Dienstag, 20. März 2018

Pharmaka

"….. die Medikamente und ganz sicher nicht unsere Gespräche hatten diesen Patienten geheilt. Sie hatten nicht seine Freiheit eingeschränkt, sondern im Gegenteil, sie hatten ihm wieder die Freiheit gegeben, das denken zu können, was er selbst denken wollte. Denn die irrsinnigen kranken Wahngedanken hatten ihn ja am freien eigenständigen Denken gehindert.
Psychopharmaka müssen so eingesetzt werden, dass sie befreiend wirken. Alles andere wäre in der Tat unverantwortliche Manipulation. Ähnliches wie von der Schizophrenie gilt von schweren Depressionen, die mit antidepressiven Medikamenten geheilt werden können. Neuroleptika und Antidepressiva, die es seit über 50 Jahren gibt, machen niemals abhängig, und die modernen Präparate haben viel weniger Nebenwirkungen als ihre älteren Vorgänger. Das gilt bei Neuroleptika von einem kurzfristig auftretenden vorübergehenden Parkinson-Syndrom (Steifigkeit, Unbeweglichkeit und Zittern) sowie einer Gehunruhe und vor allem von unwillkürlichen Bewegungen, die nach langer Gabe auftreten können. Natürlich gibt es Fälle, wo jemand zu viele Medikamente bekommt. Dann wirken Patienten tatsächlich so, als seien sie »mit Medikamenten vollgestopft«, als seien sie »ruhiggestellt«, wie ein anderer schrecklicher und oft gehörter Ausdruck heißt. Neuroleptika und Antidepressiva stellen aber, richtig eingesetzt, nicht ruhig. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn durch richtig eingesetzte Medikamente ein schizophrener Patient von seinen entsetzlichen Wahnvorstellungen geheilt ist, dann kann er wieder aktiv am Leben teilnehmen. Wenn ein schwer Depressiver von seiner Depression befreit ist, dann ist er nicht »ruhiggestellt«, sondern er kann wieder vitaler und dynamischer auf andere Menschen zugehen. Zu allem Überfluss können sie in gesunden Phasen auch vorbeugend wirken. So gilt in diesen wie in vielen anderen Fällen: Medikamente, also Psychopharmaka, können bei einigen psychischen Erkrankungen eine wichtige Option sein. Auf ihre Gabe zu verzichten, wäre unterlassene Hilfeleistung.
Wenn freilich nur allgemein über Psychopharmaka geschimpft wird, dann schimpfe ich immer gern mit. Denn die Psychopharmaka, die immer noch am meisten genommen werden, sind die so genannten Benzodiazepine, Beruhigungs- und Schlafmittel mit zum Teil hohem Abhängigkeitspotenzial. Die aber nehmen viele Menschen völlig kritiklos ein, obwohl schon eine 4-wöchige Einnahme in einigen Fällen zur Abhängigkeit führen kann. Zwar gibt es auch für diese Medikamente eine »Indikation«, das heißt einen medizinischen Grund, sie zu verordnen. Man kann sie zeitweilig bei schweren Ängsten und anderen Unruhezuständen, aber auch bei erheblichen Schlafstörungen einsetzen. Freilich nur so lange wie unbedingt nötig. Doch gerade bei solchen »happy-pills« wird oft hemmungslos bagatellisiert. Auf Dauer aber machen Benzodiazepine nicht glücklich, sondern süchtig." 

Aus: Manfred Lütz, "Irre!"

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