Dienstag, 17. Oktober 2017

Das Böse ist immer und überall

"Hier ist jeder Pharisäismus höchst unangebracht, in dem sich die eine Nation gegenüber der andern wiegen mag. Geben wir es doch nur zu: jeder Mensch, und jeder einzelne genau so wie jedes einzelne Volk, «ist» schlechterdings «in Begleitung» des Bösen. Und diese Begleitung ist wahrhaftig, um es musika­lisch auszudrücken, eine «obligate» Begleitung:  Das Böse ist ubiquitär! Und sofern wir gerade in den letzten Jahren gesehen haben, zu was allem der Mensch fähig ist, so haben wir auch gelernt, daß dazu jeder einzelne fähig ist. Gewiß, nicht in jedem wird das Böse Wirklichkeit; aber in jedem ist es angelegt zu­mindest als Möglichkeit; und als Möglichkeit war das Böse nicht nur in jedem, sondern als Möglichkeit ist es auch und bleibt es auch in jedem. Glauben wir nur das nicht: daß der Teufel eine Nation gepachtet hat oder daß er irgendeine Partei mono­polisiert hat. Und auch der irrt, der da meinte, der National­sozialismus sei es gewesen, der das Böse erst geschaffen habe: dies hieße den Nationalsozialismus überschätzen; denn er war nicht schöpferisch - nicht einmal im Bösen. Der Nationalsozia­lismus hat das Böse nicht erst geschaffen: er hat es nur geför­dert - wie vielleicht kein System zuvor: gefördert durch eine negative Auslese, die er betrieb, und durch die «fortzeugend Böses gebärende» Macht des bösen Vorbildes. 
Aber sollen wir nun den Spieß umkehren? Sollen wir nun «dasselbe in Grün» machen oder, wie man eigentlich sagen müßte, das Braune in Schwarz oder Rot? Sollen wir dasselbe und immer wieder dasselbe tun und nur die Vorzeichen ändern? - Ich kenne einen Jungen, der einmal gefragt wurde, ob er sich nicht von einem alkoholischen Getränk bedienen wolle; und in seiner sprachlichen Unbeholfenheit meinte dieser Junge: «Danke, nein, ich bin ein - Antisemit von Alkohol.» So etwa mutet einen so mancher Ismus von heute an: man ist zwar vielleicht nicht mehr ein Antisemit im eigentlichen, ursprünglichen Sinne, man ist also nicht mehr ein Antisemit von «Semiten», aber dafür ist man ein «Antisemit» von irgend etwas anderem. Mit den glei­chen Mitteln, deren System man doch zu bekämpfen vorgibt, will man das System selber bekämpfen. Daraus aber ergibt sich ein innerer Widerspruch, nicht unähnlich dem, den etwa ein «Verein der - Gegner der Vereinsmeierei» enthielte. Und sag­ten wir vorhin, nur das Vorzeichen sei ein anderes, dann könn­ten wir mit ebenso viel Recht jetzt sagen: die Vorsilbe ist die gleiche geblieben - nämlich das «Anti»!"
Viktor E. Frankl 

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