Tschutora
…… so verlieren vorwiegend ältere Fräulein und
eingefleischte Junggesellen unter den pensionierten Beamten ihr Herz an
Kanarienvögel und Hunde. Zwar akzeptiert er die Mutmaßung, daß, wer Tiere
liebt, kein böser Mensch sein kann, doch hegt er zugleich den Verdacht, daß
manche es einfach bequemer und billiger finden, ein Tier statt eines Menschen
zu lieben. Ihm erscheint es als Ausflucht, etwa so, als versuche jemand, sein
gewaltiges Liebesdefizit Menschen gegenüber mit Trinkgeld oder aus der
Portokasse zu begleichen.
» Tiere lieben ... «, sinnt er weiter, auch das ist
nur so eine Floskel. Am Ende liegt ihm gar nichts an Tieren, normalerweise
jedenfalls. Wenn er an Rinder, Kaninchen oder Hunde, an ihr Schicksal im
allgemeinen denkt, so rührt ihn das nicht sonderlich. Ihm ist stets und in
allem nur am Individuum gelegen, er liebt auch nicht »die Menschheit«, sondern
pflegt Beziehungen ausschließlich und allenfalls mit gewissen von ihm selbst
gewählten Menschen. Jedes allgemeine Gefühl, jeder kategorische Enthusiasmus
erfüllt ihn mit Argwohn; hat er doch die Erfahrung gemacht, daß diejenigen, die
für »die Menschheit« oder für »die Tierwelt« insgesamt und bedingungslos ein
großes Herz haben, oft einen Josef oder einen herrenlosen Hund, der sie
anbettelt, mit einem Achselzucken verrecken lassen.
Es fällt ihm dennoch
schwer, den Widerstand aufzugeben; die Scham, die ihn überkommt, wenn er sich
um ein Tier kümmert, wohl wissend, daß jetzt gerade hundert Millionen Menschen
auf der Erde ... - doch wie soll er sich mit hundert Millionen Menschen
abgeben? Wie soll er sie alle lieben? Wie kann er etwas für sie tun, wenn er
keinen einzigen von ihnen kennt? Vielleicht sollte man die Welt doch einfach da
anpacken, wo sie einem am nächsten ist, wo man sie zu fassen bekommt? Und was
für eine schockierende und deprimierende Entdeckung ist für ihn auch die
Tatsache, daß Leben auf dieser Welt immer zugleich Leben gegen andere ist, vor
allem wenn man anfängt, mit wachsender Hingabe für jemanden zu leben. Die Welt
ist voll von rachitischen Kindern, krebskranken Greisen, unbegabten Autoren,
mißverstandenen Genies, unansehnlichen Frauen und Ringern mit Leistenbruch: Ihm
ist bewußt, daß seine vornehmste Aufgabe darin bestände, diesen zu helfen,
möglichst allen und nachhaltig - und dann, wenn all das erledigt ist und er
immer noch einen kleinen Überschuß an Gefühlen, Hingabe und Eifer hat, dann
darf er diesen zum Beispiel auch an einen Hund verschwenden ... Doch eine
solche Lösung, die zugleich mit einer umfassenden Erlösung der Welt verbunden
ist, wird, wie er befürchtet, nicht leicht zu erreichen sein.
Tschutora weiß noch nicht, wie lang eine Minute oder
ein Tag ist, ihm fehlt auch das Gefühl dafür, was mehrere Tage sind. Geht ein
Hausgenosse fort und bleibt eine halbe Stunde weg, so ist er bei dessen
Rückkehr genauso glücklich, empfängt ihn mit ebenso wilden Sprüngen,
strahlenden Augen und sich freudig überschlagendem Bellen, als wäre sie oder er
nach tagelanger Abwesenheit heimgekehrt. Auch wenn Theres nur für eine Minute
aus dem Zimmer geht, wird sie anschließend so begeistert begrüßt, als käme sie
von einer langen Reise zurück. Noch wird er nur von seinem »Instinkt« durch die
Gefahren und Möglichkeiten der vier Dimensionen geleitet, diese in der Zeit
sich vollziehende mehrdimensionale Welt ist für ihn noch immer nur irgendein
wohliges Durcheinander, Wissen und Erfahrung konnten die angenehm schweifende
Ziellosigkeit, in der er lebt, noch nicht zerstreuen. Er kommt ganz gut ohne
Zeitgefühl aus: Seine Herrschaften beneiden ihn um die uneingeschränkte
Freiheit, in der er sich weder durch Mutmaßungen noch durch Vorurteile stören
läßt. Er lebt ohne Zeit, und auch die Gesetze des Raums sind ihm gleichgültig.
Was für eine wilde, unbändige Freude, wenn einer ·der
Hausleute heimkommt! Es hat noch nicht geläutet, und auch Schritte sind auf den
Stufen nicht zu hören, doch der Winzling Tschutora, der absolut nichts von Zeit, Raum und Entfernungen
versteht, ist bereits aus seinem Dösen aufgeschreckt und sitzt in
Habachtstellung. Gewiß hat er noch nicht den leisesten Laut vernommen, der
Heimkommende ist womöglich erst unten an der Haustür, und es werden noch
Minuten vergehen, bevor sich der Schlüssel im Schloß der Wohnungstür dreht. Tschutora aber weiß längst Bescheid und
blickt dem Herannahenden mit ungeduldiger Erwartung entgegen. Welche
Sinnesorgane sind es, die ihm diese Information übermitteln? Die Augen, die
Ohren, die Nase? Unzulängliche Begriffe allesamt. Ein viel feineres
Instrumentarium, mit dem Tschutora die Welt wahrnimmt, überprüft und
registriert, ist bereits in Funktion, wenn der Ankommende gerade erst in die
Gasse einbiegt. Drahtlos, über Frequenzen, die mysteriöser und rätselhafter
sind als alles, was der Mensch mit seinen subtilsten Apparaturen zu empfangen
vermag, erreicht ihn die Information; Membranen von größerer
Schallempfindlichkeit als jedes Mikrophon übermitteln ihm Geräusche, für deren
Wahrnehmung der Mensch kein geeignetes Instrument besitzt; hier tritt jenes
nicht zu benennende Fluidum, ein Begleitphänomen des organischen Lebens, in
Aktion, dessen Schwingungen uns so wenig bekannt sind wie die Beschaffenheit
des elektrischen Stromes und das, was wir bequem und vereinfachend »Instinkt«
nennen. So ist Tschutora also längst über die Absicht des Heimkehrenden iformiert,
wenn dieser noch an der nächsten Straßenecke mit einem Nachbarn plaudert. Als
Kreatur ist er minderwertiger, kann nicht reden, und seine Bildung läßt zu
wünschen übrig, Tschutora ist auch nicht in der Lage, die höheren Weihen der
Hundeausbildung zu erlangen, er mag nicht auf zwei Beinen gehen, und es gibt
nur wenig Hoffnung, daß er dereinst im Zirkus Karriere macht, wo gelehrte und
gelehrige Hunde vor dem faszinierten und applaudierenden Publikum zweibeinig
auf dem Seil tanzen und dabei in der Pfote einen roten Sonnenschirm schwenken.
Nein, Tschutora ist gedrungen, fast plump, sogar ein bißchen gewöhnlich, ein Bauer,
wie Theres zu sagen pflegt. Doch dafür besitzt er andererseits nebensächliche
Fähigkeiten, dank derer er zum Beispiel vom Herannahen einer vertrauten Person
schon Minuten vor deren Ankunft Kenntnis hat. Er setzt sich in Positur, rennt
zur Eingangstür, nimmt hier in der Stadtwohnung, zwischen Mauern und Mobiliar,
Witterung auf wie ein Jagdhund in freier Wildbahn, der - wie es in der
Jägersprache heißt - »das Wild ausmacht«. Sie muß in der Nähe sein! ...
vermeldet er mit der Sprache seines ganzen Wesens, die nervösen Ohren, der
hochstehende buschige Schwanz senden Signale aus. Und Tschutora irrt sich
nicht, niemals. ·Sie muß bereits durchs Tor gehen, kommt schon die Stiege hoch,
teilt er in immer begeisterter geäußerten Morsezeichen mit. Dann kläfft er einmal
in seiner Aufregung. Stürzt ins andere Zimmer, stellt sich vor den Herrn, bellt
ihn an, hüpft ihm aufs Knie, rast zurück zur Tür, versucht mit den Vorderpfoten
die Türklinke zu erreichen, wirft sich mit der Brust gegen die Tür, jagt noch
einmal in Kreisen durch die Wohnung, sein Geheul, Gerenne und andere Zeichen
der Freude, die alle Erklärungen überflüssig machen, annoncieren
überschwenglich: »Sie kommt! ... Verstehst du denn nicht? ... Sie ist da! Was
für ein Glück! Juchhe! Gleich tritt sie ein!« Dann stemmt er die Vorderpfoten
gegen die Tür, verharrt in der Stellung, um sie gleich ganz in Besitz zu
nehmen. Und erst jetzt dreht sich der Schlüssel im Schloß der Vorzimmertür.
Mit einem Satz springt er an der Eintretenden hoch,
plumpst auf den Boden zurück, rutscht aus, überschlägt sich ....., hüpft wieder an der Dame hoch, quittiert ihre Heimkehr mit
fröhlichem Gebell, mit Schweifeln und Schnuppern. Hechelnd und mit hängender Zunge, aber strahlenden
Auges und mit unmißverständlich liebevollem Blick, fixiert er die Erscheinung,
die den Gefahren der Welt entgangene, heimgekehrte Dame.
____________________
Aus "Ein Hund mit Charakter" von Sandor Marai.
Im übrigen habe ich mit Katzen diesselbe Erfahrung gemacht: Irgendwie scheint die Zeit der Menschen und Tiere nicht ganz synchron zu laufen.