Montag, 6. Februar 2023

Ziele und Fiktionen

 Hinter allen unseren Handlungen finden wir Pläne, Ziele, Erwartungen und Entscheidungen, die uns zu unserem Verhalten veranlassen, deren wir selbst aber nicht gewahr sind. Die meisten unserer Handlungen sind die Konsequenzen von Denkprozessen, deren wir uns nicht bewußt sind, die wir nicht erkennen und oft nicht kennen wollen. Sie haben aber den entscheidenden Einfluß auf unser Handeln. Alle diese Denkprozesse, die niemals zur Schwelle des Bewußtseins kommen, können als private Logik angesehen werden. Wenn immer wir anders handeln, als unser Gewissen es uns vorschreibt, dann handeln wir im Sinne unserer »privaten« Logik. Dies trifft aber nicht nur zu, wenn wir uns den Geboten der Situation entziehen wollen; im täglichen Leben beziehen wir uns nicht auf tatsächliche Gegebenheiten, sondern stehen unter dem Eindruck von einer Welt, die nicht immer der Realität entspricht. Wir nennen diese subjektive Beurteilung der Gegebenheiten das »phänomenologische Feld«, auf dem jeder Mensch sich bewegt und das nur für ihn allein gültig ist. Wir können niemals »Tatsachen« als solche erkennen; wir haben nur mehr oder weniger akkurate Eindrücke und Vorstellungen von ihnen. Diese aber bestimmen unsere Handlungen, unsere Einstellung und unsere Ziele. 

Wenn jemand wirklich objektiv sein könnte und alle Gegebenheiten objektiv erkennen könnte, dann würde er kaum an dem Prozeß der sozialen Entwicklung teilnehmen können, denn jedes Für hat auch ein Wider. Subjektivität ist notwendig, um eine bestimmte Richtung einzuhalten und eine andere aufzugehen. Jeder muß ständig wählen, vorziehen oder zurückweisen, im Rahmen seiner eigenen Einstellung, in dem dialektischen Prozeß, der allein zu Fortschritt und Entwicklung führt

Was sind nun die Gedankenvorgänge, die kognitiven Prozesse, die sich unterhalb der Schwelle des Bewußtseins abspielen und für unsere Handlungen ausschlaggebend sind? Wir können hier eine Hierarchie von Zielen feststellen, die nur das eine gemeinsam haben, daß sich der Mensch ihrer nicht gewahr ist. Da sind zuerst die weitgehenden und grundsätzlichen Ziele des Lebensstils. Jeder Mensch bildet sich, wie wir schon gesehen haben, in seinen ersten Entwicklungsjahren eine Vorstellung über sich, über die anderen und über das ganze Lehen. Das sind die Fiktionen, nach denen er handelt. Niemand ist sich aber seiner grundsätzlichen Einstellung bewußt. Verschiedene Faktoren tragen zu dieser bemerkenswerten Lage bei. Erstens werden diese grundsätzlichen Vorstellungen zu einer Zeit gebildet, wo das Kind kaum bewußt erfassen kann, was in ihm und um es herum vorgeht. Es folgt seinen »Eingebungen«, seinen momentanen Impulsen, ohne sich Gedanken über deren Bedeutung machen zu können. Der andere, viel tiefere Grund, warum wir die allbedeutenden Ziele des Lebensstiles nicht kennen können, ist die Notwendigkeit der subjektiven Einstellung. Jeder muß so handeln, »als ob« seine Beurteilung die einzig mögliche und absolut richtige sei. 


R. Dreikurs

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