...über
den Mißbrauch der Informationspflicht
Von Heinz Friedrich.
Niemand hat in unserem
Jahrhundert einem bestimmten Typus Presse und damit einer bestimmten
Journalisten-Spezies gründlicher die Leviten gelesen als Karl Kraus. Die
Jahrgänge der Fackel von 1899 bis 1936 sind eine einzige Anklage gegen die schwarzen Magier
der öffentlichen Meinung, die - nach Kraus -die abendländische Kultur
liquidieren. Pamphlet um Pamphlet schleuderte er den ebenso kurzsichtigen wie
überheblichen Skribenten entgegen. Erbarmungslos bis zur eifernden Monomanie
nahm er Artikel für Artikel unter seine kritische Lupe und attestierte dem
europäischen Geist journalistisch-feuilletonistischen Trichinenbefall. überall,
vermerkt er im November 1908 in einem ,Apokalypse' betitelten Aufruf zur
Erhaltung der Fackel, überall dringen die „ Gase aus der
Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote
Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr soviel Geist gekostet hat,
daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nutzen". Und pessimistisch
prophezeit er angesichts dieser Diagnose den „Untergang der Welt durch
schwarze Magie", sprich: durch die mißbrauchte Allmacht der Presse. Denn
längst erweise sich das Hirn unserer Zivilisation als „camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht" sei.
Diese, durch Druckerschwärze verdunkelte Welt werde selbst ihren Untergang
noch mit Vergnügen ertragen, wenn ihr nur dessen „kinemathographische Vorführung nicht versagt" bleibe.
Nun:
inzwischen werden uns diese „kinemathographischen Vorführungen" des
abendländischen Zerfalls Abend für Abend per Mattscheibe frei Haus geflimmert.
Im Schaukelstuhl und bei kühlem Bier genießen wir, was noch keiner Generation
zuvor zu genießen vergönnt war: den Nervenkitzel der eigenen Agonie. Denn seit
den Anklagen von Karl Kraus hat sich in der Presse und anderswo nichts geändert
- zumindest nicht zum Besseren. Im Gegenteil, die modernen Multiplikatoren,
bezeichnenderweise „Massenmedien" genannt, haben inzwischen das ihre
tatkräftig zur Lust am Untergang beigetragen. Unbekümmert wird tagtäglich die
Pressefreiheit auf und unter dem Strich, wohin sie gelockt wurde, genotzüchtigt
- wobei die Hintertreppe, auf der dies geschieht, als Boulevard ausgegeben
wird.
Karl
Kraus ist tot. Er starb 1936. Zu Hitler fiel ihm, nach eigenem Zeugnis, bereits
nichts mehr ein- aber wie verzweifelter noch wäre er wohl verstummt angesichts
unserer gegenwärtigen Schlagzeilen-Hysterie, deren sadistisch-masochistische
Obertöne eine erschreckend inhumane Grundhaltung gewisser Meinungshüter
verraten. Der geistige Mief, der aus den schein-ethischen Kulissen von
Pressefreiheit, Informationspflicht, Aufklärung und sogenanntem kritischen Bewußtsein
hochsteigt, verschmutzt die menschliche Umwelt keineswegs geringer und auch
keineswegs weniger tödlich als die Abgase der Blechgeschwader und der Auswurf
der Ölschlote - nur: davon redet kaum einer, weil die Angst vor dem ins Kraut
schießenden publizistischen Informationsterror hierzulande beklemmend groß
ist. Die Tage eines Karl Kraus, da immerhin ein paar miese Schreiber vor jedem
neuen Heft der Fackel zitterten, sind längst dahin, und ungehemmt darf heute jeder
Zeilenschinder seinen publizistischen Rang nach dem Winkel des eigenen
beschränkten Horizontes selbst bestimmen und behaupten, er entfalte bei diesem
eigenartigen Geschäft seine Persönlichkeit, sowohl geistig als auch moralisch. …
Die
Medien, diese teuflischen Multiplikatoren des menschlichen Unsinns, weben
eifrig den Schleier anthropologischer Illusionen, der jede wirkliche
Aufklärung der Gesellschaft verhindert, und zwar aus den gleichen Gründen, die
sie andernorts mit pseudomoralischer Entrüstung anprangern - aus den Gründen
nämlich des materiellen Profits und der demagogischen Macht. Denn längst werden
auf den Boulevards der bürgerlichen und auch der journalistischen Dämmerung
nicht mehr die heuchlerisch beschworenen Güter der Pressefreiheit und der sogenannten
Informationspflicht feilgeboten, sondern hier werden Nachrichten als
seelenpornographische Nervenkitzel zum Höchstpreis verhökert, um dem trivialem
Klatschbedürfnis der Masse entgegenzukommen. Ersetzen die medialen Multiplikatoren
doch nicht nur den Brunnen, an dem die Weiber einst ihre Zungen entfesselten,
sondern auch den Pranger auf dem Markt, den die Menge mit pharisäischem Behagen
angaffte.
…..
Auf solche Einwände angesprochen, reagieren die Nachrichten-Macher stets mit
moralisch-kritisch-freiheitlichen Beteuerungen und biederem Augenaufschlag.
Wissen sie doch genau, daß, wer über die Multiplikatoren der öffentlichen
Meinung verfügt, auch über beträchtliche Macht verfügt- und Macht hat leider,
trotz ihrer fragwürdigen Aspekte, noch immer das letzte Wort. Ihr dieses letzte
Wort wenigstens in der gefährlichen pseudo-journalistischen Spielart zu
entziehen, ist ein schwieriges Geschäft, weil die häufigste Erscheinungsform
der Zeitungslüge die Halbwahrheit ist. Nichts aber läßt sich schwerer
widerlegen als Halbwahrheiten, weil sie dem zur Rede gestellten Schreiber jede
nur erdenkliche Ausflucht gestatten, zumal dann, wenn diese Ausflucht noch
durch den weinerlichen Hinweis auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit
akzentuiert wird
Aus
dieser Perspektive angeschaut, erweisen sich die Schlagzeilen besagter Blätter
und geistig benachbarter Medien als Kilometersteine der menschlichen Dummheit
auf dem Weg in die Verfinsterung. Die Ironie ohne tiefere Bedeutung und die
Pointe als Presseausweis genügen kaum als Rechtfertigung eines Anspruchs auf
Pressefreiheit. Auch die Pressefreiheit muß, wie jede Freiheit, in einem
immerwährenden Prozeß stets neu errungen und durch die redliche Tat bestätigt
werden, wenn sie nicht zum Aberwitz absinken soll. Wer unter Pressefreiheit
lediglich die Verlegung von Stammtischgemaule und Bargeflüster in die Redaktionen
versteht, hat sie bereits gründlich mißverstanden und mißbraucht.
Unabhängigkeit im Titel und Impressum eines Publikationsorgans ist eine
Verpflichtung, aber kein journalistischer Freibrief.