Mittwoch, 11. September 2024

Tschutora und Zeit und Raum


…… verlieren vorwiegend ältere Fräulein und eingefleischte Junggesellen unter den pensionierten Beamten ihr Herz an Kanarienvögel und Hunde. Zwar akzeptiert er die Mutmaßung, daß, wer Tiere liebt, kein böser Mensch sein kann, doch hegt er zugleich den Verdacht, daß manche es einfach bequemer und billiger finden, ein Tier statt eines Menschen zu lieben. Ihm erscheint es als Ausflucht, etwa so, als versuche jemand, sein gewaltiges Liebesdefizit Menschen gegenüber mit Trinkgeld oder aus der Portokasse zu begleichen.

» Tiere lieben ... «, sinnt er weiter, auch das ist nur so eine Floskel. Am Ende liegt ihm gar nichts an Tieren, normalerweise jedenfalls. Wenn er an Rinder, Kaninchen oder Hunde, an ihr Schicksal im allgemeinen denkt, so rührt ihn das nicht sonderlich. Ihm ist stets und in allem nur am Individuum gelegen, er liebt auch nicht »die Menschheit«, sondern pflegt Beziehungen ausschließlich und allenfalls mit gewissen von ihm selbst gewählten Menschen. Jedes allgemeine Gefühl, jeder kategorische Enthusiasmus erfüllt ihn mit Argwohn; hat er doch die Erfahrung gemacht, daß diejenigen, die für »die Menschheit« oder für »die Tierwelt« insgesamt und bedingungslos ein großes Herz haben, oft einen Josef oder einen herrenlosen Hund, der sie anbettelt, mit einem Achselzucken verrecken lassen. Es fällt ihm dennoch schwer, den Widerstand aufzugeben; die Scham, die ihn überkommt, wenn er sich um ein Tier kümmert, wohl wissend, daß jetzt gerade hundert Millionen Menschen auf der Erde ... - doch wie soll er sich mit hundert Millionen Menschen abgeben? Wie soll er sie alle lieben? Wie kann er etwas für sie tun, wenn er keinen einzigen von ihnen kennt? Vielleicht sollte man die Welt doch einfach da anpacken, wo sie einem am nächsten ist, wo man sie zu fassen bekommt? Und was für eine schockierende und deprimierende Entdeckung ist für ihn auch die Tatsache, daß Leben auf dieser Welt immer zugleich Leben gegen andere ist, vor allem wenn man anfängt, mit wachsender Hingabe für jemanden zu leben. Die Welt ist voll von rachitischen Kindern, krebskranken Greisen, unbegabten Autoren, mißverstandenen Genies, unansehnlichen Frauen und Ringern mit Leistenbruch: Ihm ist bewußt, daß seine vornehmste Aufgabe darin bestände, diesen zu helfen, möglichst allen und nachhaltig - und dann, wenn all das erledigt ist und er immer noch einen kleinen Überschuß an Gefühlen, Hingabe und Eifer hat, dann darf er diesen zum Beispiel auch an einen Hund verschwenden ... Doch eine solche Lösung, die zugleich mit einer umfassenden Erlösung der Welt verbunden ist, wird, wie er befürchtet, nicht leicht zu erreichen sein. Der Herr bleibt an der Tür stehen, kratzt sich den Kopf und blickt auf den Hund hinab, der ihn kaum beachtet; er hat nämlich damit zu tun, aus dem Spalt neben dem Ofen ein Bröckchen Kohle herauszukratzen und öffnet sie, legt sich im Dunkeln still vors Bett und wartet.

 Tschutora weiß noch nicht, wie lang eine Minute oder ein Tag ist, ihm fehlt auch das Gefühl dafür, was mehrere Tage sind. Geht ein Hausgenosse fort und bleibt eine halbe Stunde weg, so ist er bei dessen Rückkehr genauso glücklich, empfängt ihn mit ebenso wilden Sprüngen, strahlenden Augen und sich freudig überschlagendem Bellen, als wäre sie oder er nach tagelanger Abwesenheit heimgekehrt. Auch wenn Theres nur für eine Minute aus dem Zimmer geht, wird sie anschließend so begeistert begrüßt, als käme sie von einer langen Reise zurück. Noch wird er nur von seinem »Instinkt« durch die Gefahren und Möglichkeiten der vier Dimensionen geleitet, diese in der Zeit sich vollziehende mehrdimensionale Welt ist für ihn noch immer nur irgendein wohliges Durcheinander, Wissen und Erfahrung konnten die angenehm schweifende Ziellosigkeit, in der er lebt, noch nicht zerstreuen. Er kommt ganz gut ohne Zeitgefühl aus: Seine Herrschaften beneiden ihn um die uneingeschränkte Freiheit, in der er sich weder durch Mutmaßungen noch durch Vorurteile stören läßt. Er lebt ohne Zeit, und auch die Gesetze des Raums sind ihm gleichgültig.

 Was für eine wilde, unbändige Freude, wenn einer ·der Hausleute heimkommt! Es hat noch nicht geläutet, und auch Schritte sind auf den Stufen nicht zu hören, doch der Winzling Tschutora, der absolut nichts von Zeit, Raum und Entfernungen versteht, ist bereits aus seinem Dösen aufgeschreckt und sitzt in Habachtstellung. Gewiß hat er noch nicht den leisesten Laut vernommen, der Heimkommende ist womöglich erst unten an der Haustür, und es werden noch Minuten vergehen, bevor sich der Schlüssel im Schloß der Wohnungstür dreht. Tschutora aber weiß längst Bescheid und blickt dem Herannahenden mit ungeduldiger Erwartung entgegen. Welche Sinnesorgane sind es, die ihm diese Information übermitteln? Die Augen, die Ohren, die Nase? Unzulängliche Begriffe allesamt. Ein viel feineres Instrumentarium, mit dem Tschutora die Welt wahrnimmt, überprüft und registriert, ist bereits in Funktion, wenn der Ankommende gerade erst in die Gasse einbiegt. Drahtlos, über Frequenzen, die mysteriöser und rätselhafter sind als alles, was der Mensch mit seinen subtilsten Apparaturen zu empfangen vermag, erreicht ihn die Information; Membranen von größerer Schallempfindlichkeit als jedes Mikrophon übermitteln ihm Geräusche, für deren Wahrnehmung der Mensch kein geeignetes Instrument besitzt; hier tritt jenes nicht zu benennende Fluidum, ein Begleitphänomen des organischen Lebens, in Aktion, dessen Schwingungen uns so wenig bekannt sind wie die Beschaffenheit des elektrischen Stromes und das, was wir bequem und vereinfachend »Instinkt« nennen. So ist Tschutora also längst über die Absicht des Heimkehrenden iformiert, wenn dieser noch an der nächsten Straßenecke mit einem Nachbarn plaudert. Als Kreatur ist er minderwertiger, kann nicht reden, und seine Bildung läßt zu wünschen übrig, Tschutora ist auch nicht in der Lage, die höheren Weihen der Hundeausbildung zu erlangen, er mag nicht auf zwei Beinen gehen, und es gibt nur wenig Hoffnung, daß er dereinst im Zirkus Karriere macht, wo gelehrte und gelehrige Hunde vor dem faszinierten und applaudierenden Publikum zweibeinig auf dem Seil tanzen und dabei in der Pfote einen roten Sonnenschirm schwenken. Nein, Tschutora ist gedrungen, fast plump, sogar ein bißchen gewöhnlich, ein Bauer, wie Theres zu sagen pflegt. Doch dafür besitzt er andererseits nebensächliche Fähigkeiten, dank derer er zum Beispiel vom Herannahen einer vertrauten Person schon Minuten vor deren Ankunft Kenntnis hat. Er setzt sich in Positur, rennt zur Eingangstür, nimmt hier in der Stadtwohnung, zwischen Mauern und Mobiliar, Witterung auf wie ein Jagdhund in freier Wildbahn, der - wie es in der Jägersprache heißt - »das Wild ausmacht«. Sie muß in der Nähe sein! ... vermeldet er mit der Sprache seines ganzen Wesens, die nervösen Ohren, der hochstehende buschige Schwanz senden Signale aus. Und Tschutora irrt sich nicht, niemals. ·Sie muß bereits durchs Tor gehen, kommt schon die Stiege hoch, teilt er in immer begeisterter geäußerten Morsezeichen mit. Dann kläfft er einmal in seiner Aufregung. Stürzt ins andere Zimmer, stellt sich vor den Herrn, bellt ihn an, hüpft ihm aufs Knie, rast zurück zur Tür, versucht mit den Vorderpfoten die Türklinke zu erreichen, wirft sich mit der Brust gegen die Tür, jagt noch einmal in Kreisen durch die Wohnung, sein Geheul, Gerenne und andere Zeichen der Freude, die alle Erklärungen überflüssig machen, annoncieren überschwenglich: »Sie kommt! ... Verstehst du denn nicht? ... Sie ist da! Was für ein Glück! Juchhe! Gleich tritt sie ein!« Dann stemmt er die Vorderpfoten gegen die Tür, verharrt in der Stellung, um sie gleich ganz in Besitz zu nehmen. Und erst jetzt dreht sich der Schlüssel im Schloß der Vorzimmertür.

Mit einem Satz springt er an der Eintretenden hoch, plumpst auf den Boden zurück, rutscht aus, überschlägt sich und stürmt, als könnte er das Glück der körperlichen Nähe kaum ertragen, in großen Kreisen durch die Zimmer, wirbelt die Teppiche durcheinander, rennt um, was im Weg steht, als hätte er eine aufgestaute unendliche Freude auszutoben. Danach erst kommt er zu sich, hüpft wieder an der Dame hoch, quittiert ihre Heimkehr mit fröhlichem Gebell, mit Schweifeln und Schnuppern und wirft sich dann plötzlich erschöpft auf den Teppich. Hechelnd und mit hängender Zunge, aber strahlenden Auges und mit unmißverständlich liebevollem Blick, fixiert er die Erscheinung, die den Gefahren der Welt entgangene, heimgekehrte Dame.

 

 


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