Freitag, 27. Juli 2018

Zeitverlust

Im Augenblick seines Absterbens verliert der Mensch nicht nur das Bewußtsein, nicht nur das Bewußtsein der Zeit, sondern er verliert auch die Zeit selbst. Er verliert sie im Tode ganz genau so, wie er sie im Zeitpunkt seiner Geburt überhaupt erst gewinnt. Nur Dasein in Raum und Zeit und, in einem damit, im Leibe - nur solches Dasein »hat« die Zeit, »hat« eine Vergangenheit und eine Zukunft. Geistiges Sein jedoch, als geistiges, »ist« nicht »da«; es ist, im Gegensatz zum »da-sein«, ein Sein jenseits von Raum und Zeit.

Wo es keine Zeit, wo es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, dort verliert aber auch alles Gerede von »früher« oder »später«, »vor« oder »nach«, »prä« oder »post« seinen Sinn. Was »Prä-« oder »Post-« ist, ist eo ipso nicht »Existenz«. Geistige Existenz ist uns nicht anders bekannt als in Ko-existenz mit dem Psychophysicum. Jede Aussage über geistige Existenz jenseits dieser Ko-existenz, jenseits von Leib, Raum und Zeit, entbehrt des Sinnes. Wir können um geistige Existenz nur wissen, sobald und solange sie mit Leib und Seele ver-ein-t, sobald und solange sie durch Leib und Seele er-gänzt ist zur Einheit und Ganzheit des Wesens »Mensch«. Was darüber hinaus ist, was jenseits von Leib, Raum und Zeit ist, was sich im Bereich des reinen Seins abspielt - darum zu wissen ist unmöglich.

Daß so etwas wie eine »Seelen«-Wanderung unmöglich ist, haben wir gehört: wir sehen aber auch, daß ein Fortleben des Geistigen un»denkbar« ist: es kann nicht gedacht werden, es läßt sich nicht vorstellen. Dennoch könnte es möglich sein - und es ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig; denn das Gegenteil davon wäre ja keinesfalls möglich: daß nämlich dasjenige, was wesentlich jenseits von Raum und Zeit ist, jemals sterben können sollte. In diesem Sinne schlage ich vor, an Stelle von Fortleben der Person von Überleben zu sprechen - aber nicht so, als ob damit gemeint wäre, daß die geistige Person ihren leiblich-seelischen Tod überlebt, sondern in dem Sinne, in welchem wir bereits einmal von »Übersinn« gesprochen haben - worunter wir »einen über menschliches Fassungsvermögen wesentlich hinausgehenden Sinn« verstanden haben -, also im Sinne eines über-Lebens, das heißt eines Modus des Lebens, von dem wir uns keinen Begriff mehr machen, den wir nicht mehr fassen können.
V.  E.  Frankl 

Es ist irgendwie beglückend, wenn man in der Literatur etwas ausgedrückt findet, das man selber zwar ähnlich gedacht, aber nie hätte formulieren können.

"Der Begriff "Leben nach dem Tod" hat eine zeitliche Dimension, die ich nicht für richtig halte. Ich glaube, dass es ein Leben außerhalb der materiellen Welt gibt. Es gibt eine geistige Welt außerhalb der materiellen Existenz. Aber mit Physik hat das nichts zu tun, sondern das ist nur meine persönliche Ansicht."

A. Zeilinger, Quantenphysiker

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