Das
Neue in der Kunst
(Nikolaus Schapfl)
Heute gibt es im Großen und Ganzen drei
Musikstile:
- Eine Ernste Musik, die für sich
die Rolle der Hochkultur beansprucht und dabei nur ein abgesonderter
Spezialbereich, ein Ghetto mit verschwindend geringem Anteil am
Gesamtmusikleben bleibt - kurz Musik, mit der die Menschen nicht leben.
- Zweitens die
Unterhaltungsmusik, meist eine Kultur des Banalen, des Bauches - wenn auch
nicht immer, denn wer würde bestreiten, daß es auch tieferschürfende,
beeindruckende Popsongs mit
künstlerischer Aussage und Kraft gibt.
- Und drittens einen Bereich der
tonalen und experimentellen Filmmusik, die zwar oft viel erhebende Ästhetik
ausstrahlt, aber per se ihr Zentrum
außerhalb von sich, untermalenden Charakter und meist eher Hintergrundmusik an
der Schwelle des Bewußtseins zu sein hat.
Die Frage
erhebt sich in eklatanter Weise: Wo ist eigentlich jene neue Musik, in der
wirklich die Sehnsüchte der Menschen nach Schönheit, nach erhebendem
Gesamtzusammenhang, nach Erleben umfassender Höhe und Tiefe ausgedrückt werden?
Die
heute übliche Einteilung in Hoch- und Massenkultur
Heute wird die neu entstehende, zeitgenössische
Musik und Komposition in E-Musik und U-Musik unterschieden. Diese Einteilung ist
Grundlage nicht nur für die theoretische Rezeption sondern auch für die
finanzielle Bewertung durch die Verwertungs- bzw. Urheberrechtsgesellschaften:
(a)
E-Musik (heute ein Ghetto und ein Kampfschauplatz): Nach
und parallel zur spätromantischen Epoche (Wagner/R, Strauss), wurde
- hauptsächlich durch die Zweite Wiener Schule - Neuland außerhalb der Tonalität
beschritten, umso energischer, je härter der Widerstand war. Die Musik sollte
von tiefsitzenden, engen Denkweisen befreit werden. Diese „Neue" Musik
wurde konsequent auf den dissonanten Anteil des Klangspektrums beschränkt unter
völligem Vergessen der Tatsache, daß nicht nur Dissonanzen, sondern auch
Konsonanzen zeitlose Bestandteile seiner Natur sind. Aber das dauerhafte
Verlangen nach tonalem Ausdruck, nach Melodie und Harmonie, welche ihre
Schönheit noch deutlicher im Kontrast zur Dissonanz offenbaren, konnte nicht
ausgelöscht werden, nicht einmal nach 80 Jahren strenger Umerziehung.
Inzwischen fand die Tonalität lebendigen Ausdruck in der Unterhaltungsmusik,
bedauerlicherweise unter Verlust ihres Hochkultur-Status. Ein
Komponist, der mit der Hochkultur etwas zu tun haben wollte, mußte sich der
neuen Ideologie unterordnen, welche das Spektrum nun auf die Dissonanzen
einengte.
Diese befremdliche Situation dauert bis heute an: (1) Hochkulturmusik wird - per Definition mit Atonalität identifiziert. (2)
Schönheit in der Musik ist ein Phänomen vergangener Epochen und kein Teil
zeitgenössischen Lebens mehr.
Die Konsequenz: Im Konzertleben hat sich die Sandwichtechnik etabliert, was heißt: Zwischen zwei Mozarts ein Ligeti, um zu vermeiden,
daß die Zuhörer nach der Pause fortgehen.
(b)
U-Musik (Populärmusik für die Masse, oft - nicht immer -
eine Kultur des Banalen) In diesem Zusammenhang steht irgendwie zwischen E und
U:
(c) Die tonale und experimentelle Filmmusik,
dh. vor allem Hintergrundmusik, keine absolute Musik, welche das Zentrum in
sich selbst hat. Das Aufleben der optischen Kultur bedeutet einen Verlust an
Abstraktion und Geist. Das, was die Menschen in der Musik als
„schön", erfüllend, aufbauend empfinden, wird von der Theorie
„zweitklassig", ,,weniger wert" betitelt, während, wer E-Musik, also
ernstzunehmende Hochkultur schaffen will, Nihilismus, atomisierte, bezugslos im
Raum treibende Ästhetizismen ohne Sinn bieten muß, Dekonstruktivismus (Alles
ist Nichts), institutionalisierte Aussagelosigkeit. Wer musikalische Schönheit
will, bekommt zu hören: ,,Gehen Sie zum Film... Gehen Sie in die
Pop-Branche!"
Eine
zerstörerische Avantgarde
Der bedeutende Komponist Helmut Lachenmann
(*1935), selbst ein Vertreter extremer Atonalität und Geräuschmusik, erzählte
mir bei einer größeren Tafel eines Abendessens neben mir sitzend - eigentlich
flüsterte er mir ins Ohr - sinngemäß: ,,In den fünfziger Jahren kamen die
(Neo-)Kommunisten zu uns und sagten : Ihr müßt das bürgerliche Denken
zerstören." Auch Hans-Werner Henze (*1926) verlautbarte in den sechziger
Jahren: ,,Die Musik heute muß den Sozialismus unterstützen." Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule (68er) steuerten viel Theorie bei. Für sie mußte die Musik eine Rolle in einem
umfassenden Veränderungsprozeß spielen.
«Künstler», auch solche, die fachlich nichts
konnten und bewußt keinerlei «Handwerk» betreiben wollten, sondern
provozierten, schockierten und die Menschen gezielt mit Atonalität, Disharmonie
und Häßlichkeit plagten, unterwanderten und infiltrierten in den 60er und 70er
Jahren die Kunstwelt fast vollständig. Sie diktierten den Könnern mit
Medienmacht und soziologischer Beredsamkeit das Dogma vom Ende der Harmonie,
der Tonalität, der Symmetrie und der Schönheit. Die Darstellung des Schönen,
Wahren und Guten wurde bewußt verteufelt, weil sie angeblich unkritisch mache
und das «System» stabilisiere, statt es zu zerstören. Deshalb sei sie
reaktionär.
«Die
reaktionäre Musik», schreibt Adorno, müsse «mit allen Mitteln der Polemik und
rücksichtslos angegriffen werden». . . Die «neue Musik» hatte nach Adorno
aktiv am Klassenkampf teilzunehmen. Die 1929 gegründete Frankfurter Ortsgruppe
der «Internationalen Gesellschaft für neue Musik» war für Adorno «die
Internationale» der Musik. Was für ihn Marx auf dem Gebiete der Soziologie war,
sei Schönberg auf dem Gebiet der Musik, Kunst also im Dienste des
Klassenkampfs, im Dienst einer totalitär marxistischen Ideologie. Adornos
Ästhetik im Dienste eines neomarxistischen Kulturkampfs gegen die Werte und
Normen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wurde im Gefolge der 68er
Revolte zum Programm vieler «Kunst»schaffender - ein historischer Vorgang, der bis heute fortwirkt.
Das Problem der heute noch ausschließlich als
„etabliert" geltenden atonalen Musik ist nicht ihr Wesen, sondern ihr
totalitärer Machtanspruch. Dunkelheit und Verzweiflung sollen als Monokultur
gelten. Was nicht negativ ist, ist „alt", reaktionär. Entspannung,
Erhabenheit sind ,,verboten".
Tonalität
und Atonalität
Wir haben in der bei uns gebrauchten,
wohltemperierten Stimmung zwölf Töne zur Verfügung. Mit diesen zwölf Tönen
erschließt sich uns der gesamte Bereich der Skala zwischen Konsonanz (Einklang,
Oktave, Quinte, Terz, Dreiklang usw.) über verschiedene Stufen der Dissonanz
bis hin zur höchstmöglichen Dissonanz (kleine Sekunde, große Septime, kleine
None, eventuell Tritonus usw.).
Die Atonalität beschränkt sich auf einen Teil des Tonspektrums,
nämlich auf die Dissonanz und geht auch oft bis zur Auflösung des Tonchromas,
dh. also bis hin zum Geräusch, ja zum Lärm. Die Verfechter der ausschließlichen
Atonalität wollen den Dreiklang und weitere Konsonanzen völlig verbannen, oft
prinzipiell, immer aber vor allem im Zusammenhang mit Dur-Moll-Tonalität, die
sich historisch herausgeschält hat.
In den 70er Jahren noch wurde an den
Musikhochschulen behauptet, bzw. es war das „politisch korrekte" Denken,
daß die Dur-Moll-Tonalität nur anerzogen, nur inkulturiert sei und daß wir uns endlich davon befreien und frei im
dodekaphonen Raum bewegen können. Schon Schönberg hatte prophezeit, die Kinder
würden in fünfzig Jahren seine Melodien auf der Straße singen. Solche
Voraussagen sind verstummt.
Die
Kultur des Sekundären
In den letzten Jahrzehnten entstanden kaum Werke,
welche die Uraufführung überlebten. Es gibt kaum Komponisten, die nach 1950
noch gelebt haben, deren Werke den Weg ins Repertoire geschafft hätten.
Ausnahmen sind vor allem Schostakowitsch, Prokofiev, Bernstein .... Wenn wir
die Zeitgrenze auf 1970 heranziehen, fällt es noch schwerer, überhaupt eine
danach entstandene Oper oder ein Orchesterwerk zu finden, daß auch nur
annähernd so regelmäßig gespielt wird wie ein Klassiker.
Angewachsen hingegen sind die Inszenierungen des
sogenannten Regietheaters, in denen klassische Opern, die meist vor 1900
komponiert wurden, umgedeutet werden. Werke einer lebendigen zeitgenössischen
Musikkultur, die sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit behaupten können als
Stücke vom und im „Herzen und Verstand" der heutigen Menschen, sind unbekannt.
Der Begriff Neue
Kunst wurde zum Etikett für immer dasselbe. Die Avantgarde des
Establishments ist seit Jahrzehnten unverändert - eine sehr alte Avantgarde.
Während die neu entstehende Kunst stagniert, erscheint die Arbeit von
Intendanten, PR-Fachleuten, Museumsdirektoren und Kritikern immer wichtiger.
Neue Opern werden bei Festivals oft nur einmal gespielt, so „Das Mädchen mit
den Schwefelhölzern" von Lachenmann bei den Salzburger Festspielen 2002, während
„Die Liebe der Danae" von Strauss fünfmal, Turandot siebenmal aufgeführt
wurde.
Die
Situation eines jungen Komponisten seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts:
Sie oder er wird genötigt, eine Musik zu
komponieren, die der herrschenden Ästhetik entspricht, in diesem Fall dem Kult
des Häßlichen, des Negativen, der Sinnlosigkeit, der Verzweiflung. Kunst, die
nicht nihilistisch ist, wird als politisch
nicht korrekt aufgefaßt. - Der bedeutende österreichische Komponist
Ernst-Ludwig Leitner, Professor am Mozarteum, drückte das Dilemma sinngemäß wie
folgt aus:,, Wenn du der herrschenden
Ästhetik gehorchst, bist du integriert, aber das, was integriert ist, will das
Publikum nicht hören."
So etwas wie Inspiration, Einfall, Atem ist nicht
nur fremd, sondern de facto Gegenstand von Ablehnung. Die Resultate sind meist
gehetzte, unnatürliche, entsetzlich sich in die Länge dehnende Quellen von
Langeweile, Klangansammlungen, bei denen es egal bleibt, wo man einsteigt, ob
da, wo man gestern aufgehört hat oder wo es übermorgen weiterginge.