Donnerstag, 17. Januar 2013

Montaignes Katze

«Die Tiere halten uns sicher für ebenso dumm wie wir sie.»
 In einer bekannten Passage der Essais heißt es weiters: «Wenn ich mit
 meiner Katze spiele - wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib
 diene als sie mir?» Und er fügt hinzu: «Die närrischen Spiele, mit denen
 wir uns vergnügen, sind wechselseitig: Ebenso oft wie ich bestimmt sie,
 wann es losgehn oder aufhören soll.» 

Er macht sich die Perspektive der Katze, die ihn betrachtet, genauso zu eigen, wie er seine eigene Perspektive ihr gegenüber einnimmt.
Montaignes kleines kommunikatives Spiel mit seiner Katze zählt zu den hinreißendsten Passagen der Essais - und zu einer der bedeutendsten. Sie belegt Montaignes Überzeugung, 
dass alle Lebewesen in einer gemeinsamen Welt leben und dass jede Kreatur ihre ganz eigene Wahrnehmung dieser Welt hat. «Der ganze Montaigne steckt in diesem hingeworfenen Satz», meint Herbert Lüthy.

Montaignes Fähigkeit, zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und herzuspringen, wird ganz besonders deutlich, wenn er über Tiere schreibt. Uns falle es schwer, sie zu verstehen, bemerkt er, aber ihnen müsse es genauso schwer fallen, uns zu verstehen. 
«Diese Unfähigkeit  zur Kommunikation zwischen ihnen und uns - warum sollte sie nicht ebenso unsere sein wie ihre?»
Wir können uns in die Empfindungen der Tiere ungefähr in gleichem Maße hineindenken wie sie sich in die unsren. Sie fordern uns etwas ab, sie schmeicheln uns, sie drohen uns - und wir ihnen. Montaigne kann seine Katze nicht betrachten, ohne zu denken, dass auch sie ihn betrachtet, und ohne sich vorzustellen, wie er sie betrachtet. 


Aus: Sarah Bakewell, Wie soll ich leben? C.H. Beck, 2012


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