Mittwoch, 27. Oktober 2021

Pressefreiheit, die sie meinen ...

 ...über den Mißbrauch der Informationspflicht

Von Heinz Friedrich.

Niemand hat in unserem Jahrhundert einem bestimmten Typus Presse und damit einer bestimmten Journalisten-Spezies gründ­licher die Leviten gelesen als Karl Kraus. Die Jahrgänge der Fackel von 1899 bis 1936 sind eine einzige Anklage gegen die schwarzen Magier der öffentlichen Meinung, die - nach Kraus -die abendländische Kultur liquidieren. Pamphlet um Pamphlet schleuderte er den ebenso kurzsichtigen wie überheblichen Skribenten entgegen. Erbarmungslos bis zur eifernden Monomanie nahm er Artikel für Artikel unter seine kritische Lupe und atte­stierte dem europäischen Geist journalistisch-feuilletonistischen Trichinenbefall. überall, vermerkt er im November 1908 in ei­nem ,Apokalypse' betitelten Aufruf zur Erhaltung der Fackel, überall dringen die „ Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemho­len bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr soviel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nutzen". Und pessi­mistisch prophezeit er angesichts dieser Diagnose den „Unter­gang der Welt durch schwarze Magie", sprich: durch die miß­brauchte Allmacht der Presse. Denn längst erweise sich das Hirn unserer Zivilisation als „camera obscura, die mit Drucker­schwärze ausgepicht" sei. Diese, durch Druckerschwärze ver­dunkelte Welt werde selbst ihren Untergang noch mit Vergnü­gen ertragen, wenn ihr nur dessen „kinemathographische Vorführung nicht versagt" bleibe.

Nun: inzwischen werden uns diese „kinemathographischen Vorführungen" des abendländischen Zerfalls Abend für Abend per Mattscheibe frei Haus geflimmert. Im Schaukelstuhl und bei kühlem Bier genießen wir, was noch keiner Generation zuvor zu genießen vergönnt war: den Nervenkitzel der eigenen Ago­nie. Denn seit den Anklagen von Karl Kraus hat sich in der Presse und anderswo nichts geändert - zumindest nicht zum Besseren. Im Gegenteil, die modernen Multiplikatoren, bezeich­nenderweise „Massenmedien" genannt, haben inzwischen das ihre tatkräftig zur Lust am Untergang beigetragen. Unbeküm­mert wird tagtäglich die Pressefreiheit auf und unter dem Strich, wohin sie gelockt wurde, genotzüchtigt - wobei die Hinter­treppe, auf der dies geschieht, als Boulevard ausgegeben wird.

Karl Kraus ist tot. Er starb 1936. Zu Hitler fiel ihm, nach eigenem Zeugnis, bereits nichts mehr ein- aber wie verzweifelter noch wäre er wohl verstummt angesichts unserer gegenwärtigen Schlagzeilen-Hysterie, deren sadistisch-masochistische Ober­töne eine erschreckend inhumane Grundhaltung gewisser Mei­nungshüter verraten. Der geistige Mief, der aus den schein-ethi­schen Kulissen von Pressefreiheit, Informationspflicht, Aufklä­rung und sogenanntem kritischen Bewußtsein hochsteigt, verschmutzt die menschliche Umwelt keineswegs geringer und auch keineswegs weniger tödlich als die Abgase der Blechge­schwader und der Auswurf der Ölschlote - nur: davon redet kaum einer, weil die Angst vor dem ins Kraut schießenden publi­zistischen Informationsterror hierzulande beklemmend groß ist. Die Tage eines Karl Kraus, da immerhin ein paar miese Schreiber vor jedem neuen Heft der Fackel zitterten, sind längst dahin, und ungehemmt darf heute jeder Zeilenschinder seinen publizi­stischen Rang nach dem Winkel des eigenen beschränkten Hori­zontes selbst bestimmen und behaupten, er entfalte bei diesem eigenartigen Geschäft seine Persönlichkeit, sowohl geistig als auch moralisch. …

Die Medien, diese teuflischen Multiplikatoren des menschli­chen Unsinns, weben eifrig den Schleier anthropologischer Illu­sionen, der jede wirkliche Aufklärung der Gesellschaft verhin­dert, und zwar aus den gleichen Gründen, die sie andernorts mit pseudomoralischer Entrüstung anprangern - aus den Grün­den nämlich des materiellen Profits und der demagogischen Macht. Denn längst werden auf den Boulevards der bürgerlichen und auch der journalistischen Dämmerung nicht mehr die heuch­lerisch beschworenen Güter der Pressefreiheit und der soge­nannten Informationspflicht feilgeboten, sondern hier werden Nachrichten als seelenpornographische Nervenkitzel zum Höchstpreis verhökert, um dem trivialem Klatschbedürfnis der Masse entgegenzukommen. Ersetzen die medialen Multiplika­toren doch nicht nur den Brunnen, an dem die Weiber einst ihre Zungen entfesselten, sondern auch den Pranger auf dem Markt, den die Menge mit pharisäischem Behagen angaffte.

….. Auf solche Einwände angesprochen, reagieren die Nachrichten-Macher stets mit moralisch-kritisch-freiheitlichen Beteuerungen und biederem Augenaufschlag. Wissen sie doch genau, daß, wer über die Multiplikatoren der öffentlichen Meinung verfügt, auch über beträchtliche Macht verfügt- und Macht hat leider, trotz ihrer fragwürdigen Aspekte, noch immer das letzte Wort. Ihr dieses letzte Wort wenigstens in der gefährlichen pseudo-journalisti­schen Spielart zu entziehen, ist ein schwieriges Geschäft, weil die häufigste Erscheinungsform der Zeitungslüge die Halbwahr­heit ist. Nichts aber läßt sich schwerer widerlegen als Halbwahr­heiten, weil sie dem zur Rede gestellten Schreiber jede nur er­denkliche Ausflucht gestatten, zumal dann, wenn diese Ausflucht noch durch den weinerlichen Hinweis auf die Ein­schränkung der Meinungsfreiheit akzentuiert wird

Aus dieser Perspektive angeschaut, erweisen sich die Schlag­zeilen besagter Blätter und geistig benachbarter Medien als Kilometersteine der menschlichen Dummheit auf dem Weg in die Verfinsterung. Die Ironie ohne tiefere Bedeutung und die Pointe als Presseausweis genügen kaum als Rechtfertigung eines An­spruchs auf Pressefreiheit. Auch die Pressefreiheit muß, wie jede Freiheit, in einem immerwährenden Prozeß stets neu errungen und durch die redliche Tat bestätigt werden, wenn sie nicht zum Aberwitz absinken soll. Wer unter Pressefreiheit lediglich die Verlegung von Stammtischgemaule und Bargeflüster in die Re­daktionen versteht, hat sie bereits gründlich mißverstanden und mißbraucht. Unabhängigkeit im Titel und Impressum eines Pu­blikationsorgans ist eine Verpflichtung, aber kein journalisti­scher Freibrief.

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