Dienstag, 15. September 2020

Genußunfähig?

»In der Musik bin ich fast genußunfähig«‚ heißt es in einem Bekenntnis  Sigmund Freuds. Weshalb? Kunstwerke »erfassen« heißt: »mir begreiflich machen, wodurch sie wirken«. Aber muß man Kunst "erfassen", um sie zu genießen? Eine Wirkung vor diesem Sich-begreiflich-Machen zog er offenbar nicht in Betracht; Kunstgenuß war ihm erst möglich, nachdem er begriffen hatte, warum er berührt worden war. Man könnte einfacher sagen: er wurde gar nicht ursprünglich berührt. Er brauchte die Rationalisierung des Eindrucks als Vermittler zum Genuß. Erst die Einordnung schuf das Erlebnis. 

... es kommt bei der Musik besonders deutlich diese Unfähigkeit heraus, weil ihr prinzipiell fehlt (wenn man von dem bißchen TonMalerei absieht), was Freud den »Inhalt« nennt. Dieser Inhalt besteht in allen andern Künsten fast ausschließlich aus Elementen, welche Reales abbilden -zum Beispiel Formen, Farben, Gegenstände und Kreaturen; außerdem noch aus Begriffen. Reales und Begriffliches kann man be-greifen und begreifen; die Musik allein hat diese Elemente nicht. Freuds Vorstellung, daß die Freude am "Begreifen" eines Kunstwerks -Kunstgenuß ist, beweist, wie wenig er diesen spezifischen Genuß kannte. 

Ludwig Marcuse

Ich halte das für eine überzeugend gelungene Beschreibung jener Leute, die "Genuß" am Opern-Regietheater haben.


😝

Dazu ein Leserbrief von mir aus 2018:

 Im Musiktheater ist Regie heute wichtiger als Musik

Die Regisseure heften sich ihre Buhs an die Brust wie die russischen Generäle ihre Orden. Speziell was das Musiktheater betrifft, kalkulieren die Intendanten: Diejenigen, welche wegen der Musik kommen, kommen sowieso. Deshalb konzentrieren sie sich auf jene mit anderen Prioritäten.

Ich persönlich gehe nicht in die Oper um des intellektuellen Vergnügens willen, sondern sitze oder stehe dort "mit sinnlichem Interesse und geistiger Aufmerksamkeit" (Zitat Thomas Mann). Unbeschreiblich auf die Nerven gehen mir "Regisseure, die nicht eigentlich ein Stück, sondern ihren Kommentar zum Stück inszenieren" (Zitat Friedrich Dürrenmatt), auf Wienerisch gesagt: mir irgendwas "einidruckn" wollen.


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