Mittwoch, 3. Januar 2018

Leib&Seele

Nun, es ist bekannt, daß es nicht zuletzt die sogenannte psychosomatische Medizin war, die sich all dessen angenommen hat, also den innigen Beziehungen zwischen Leiblichem und Seelischem nachgegangen ist. Freilich nicht ohne übers Ziel zu schießen und so zu tun, als ob wirklich jeder Erkrankung, auch leiblicher Art, ein entsprechendes Erlebnis zugrunde liegen müßte. Krank wird nur - dies der Grundsatz der psychosomatischen Medizin: Krank wird nur, wer sich kränkt. Aber das ist nicht wahr. Und wenn man darauf hinweist, daß beispielsweise ein Angina-pectoris-Anfall - manchmal bewußt, manchmal unbewußt - auf eine Aufregung, sagen wir auf eine ängstliche Erregung zurückzuführen ist, so muß ich demgegenüber auf folgendes aufmerksam machen: Nicht nur die ängstliche Erregung ist imstande, einen solchen Herzanfall auszulösen, sondern auch eine freudige Erregung. Und es sind Fälle bekannt, in denen Mütter, als ihre Söhne aus langjähriger Kriegsgefangenschaft heimkehrten, vom Herzschlag getroffen zusammensanken. 

....ein Beispiel: Es gibt Menschen, die an einem eigenartigen Gefühl kranken: alles erscheint ihnen fern, und sie selbst kommen sich fremd vor. Wir Psychiater sprechen dann von einem Entfremdungserlebnis oder einem Depersonalisationssyndrom. Es kommt bei den verschiedensten seelischen Erkrankungen vor, ist aber an und für sich harmlos. Nun konnte ich zeigen, daß dieses psychische Krankheitszeichen in gewissen Fällen auf niedrig dosiertes Nebennierenrindenhormon ausgezeichnet anspricht. Das normale Persönlichkeitsgefühl, das normale Icherlebnis, stellt sich wieder ein. Aber es wäre mir nicht eingefallen, aus alledem den Schluß zu ziehen, daß die Persönlichkeit des Menschen, daß das Ich »nichts als« Nebennierenrindenhormon ist. 

Bei näherem Zusehen ergibt sich nämlich, vor welchem Fehlschluß und Denkfehler wir uns zu hüten haben, wann immer von all diesen leih-seelischen Zusammenhängen die Rede ist: Wir müssen uns angewöhnen, genau zu unterscheiden zwischen Bedingen und Bewirken oder Erzeugen. So ist eine normal funktionierende Schilddrüse oder Nebennierenrinde wohl die Voraussetzung, die Vorbedingung eines normalen menschlichen Seelen- und Geisteslebens, aber damit ist nicht im geringsten ausgemacht, daß das Geistige im Menschen sozusagen erzeugt wird von jenen chemischen Prozessen, auf denen so etwas wie die Hormonproduktion des Organismus beruht. 

 Der Organismus ist nun das Insgesamt von Organen, und das heißt von Werkzeugen, von Instrumenten. Tatsächlich verhält sich das Geistige im Menschen - von dem wir soeben ausgesagt haben, daß es vom Chemismus nicht erzeugt und so denn auch vom Chemismus her nicht geklärt werden kann -, tatsächlich verhält sich dieses Geistige zum Organismus ebenso wie ein Virtuose zu seinem Instrument. Ich meine damit, daß der menschliche Geist, um sich entfalten zu können, eines funktionstüchtigen Organismus als einer Grundbedingung ebenso bedarf wie ein Virtuose eines guten »Instruments«. Er ist angewiesen darauf - ja er ist abhängig von ihm; denn auf einem schlechten Instrument, sagen wir auf einem schlecht gestimmten Klavier, kann der beste Virtuose und der größte Künstler nicht richtig spielen. Was geschieht aber, wenn das Klavier verstimmt ist? Nun, man holt den Klavierstimmer herbei, und der stimmt das Instrument wieder zurecht. Aber nicht nur ein Klavier kann verstimmt sein, sondern auch ein Mensch. Er kann in einen Verstimmungszustand geraten, in einen Depressionszustand verfallen.

V. E. Frankl

Keine Kommentare: