Freitag, 8. Juli 2016

Musil über die Psychoanalyse

Der bedrohte Oedipus
Obwohl boshaftig und einseitig, erhebt diese Kritik keinen Anspruch
auf wissenschaftliche Objektivität.
Hatte der antike Mensch seine Skylla und seine Charybdis, so
hat der moderne Mensch den Wassermann und den Oedipus; denn
wenn es ihm gelungen ist, ersteren zu vermeiden und mit Erfolg
einen Nachkommen auf die Beine zu stellen, kann er desto sicherer
damit rechnen, daß diesen der zweite holt. Man darf wohl sagen,
daß ohne Oedipus heute so gut wie nichts möglich ist, nicht das
Familienleben und nicht die Baukunst.
Da ich selbst ohne Oedipus aufgewachsen bin, kann ich mich natür-
lich nur mit großer Vorsicht über diese Fragen äußern, aber ich
bewundere die Methoden der Psychoanalyse. Ich erinnere mich aus
meiner Jugendzeit an das Folgende: Wenn einer von uns Knaben
von einem anderen mit Beschimpfungen so überhäuft wurde, daß
ihm beim besten Willen nichts einfiel, den Angriff mit gleicher
Kraft zu erwidern, so gebrauchte er einfach das Wörtchen „selbst“,
das, in den kurzen Atempausen des anderen eingeschaltet, auf kur-
zem Weg alle Beleidigungen umkehrte und zurückschickte. Und ich
habe mich sehr gefreut, als ich beim Studium der psychoanalytischen
Literatur Wahrnehmen konnte, daß man allen Personen, die vor-
geben, daß sie nicht an die Unfehlbarkeit der Psychoanalyse glau-
ben, sofort nachweist, daß sie ihre Ursachen dazu hätten, die natür-
lich wieder nur psychoanalytischer Natur seien. Es ist das ein schö-
ner Beweis dafür, daß auch die wissenschaftlichen Methoden schon
vor der Pubertät erworben werden.
Erinnert die Heilkunde aber durch diesen Gebrauch der „Retour-
kutsche“ an die herrliche alte Zeit der Postreisen, so tut sie das
zwar unbewußt, doch beileibe nicht ohne tiefenpsychologischen Zu-
sammenhang. Denn es ist eine ihrer größten Leistungen, daß sie
inmitten des Zeitmangels der Gegenwart zu einer gemächlichen
Verwendung der Zeit erzieht, geradezu einer sanften Verschwen-
dung dieses flüchtigen Naturprodukts. Man weiß, sobald man sich
in die Hände des Seelenverbesserers begeben hat, bloß, daß die Be~
handlung sicher einmal ein Ende haben wird, begnügt sich aber
ganz und gar mit den Fortschritten. Ungeduldige Patienten lassen
sich zwar schnell von ihrer Neurose befreien und beginnen dann
sofort mit einer neuen, doch wer auf den rechten Genuß der Psycho-
analyse gekommen ist, der hat es nicht so eilig. Aus der Hast des
Tages tritt er in das Zimmer eines Freundes, und möge außen die
Welt an ihren mechanischen Energien zerplatzen, hier gibt es noch
gute alte Zeit. Teilnahmsvoll wird man gefragt, wie man geschla-
fen und was man geträumt habe. Dem Familiensinn, den das heutige
Leben sonst schon arg vernachlässigt, wird seine natürliche Bedeu-
tμng zurückgegeben, und man erfährt, daß es gar nicht lächerlich
erscheint, was Tante Guste gesagt hat, als das Dienstmädchen den
Teller zerbrach, sondern, richtig betrachtet, aufschlußreicher ist als
ein Ausspruch von Goethe. Und wir können ganz davon absehen,
daß es auch nicht unangenehm sein soll, von dem Vogel, den man
im Kopf hat, zu sprechen, namentlich wenn dieser Vogel ein Storch
ist. Denn wichtiger als alles einzelne und schlechthin das Wichtigste
ist es, daß sich der Mensch, sanft magnetisch gestreichelt, bei solcher
Behandlung wieder als das Maß aller Dinge fühlen lernt. Man hat
ihm durch Jahrhunderte erzählt, daß er sein Verhalten einer Kul-
tur schuldig sei, die viel mehr bedeutete als er selbst; und als wir
die Kultur im letzten Menschenalter zum größten Teil doch end-
lich losgeworden sind, war es wieder das Überhandnehmen der
Neuerungen und Erfindungen, neben dem sich der einzelne als ein
Nichts vorkam: Nun aber faßt die Psychoanalyse diesen verküm-
merten Einzelnen bei der Hand und beweist ihm, daß er nur Mut
haben müsse und Keimdrüsen. Möge sie nie ein Ende finden! Das
x ist mein Wunsch als Laie; aber ich glaube, er deckt sich mit dem
der Sachverständigen.
Ich werde darum von einer Vermutung beunruhigt, die ja mög-
licherweise nur meiner Laienhaftigkeit entspringt, vielleicht aber
doch richtig ist. Denn soviel ich weiß, steht heute der vorhin er-
wähnte Oedipuskomplex mehr denn je im Mittelpunkt der Theorie;
fast alle Erscheinungen werden auf ihn zurückgeführt, und ich be-
fürchte, daß es nach ein bis zwei Menschenfolgen keinen Oedipus
mehr geben wird! Man mache sich klar, daß er der Natur des klei-
nen Menschen entspringt, der im Schoße der Mutter sein Vergnügen
finden und auf den Vater, der ihn von dort verdrängt, eifersüchtig
sein soll. Was nun, wenn die Mutter keinen Schoß mehr hat? Schon
ersieht man, wohin das zielt: Schoß ist ja nicht nur jene Körper-
gegend, für die das Wort im engsten Sinne geschaffen ist; sondern
diese bedeutet psychologisch das ganze brütend Mütterliche der Frau,
der Busen, das wärmende Fett, die beruhigende und hegende Weich-
heit, ja es bedeutet nicht mit Unrecht sogar auch den Rock, dessen
breite Falten ein geheimnisvolles Nest bilden. In diesem Sinn stam-
men die grundlegenden Erlebnisse der Psychoanalyse bestimmt von
den Kleidern der siebziger und achtziger Jahre ab und nicht vom
Skikostüm. Und nun gar bei Betrachtung im Badetrikot: Wo ist
heute der Schoß? Wenn ich mir die psychoanalytische Sehnsucht,
embryonal zu ihm zurückzufinden, an den laufenden und crawlen-
den Mädchen- und Frauenkörpern vorzustellen versuche, die heute
an der Reihe sind, so sehe ich, bei aller Anerkennung ihrer eigen-
artigen Schönheit, nicht ein, warum die nächste Generation nicht
ebenso gern in den Schoß des Vaters wird zurückwollen. Was aber
dann?
Werden wir statt des Oedipus einen Orestes bekommen? Oder
wird die Psychoanalyse ihre segensreiche Wirkung aufgeben miissen?
ROBERT MUSIL

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