Freitag, 20. August 2021

So entstehen allgemeine Meinungen

 SchopenhauerEristische Dialektik 

oder: Die Kunst, Recht zu behalten.

Kunstgriff 30

Das argumentum ad verecundiam [an die Ehr­furcht gerichtetes Argument]. Statt der Gründe brauche man Autoritäten nach Maßgabe der Kenntnisse des Gegners.

Unusquisque mavult credere quamjudicare [jeder will lieber glauben als urteilen]: sagt Seneca [De vita beata, Ι, 4]; man hat also leichtes Spiel, wenn man eine Autorität für sich hat, die der Gegner respektiert. Es wird aber für ihn desto mehr gültige Autorit­äten geben, je beschränkter seine Kenntnisse und Fähigkeiten sind. Sind etwa diese vom ersten Rang, so wird es höchst wenige und fast gar keine Autoritäten für ihn geben. Allenfalls wird er die der Leute vom Fach in einer ihm wenig oder gar nicht bekannten Wissenschaft, Kunst, oder Hand­werk gelten lassen: und auch diese mit Mißtrauen. Hingegen haben die gewöhnlichen Leute tiefen Respekt fü die Leute vom Fach jeder Art. …. Allein für das Vulgus [Volk] gibt es gar viele Autoritäten die Respekt finden: hat man daher keine ganz passende, so nehme man eine scheinbar passende, führe an, was Einer in einem andern Sinn, oder in andern Verhältnissen gesagt hat. ….. Auch sind allgemeine Vorurteile als Autoritäten zu gebrauchen. Denn die meisten denken mit Aristoteles ά μεν πολλοις öοκει ταυτα γε εινειφαμεν [was vielen richtig scheint, das, sagen wir, ist]: ja, es gibt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat, sie zu überreden, daß solche allgemein angenommen sei. Das Beispiel wirkt auf ihr Denken, wie auf ihr Tun. Sie sind Schafe, die dem Leithammel nachgehn, wohin er auch führt. Es ist sehr seltsam, daß die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urteil und bloß kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbst­kenntnis ihnen abgeht. - Nur die Auserlesenen sagen mit Plato τοις πολλοις πολλα öοκει [Die Vielen haben viele Meinungen] …..

Die Allgemeinheit einer Meinung ist, im Ernst geredet, kein Beweis, ja nicht einmal ein Wahr­scheinlichkeitsgrund ihrer Richtigkeit. Die, welche es behaupten, müssen annehmen, daß die zeitliche Entfernung jener Allgemeinheit ihre Beweiskraft raubt: sonst müßten sie alle alten Irrtümer zurückrufen, die einmal allgemein für Wahrheiten galten….

Was man so die allgemeine Meinung nennt, ist, beim Lichte betrachtet, die Meinung Zweier oder Dreier Personen;* und davon würden wir uns überzeugen, wenn wir der Entstehungsart so einer allgemeingültigen Meinung zusehn könnten. Wir würden dann finden, daß zwei oder drei Leute* es sind, die solche zuerst annahmen oder aufstellten und behaupteten, und denen man so gütig war, zuzutrauen, daß sie solche recht gründlich geprüft hatten: auf das Vorurteil der hinlänglichen Fähigkeit dieser nahmen zuerst einige Andre die Meinung ebenfalls an; diesen wiederum glaubten viele andre, deren Trägheit ihnen anriet, lieber gleich zu glauben, als erst mühsam zu prüfen. So wuchs νon Tag zu Tag die Zahl solcher trägen und leichtglaubigen Anhänger: denn hatte die Meinung erst eine gute Anzahl Stimmen für sich, so schrieben die Folgenden dies dem zu, daß sie solche nur durch die Triftigkeit ihrer Gründe hatte erlangen können. Die noch ϋbrigen waren jetzt genötigt, gelten zu lassen, was allgemein galt, um nicht für unruhige Köpfe zu gelten, die sich gegen allgemeingültige Meinungen auflehnten, und naseweise Bursche, die klüger sein wollten als alle Welt.  Jetzt wurde die Beistimmung zur Pflicht. Nunmehr müssen die Wenigen, welche zu urteilen fähig sind, schweigen: und die da reden düfen, sind solche, welche völlig unfähig sind,  eigne Meinungen und eignes Urteil zu haben, das bloße Echo fremder Meinung sind; jedoch sind sie desto eifrigere und unduldsamere Verteidiger derselben. Denn sie hassen am Andersdenkenden nicht sowohl die andre Meinung, zu der er sich bekennt, als die Vermessenheit, selbst urteilen zu wollen; was sie ja doch selbst nie unternehmen und im Stillen sich dessen bewußt sind. - Kurzum, Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: was bleibt da anderes iibrig, als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig νοn Andern aufnehmen? - Da es so zugeht, was gilt noch die Stimme νοn hundert Millionen Menschen? - So viel wie etwa ein histo­risches Faktum, das man in hundert Geschichts­schreibern findet, dann aber nachweist, daß sie alle einer den andern ausgeschrieben haben, wodurch zuletzt alles auf die Aussage eines Einzigen zuriicklauft.

«Dico ego, tu dicis, sed denique dίxit et ille : Dictaque post toties, nil nisi dicta vides.»

[Ich sag' es, du sagst es, doch schließlich sagt es auch jener; Hat man so oft es gesagt, bleibt nur noch Gesagtes übrig.]

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Q.E.D.

oder: Besser geht's nicht!

 * Auf die heutige Zeit aktualisiert sollte man hier wohl „Organisationen  oder „Interessengruppen“ einsetzen.

 

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