Samstag, 12. Januar 2019

Das Ganze in der Weise des Teils

 Um zu erkennen, daß man ein Teil des Ganzen ist, ja daß man
selber das Ganze ist in der Weise des Teils, bedarf es eines besonderen  Bewußtseins. Man bedarf eines Bewußtseins, das anders ist als dasjenige, darin das Ganze, in dem man ist und das in einem ist, als ein Gegenüberstehendes da ist, von dem man sich selbst als ein von ihm Getrenntes unterscheidet.... 
So ist es mit dem Blatt und dem Baum. Hat das Blatt von seinem Blattsein nur die Vorstellung, darin es sich abgesetzt sieht vom Baum, dann freilich muß es sich fürchten, wenn der Herbst kommt, es trocknen läßt und endlich wegweht vom Baum, zur Erde fallen läßt und schließlich vergehen zu Staub. Begriffe das Blatt aber, daß es selber der Baum ist in der Weise des Blattes und daß das alljährliche Leben und Sterben des Blattes zum Baum gehört, dann hätte das Blatt wohl ein anderes Lebensbewußtsein. Aber um das wahrhaft von innen zu erkennen, bedarf es wieder jenes inständlichen Bewußtseins, darin es sich selbst in seinem Wesen als eine Weise des Ganzen wahrnehmen und aufgehen kann, das in ihm lebt. Nur wo es sich selbst auch als Baum fühlt in der Weise des Blattes, wird es ohne Widerspruch und Erschrecken mit allen anderen Blättern das Werden und Entwerden vollziehen, darin der Baum sich in einem ewigen „Stirb und Werde“ selbst darlebt. So ist es auch mit der Rebe am Weinstock. „Ja“, sagt die Rebe, „ich hänge am Weinstock. Ich bin die Rebe, und da, wo mein Stiel aufhört, da beginnt dann der Weinstock.“ So sagt sie, wenn sie wie der noch unerwachte Mensch nur im Schema des „Ich-bin-Ich“ und „das-ist-das“ Wirklichkeit wahrnimmt. Es könnte der Rebe aber auch einmal ganz von innen her aufgehen, daß der Weinstock ja auch in ihr ist und sie in ihm, ja daß sie teilhat an ihm - ja daß sie selber der Weinstock ist in der besonderen Weise dieser Rebe und daß ihr eigentliches Wesen, ihr Lebensquell, die Wurzel ihrer Gestalt und ihr Zuhause der Weinstock ist, das Ganze also, von dem sie ein Teil ist. Und daß sie erst,wenn sie das wirklich im Innesein hätte, zu dem ihrem wesengemäßen Selbstbewußtsein gelangt wäre.

K. Graf Dürckheim

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