Samstag, 17. Juli 2021

Maulkorbgesellschaft

 Der Staat, dieses Meisterstück des sich selbst verstehenden, vernünftigen, aufsummierten Egoismus aller, hat den Schutz der Rechte eines jeden in die Hände einer Gewalt gegeben, welche, der Macht jedes einzelnen unendlich überlegen, ihn zwingt, die Rechte aller anderen zu achten. Da kann der grenzenlose Egoismus fast aller, die Bosheit vieler, die Grausamkeit mancher sich nicht hervortun: Der Zwang hat alle gebändigt.

Die hieraus entspringende Täuschung ist so groß, daß, wenn wir in einzelnen Fällen, wo die Staatsgewalt nicht schützen kann oder eludiert wird, die unersättliche Habsucht, die niederträchtige Geldgier, die tief versteckte Falschheit, die tückische Bosheit der Menschen hervortreten sehen, wir oft zurückschrecken und ein Zetergeschrei erheben, vermeinend, ein noch nie gesehenes Monstrum sei uns aufgestoßen: Allein ohne den Zwang der Gesetze und die Notwendigkeit der bürgerlichen Ehre würden dergleichen Vorgänge ganz an der Tagesordnung sein. 

Kriminalgeschichten und Beschreibungen anarchischer Zustände muß man lesen, um zu erkennen, was in moralischer Hinsicht der Mensch eigentlich ist. Diese Tausende, die da vor unseren Augen im friedlichen Verkehr sich durcheinanderdrängen, sind anzusehen als ebenso viele Tiger und Wölfe, deren Gebiß durch einen starken Maulkorb gesichert ist

Daher, wenn man sich die Staatsgewalt einmal aufgehoben, das heißt jenen Maulkorb abgeworfen denkt, jeder Einsichtige zurückbebt vor dem Schauspiele, das dann zu erwarten stände; wodurch er zu erkennen gibt, wie wenig Wirkung er der Religion, dem Gewissen oder dem natürlichen Fundament der Moral, welches es auch immer sein möge, im Grunde zutraut.

 Schopenhauer

 

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