten nur durch ihre Fleischwerdung im Banalen faßbar wird"
G. Henniger