Schopenhauer: Eristische Dialektik
oder: Die Kunst, Recht zu behalten.
Kunstgriff 30
Das argumentum ad
verecundiam [an die Ehrfurcht gerichtetes Argument]. Statt der Gründe brauche
man Autoritäten nach Maßgabe der Kenntnisse des Gegners.
Unusquisque mavult
credere quamjudicare [jeder will
lieber glauben als urteilen]: sagt Seneca [De vita beata, Ι, 4]; man hat also leichtes Spiel, wenn man
eine Autorität für sich hat, die der Gegner respektiert. Es wird aber für ihn desto mehr gültige Autoritäten geben, je beschränkter seine Kenntnisse
und Fähigkeiten sind. Sind etwa diese vom ersten Rang, so wird es höchst wenige
und fast gar keine Autoritäten für ihn
geben. Allenfalls wird er die der Leute vom Fach in einer ihm wenig oder gar
nicht bekannten Wissenschaft, Kunst, oder Handwerk gelten lassen: und auch
diese mit Mißtrauen. Hingegen haben die gewöhnlichen Leute tiefen Respekt fü
die Leute vom Fach jeder Art. ….
Allein für das Vulgus [Volk] gibt es gar viele Autoritäten die Respekt
finden: hat man daher keine ganz passende, so nehme man eine scheinbar
passende, führe an, was Einer in einem andern Sinn, oder in andern
Verhältnissen gesagt hat. ….. Auch
sind allgemeine Vorurteile als Autoritäten zu gebrauchen. Denn die meisten
denken mit Aristoteles ά μεν πολλοις
öοκει ταυτα γε εινειφαμεν [was vielen richtig scheint, das, sagen wir, ist]:
ja, es gibt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der
ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat, sie zu überreden, daß solche
allgemein angenommen sei. Das Beispiel wirkt auf ihr Denken, wie auf ihr Tun.
Sie sind Schafe, die dem Leithammel nachgehn, wohin er auch führt…. Es ist sehr seltsam, daß die Allgemeinheit
einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen hat, da sie doch an sich selbst sehn können,
wie ganz ohne Urteil und bloß kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber
das sehn sie nicht, weil alle Selbstkenntnis ihnen abgeht. - Nur die
Auserlesenen sagen mit Plato τοις πολλοις πολλα öοκει [Die Vielen haben viele
Meinungen]
…..
Die Allgemeinheit einer
Meinung ist, im Ernst geredet, kein Beweis, ja nicht einmal ein Wahrscheinlichkeitsgrund
ihrer Richtigkeit. Die, welche es behaupten, müssen annehmen, daß die zeitliche Entfernung jener Allgemeinheit
ihre Beweiskraft raubt: sonst müßten sie
alle alten Irrtümer zurückrufen, die einmal allgemein für Wahrheiten galten….
Was man so die allgemeine
Meinung nennt, ist, beim Lichte betrachtet, die Meinung Zweier oder Dreier Personen;* und davon würden
wir uns überzeugen, wenn wir der Entstehungsart so einer allgemeingültigen
Meinung zusehn könnten. Wir würden
dann finden, daß zwei oder drei Leute* es
sind, die solche zuerst annahmen oder aufstellten und behaupteten, und denen
man so gütig war, zuzutrauen, daß sie solche recht gründlich geprüft hatten: auf
das Vorurteil der hinlänglichen Fähigkeit dieser nahmen zuerst einige Andre die
Meinung ebenfalls an; diesen wiederum glaubten viele andre, deren Trägheit
ihnen anriet, lieber gleich zu glauben, als erst mühsam zu prüfen. So wuchs νon Tag zu Tag die Zahl solcher trägen und
leichtglaubigen Anhänger: denn hatte die Meinung erst eine gute Anzahl Stimmen
für sich, so schrieben die Folgenden dies dem zu,
daß sie solche nur durch die Triftigkeit ihrer Gründe hatte erlangen können.
Die noch ϋbrigen waren jetzt genötigt, gelten zu lassen, was allgemein galt, um
nicht für unruhige Köpfe zu gelten, die sich gegen
allgemeingültige Meinungen auflehnten, und naseweise Bursche, die klüger sein
wollten als alle Welt. Jetzt
wurde die Beistimmung zur Pflicht. Nunmehr müssen die Wenigen, welche zu
urteilen fähig sind, schweigen: und die da reden düfen, sind solche, welche
völlig unfähig sind, eigne Meinungen und eignes Urteil zu haben, das bloße Echo
fremder Meinung sind; jedoch sind sie desto eifrigere und unduldsamere
Verteidiger derselben. Denn
sie hassen am Andersdenkenden nicht sowohl die andre Meinung, zu der er sich
bekennt, als die Vermessenheit, selbst urteilen zu wollen; was sie ja doch
selbst nie unternehmen und im Stillen sich dessen bewußt sind. - Kurzum, Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen
Alle haben: was bleibt da anderes iibrig, als daß sie solche, statt sie
sich selber zu machen, ganz fertig νοn Andern
aufnehmen? - Da es so zugeht, was gilt noch die Stimme νοn hundert Millionen Menschen? - So viel wie etwa ein historisches
Faktum, das man in hundert Geschichtsschreibern findet, dann aber nachweist,
daß sie alle einer den andern ausgeschrieben haben, wodurch zuletzt alles auf
die Aussage eines Einzigen zuriicklauft.
«Dico ego, tu dicis, sed denique dίxit et ille : Dictaque
post toties, nil nisi dicta vides.»
[Ich sag' es, du sagst es,
doch schließlich sagt es auch jener; Hat
man so oft es gesagt, bleibt nur noch Gesagtes übrig.]
____
Q.E.D.
oder: Besser geht's nicht!
* Auf die heutige Zeit aktualisiert sollte
man hier wohl „Organisationen“ oder „Interessengruppen“
einsetzen.