Sonntag, 17. Dezember 2017

Keine Panik

"Verzichten aber heißt einsehen, daß ein relativer Wert eben relativ ist. Dies klingt abstrakt, und daher möchte ich konkreter werden, und ich zitiere ein altes chinesisches Sprichwort: es sagt, jeder Mann solle in seinem Leben einen Baum gepflanzt, ein Buch geschrieben und einen Sohn gezeugt haben. Nun, wenn sie sich daran halten wollten - die meisten Männer müßten verzweifeln und sich konsequenterweise das Leben nehmen; denn die wenigsten waren dann wohl imstande, ihrem Leben den rechten Sinn zu geben: selbst wenn sie Bäume gepflanzt hätten, haben sie wohl kein Buch geschrieben oder nur eine Tochter gezeugt oder umgekehrt usw. Aber auch wenn man nicht das Bäumepflanzen, Bücherschreiben und Söhnezeugen, überhaupt nicht die Vaterschaft vergötzt, sondern die Mutterschaft - wir müßten sagen: wie arm wäre doch das Leben, würde es nicht auch andere Möglichkeiten bieten, um es sinnvoll zu gestalten, es mit Sinn zu erfüllen. Und ich muß sagen: was wäre das auch für ein Leben, dessen Sinn damit steht und fällt, daß man heiratet und Kinder kriegt, Bäume pflanzt und Bücher schreibt? 
Gewiß: das alles sind Werte, wirkliche Werte; aber sie sind relativ - absolut hingegen kann nur eines sein, und das ist das Gebot unseres Gewissens. Und dieses Gewissen gebietet uns, daß wir uns unter allen Bedingungen und Umständen unserem Schicksal stellen - wie immer es auch sein mag; und unser Gewissen fordert von uns, daß wir dieses Schicksal gestalten, daß wir handeln, daß wir das Schicksal in die Hand nehmen, wo dies möglich ist; daß wir aber auch bereit sind, das Schicksal auf uns zu nehmen - wenn dies nötig ist -, und daß wir dann das rechte, aufrechte Leiden echten Schicksals leisten. 
Haben wir uns dem Schicksal aber einmal gestellt, sei es in einer Handlung, sei es - wo ein Handeln nicht möglich war - in der rechten Haltung, so oder so haben wir das Unsere getan. Dann gibt es auch kein schlechtes Gewissen mehr - weder ein positives noch ein negatives, wer weder eines, das sich auf unsere Handlungen bezieht, noch eines, das die Unterlassungen betrifft. Und dann hört mit einemmal auch alle Torschlußpanik auf. Denn letztlich beruht sie auf jener optischen Täuschung, von der ich bereits einmal sprach, als ich sagte: der Mensch sieht meistens nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit, aber er übersieht die vollen Scheunen der Vergangenheit - er übersieht, was er alles ins Vergangensein hineingerettet hat, wo es nicht unwiederbringlich verloren ist, sondern unverlierbar geborgen bleibt. 
Nun: wer da beherrscht ist vom Lebensgefühl des ständigen Abschied-nehmen-Müssens und ergriffen von der Torschlußpanik, der hat vergessen, daß das Tor, das sich zu schließen droht, eben das Tor einer vollen Scheune ist ... Und er überhört den Trost und die Weisheit, die uns entgegenklingen aus den Worten der Bibel: »Du gehst im Alter zu Grabe, wie der Garbenhaufen eingefahren wird zur Zeit.« "

V. E. Frankl

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