Samstag, 25. Juni 2016

Fremde im eigenen Land

 (SZ 15. Juni 2016)

Nicht rechtsextrem, aber fremdenfeindlich. 

Die allermeisten Deutschen halten Demokratie für eine gute Sache. Doch immer mehr
stehen Muslimen, Flüchtlingen und anderen Minderheiten ablehnend gegenüber - und
finden eine politische Heimat.

Von A. Rietzschel 

Ein 21-Jähriger schießt mit einem Luftgewehr auf eine Asylunterkunft und verletzt dabei
ein fünfjähriges Mädchen. Im sächsischen Arnsdorf fesselt eine Gruppe Männer einen
psychisch kranken Asylbewerber an einen Baum. Vorfälle wie diese häufen sich in
 - und die Täter stammen immer häufiger nicht mehr nur aus Kreisen
klassischer Rechtsextremisten, sondern fühlen sich der Mitte der Gesellschaft zugehörig.

Extremistischen Einstellungen in dieser Mitte widmen sich Wissenschaftler der
Universität Leipzig seit 14 Jahren. Im Zweijahresrhythmus veröffentlichen sie die
sogenannte Mitte-Studie. Die Titel der bisherigen Veröffentlichungen dokumentieren
den Wandel: Von der "Mitte in der Krise" (2010) über deren "Umbruch" (2012) hin zu der
am Mittwoch vorgestellten Studie "Die enthemmte Mitte".

Die Wissenschaftler um Elmar Brähler und Oliver Decker haben dafür in diesem Frühjahr
2420 Deutsche daheim besucht und zu ihrer Einstellung zur Demokratie, aber auch zu
Muslimen oder Parteien befragt - und sind bei der Auswertung zu folgenden
Ergebnissen gekommen:

Jeder zweite Befragte fühlt sich "wie ein Fremder im eigenen Land"
Es gibt keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen. Zwar ist die Zahl derer, die eine
rechtsautoritäre Diktatur befürworten, in den vergangenen zwei Jahren leicht auf fünf
Prozent angestiegen. Auch die Ausländerfeindlichkeit erreicht mit 22 Prozent einen
hohen Wert. Aber der Anteil der Menschen mit einem geschlossenen, rechtsextremen
Weltbild steigt im Moment nicht weiter an. Grundsätzlich finden sich rechtsextreme
Einstellungen in allen Bevölkerungsgruppen. Junge ostdeutsche Männer im Alter von 14
bis 30 Jahren zeigen sich jedoch besonders anfällig.

Vorurteile gegen Muslime und Flüchtlinge nehmen zu. Jeder zweite Befragte gab an,
sich angesichts vieler Muslime "wie ein Fremder im eigenen Land" zu fühlen, über 40
Prozent wollen Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagen. Auch die
Deutschland Ablehnung von Asylbewerbern hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. 60
Prozent der Befragten glauben, dass Flüchtlinge nicht wirklich befürchten, in ihrer
Heimat verfolgt zu werden. Ebenfalls fast 60 Prozent hätten "Probleme damit, wenn sich
Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten".

Rechtsextreme finden in der AfD eine politische Heimat. Laut den bisherigen Studien
haben Menschen mit rechtsextremer Einstellung trotzdem überwiegend die großen
demokratischen Parteien SPD und CDU gewählt. Parteien wie die NPD
die sich selbst der "Mitte" zurechnen, nicht wählbar. Doch bereits in ihrer Studie 2014
hatten die Forscher vorausgesagt, dass die AfD zur Konkurrenz für die Volksparteien
werden könnte. In ihrer aktuellen Studie zeigen Brähler und Decker jetzt, dass Wähler,
die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild aufweisen, sich zunehmend der AfD
zuwenden. 45 Prozent von ihnen würden demnach für die AfD stimmen. Ob es um
Ausländerfeindlichkeit oder deutsche Überlegenheitsgefühle geht - überall zeigt sich ein
großer Unterschied zwischen der Wählerschaft der AfD und den anderen Parteien. Die
Forscher begründen dies unter anderem damit, dass sich die AfD-Anhänger insgesamt
radikalisiert hätten.

Dennoch ist das Vertrauen in die Demokratie hoch. Bei der Antwort auf die Frage, ob die
Deutschen der "Demokratie als Idee" zustimmen, zeigt sich im Zeitverlauf ein kleiner
Anstieg von 91 auf 94 Prozent. Besonders der Osten Deutschlands hat hier in den
vergangenen Jahren aufgeholt. Die Zustimmung für die "Demokratie, wie sie in der
Bundesrepublik Deutschland funktioniert", ist dann aber nicht mehr so hoch. Sie liegt bei
54 Prozent. Insgesamt genieße das politische System aber Vertrauen, heißt es in der
Studie. Das liege möglicherweise in der wirtschaftlichen Situation des Landes begründet.
Immerhin 51 Prozent der Befragten beurteilen diese in Deutschland als sehr gut
oder gut.

Gleichzeitig ist aber die Frustration über das politische System unter den Befragten groß.
Nur 27 Prozent glauben, Einfluss auf Regierungshandeln zu haben. 60 Prozent der
Befragten sehen keinen Sinn darin, sich politisch zu engagieren. Das weise auf ein
massives Teilhabedefizit hin, so die Einschätzung der Forscher.

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