Freitag, 15. März 2019

Genossenliebe

"…mit dem von einigen Moralisten erdachten Gegensatz von »Egoismus« und »Altruismus« darf dieser nicht verwechselt werden. Ich kenne Leute, die in der »sozialen Tätigkeit« aufgehen und nie mit einem Mitmenschen von Wesen zu Wesen geredet haben; und andere, die keine persönlichen Beziehungen außer zu ihren Feinden haben, zu ihnen aber so stehen, daß es nur noch an denen liegt, wenn das Verhältnis nicht zum dialogischen gedeiht.
Ich weiß niemand in den Zeiten, der es fertiggebracht hätte, alle Menschen, denen er begegnete, zu lieben. Auch Jesus liebte unter den »Sündern« offenbar nur die lockeren, liebenswürdigen, die gegen das Gesetz, nicht auch die dichten, erbgutstreuen, die gegen ihn und seine Botschaft sündigten; doch er stand zu diesen wie zu jenen unmittelbar.
Was hier gesagt wird, ist das eigentliche Gegenteil des in Zeitalterdämmerungen zuweilen vernehmbaren Schreis nach universaler Rückhaltlosigkeit. Wer zu jedem Passanten rückhaltlos sein kann, hat keine Substanz zu verlieren; aber wer nicht zu jedem ihm Begegnenden unmittelbar sein kann, dessen Fülle ist eitel. Zu Unrecht hat Luther das hebräische »Genosse« (aus dem schon die Siebzig einen Nahen, einen Nachbarn gemacht hatten) in einen »Nächsten«, verwandelt. Wenn alles Konkrete gleich nah, gleich nächst ist, hat das Leben mit der Welt nicht Gliederung und Bau, nicht menschhaften Sinn mehr. "
Martin Buber

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