Samstag, 3. April 2010

Prawy über Regietheater

"Wenn wir schon von früher reden: Damals hat man die Oper viel ernster genommen. „Ein Maskenball" wurde von der politischen Zensur verboten, und über der „Stum­men von Portici" ist in Brüssel 1830 die Revolution gegen die Niederlande ausgebrochen. Und noch etwas kommt dazu: Die szenische Gestaltung jener Jahrzehnte hatte vorn Publikum eine sehr hohe Meinung, sie vertraute näm­lich der menschlichen Phantasie. Wenn wir in meiner Jugend in Meyerbeers „Hugenotten" gingen, sahen wir auf der Bühne den Prospekt eines Parks mit einem fran­zösischen Schloß. Dieser von einem vielleicht nicht promi­nenten Theatermaler zusammengepinselte Prospekt hätte als Reisebüroreklame keinen Touristen nach Frankreich gelockt - aber Meyerbeers Musik und unsere Phantasie erbauten das Schloß.
Heute erzeugt die Oper keine Revolutionen mehr, da­für wurde sie das Spielzeug der Regisseure. Wir würden eigentlich von ihnen erwarten, daß sie die ganze moderne Technik in den Dienst der Meisterwerke stellen. Das ereig­net sich auch gelegentlich. Aber wie bitter müssen wir für ein paar Meisterregien eines Zeffirelli, Schenk, Rennert und einiger anderer immer wieder büßen.
Viele Regisseure mißtrauen nicht nur der Phantasie des Publikums und der Macht der Musik, sondern sie fühlen sich als vom Himmel gesandte Retter der Oper, die sie im Grunde tief verachten.
Ihre Rettungsaktionen vollziehen sich in verschiedenen Etappen. Zunächst verhindern die Regisseure das Spielen von ungefähr der Hälfte des traditionellen Repertoires, wozu ihnen ihre diktatorische Stellung innerhalb des Opernbetriebes die Macht gibt. Sie sind besonders stolz, wenn sie sagen können, daß sie „eigentlich vom Schau­spiel her kommen" (welcher Schneider ist stolz darauf, daß er eigentlich von der Schusterei her kommt?). Zu den ver­bannten Opern gehören alle, die sie nicht kennen, und das ist die Mehrzahl - besonders aber die sogenannten „Stehopern". Das sind alle jene, in welchen so unerträg­liche Dinge dominieren wie Arien, Duette und Chöre. Im Berufsjargon der fachmännisch getarnten Ignoranz heißt das: „Zu Aida` habe ich keine Beziehung."
Daß jemand da oben auf der Bühne eine Arie singt und dabei nicht in jeder Sekunde irgend etwas Originelles tun kann, ist solchen Männern total unbegreiflich. Kann die Arie nicht gestrichen werden, dann machen sie aus dem Sänger oder der Sängerin eine Mickymaus, die für „Bin das Faktotum der Schönen Welt" bei jeder Silbe ein ganzes Ballett eingelernt bekommt, was manchmal zur Folge hat, daß nur Anfänger oder drittklassige Sänger da mittun, die anderen verlassen schon bei der ersten derartigen Anweisung die Bühne.
Kommt so einem Regisseur endlich ein Werk unter, zu
dem er unglückseligerweise eine Beziehung hat, dann setzt eine weitere Etappe der Rettungsaktion ein, nämlich das völlige Ignorieren der szenischen Vorschriften der Auto­ren. Ich glaube, daß hier die Copyrightbestimmungen eine echte Gesetzeslücke aufweisen. Der „Rosenkavalier" beginnt mit den Worten „Wie du warst! Wie du bist!" Wenn ich heute singen lassen wollte: „Wie du bist! Wie du warst!", würde der Verlag Einspruch erheben. Lasse ich aber den ersten Akt, anstatt im Schlafzimmer der Marschallin, auf leerer Bühne vor einem fünf Meter hohen Phallussymbol spielen, so kann sich niemand dagegen wehren. Und fraglos werden sich Stimmen melden, die das sehr modern finden. Bezieht sich denn der Copyrightschutz nicht auch auf die szenischen Anweisungen? Oberstes Gesetz: Anders um jeden Preis, optisch nicht zur Ruhe kommen lassen, möglichst alles sichtbar ausdeuten. Die Musik langweilt so viele Regisseure tödlich, darum ist auch die szenische Illustration von Ouvertüren ein be­liebter Scherz. Wir haben schon das „Aida"-Vorspiel mit wandelnden Kamelen, fatamorganagleichen Visionen ägyptischer Pyramiden und ähnlichem Plunder erlebt.
Eigentlich muß ich diesen Herren, die so die Oper bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellen, sehr dankbar sein. Sie sind meine Brotgeber. Wenn ich mich heute im Fern­sehen hinstelle und als „Opernführer" erzähle, daß „Elektra" in Griechenland spielt, gelte ich bereits als enormer Fachmann, weil man diese nicht ganz unwichtige Tatsache in vielen Inszenierungen nicht mehr merkt.
Die Oper hat die Diktatur der Primadonnen und die Despotie der Stardirigenten überlebt - jetzt bedroht der außermusikalische Mörder ihren innersten Lebensnerv."

Aus: M. Prawy, Die Wiener Oper/I

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Zur Phantasie: Sie trauen uns keine Phantasie zu, weil sie selbst keine haben. Da ist alles gedankenbasiert, "deduziert", von igendwelchen, meist linken, Theorien abgeleitet. Sie wollen uns immer etwas sagen, nicht erzählen.

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