Sonntag, 15. September 2013

Furtwängler

Alfred Brendel:

"Jenen von uns, die den Zugang zur Musik nicht auf dem
Umweg über Literatur, Philosophie oder Ideologie suchen,
bleibt Furtwängler unersetzlich. Hätte es ihn nicht gege-
ben, wir hätten ihn erfinden müssen: den Interpreten, dessen
Aufführungen ein Musikstück als etwas Vollständiges aus-
weisen, etwas in allen Schichten Lebendiges, das iedes De-
tail, jede Stimme, jede Regung rechtfertigt durch den Bezug
zum Ganzen. Das Vorurteil besonders angelsächsischer Kri-
tiker, Furtwängler habe sich gern in der Episode verloren und
Einheit und Zusammenhang dem gefühlvollen Augenblick
geopfert, trifft auf ihn ain allerwenigsten zu. Kein Dirigent
war zugleich freier und weniger exzentrisch. Kein Musiker in
meiner Erfahrung vermittelte stärker das Gefühl, es sei mit
dem ersten Takt das Schicksal eines Meisterwerks (und sei-
ner Wiedergabe) besiegelt - und es habe sich mit dern letz-
ten Takt erfüllt. In aller spontanen Verschiedenheit wuchsen
Furtwänglers Aufführungen immer aus dem Keim ihres Be-
ginns. Sie wirkten ››natürlich«, wenn man dem Künstler zuge-
steht, daß er wie die Natur, oder analog zur Natur, verfährt.
Sie fiihrten zur Coda wie zu einem Brennspiegel, zu einer ab-
schließenden Konzentration innerer Kräfte, zumal in den
ersten Siitzen der großen Moll-Symphonien ~ der Neunten,
cler ››Unvollendeten<<, der g-Moll-Symphonie Mozarts. Das
Leben eines Musikstücks, so fühlte inan dann, sei zu Ende
gelebt, und die Coda zöge daraus die tragische Bilanz.

In einer Zeit, deren Denken zunehmend von Sprachphilo-
sophie und Linguistik geprägt wird, vergißt man leicht, daß
man auch ohne die Hilfe der Sprache organisiert denken kann..."

....und ohne Regie-Einfälle ein Werk verstehen kann.




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