"Gelegentlich
haben sogar Philosophen Kinder" heißt es bei Schopenhauer. Interessant wäre es, zu hören, wie sie diesen ihren Beruf erklären.
Politische, kulturelle und politische Kommentare ; literarische Kletzen. Motto: Prudenter dubitare!
Donnerstag, 28. September 2017
Samstag, 23. September 2017
Existenzanalyse
Viktor E. Frankl:
Die Existenzanalyse stellt,
angesichts der tatsächlichen Vergänglichkeit alles Seins, folgende Behauptung
auf: Vergänglich sind eigentlich nur die Möglichkeiten, die Chancen zur Wertverwirklichung,
die Gelegenheiten, die wir zum Schaffen oder zum Erleben - oder zum Leiden
(nämlich zum rechten Leiden, zum aufrechten Leiden von wirklich Unabänderlichem,
von echt Schicksalhaftem) haben: sobald wir diese Möglichkeiten jedoch
verwirklicht haben, sind sie nicht mehr «vergänglich», vielmehr sind sie
«vergangen››, sie sind vergangen –
und das will heißen: eben in ihrem Vergangensein «sind›› sie. Denn gerade in
ihrem vergangensein sind sie ja aufbewahrt, und nichts kann ihnen mehr etwas
anhaben, nichts kann mehr das, was einmal geschehen, was einmal vergangen ist,
aus der Welt schaffen: einmal vergangen, ist es vergangen ein für allemal und
«für alle Ewigkeit» (>>>Fußnote am
Ende des Textes),
Ich habe die Frage, wie sich ein «Optimist der
Vergangenheit» zum Pessimisten verhält, einmal an folgendem Gleichnis klarzumachen
versucht: Der Pessimist gleicht einem Manne, der vor einem Wandkalender steht
und wehmütig zusieht, wie dieser Kalender - von dem er täglich ein Blatt
abreißt - immer schmächtiger und schmächtiger wird. Der Optimist hingegen
gleicht einem, der das Kalenderblatt, das er jeweils entfernt, fein säuberlich
auf die bisher abgenommenen Blätter legt, sich auf der Rückseite Notizen macht
darüber, was er an diesem Tage getan oder erlebt bat, und nicht ohne Stolz auf
die Gesamtheit dessen zurückblickt, was da alles in diesen· Blättern festgelegt
- was alles in diesem Leben «festgelebt» ist.
Bedenken
Sie doch nur einmal, was solch ein Gesichtspunkt gegenüber dem Vergangensein -
wobei wir ja von nun an immer den Akzent auf «Sein» setzen! - praktisch, im
Leben des Menschen, bedeuten kann. Stellen Sie sich doch bloß einmal vor, eine
Kriegerwitwe wäre verzweifelt und hielte ihr künftiges Leben für sinnlos, eben
weil sie ihren Mann verloren und vielleicht nur ein einziges Jahr des Eheglücks
erlebt hat. Was muß es ihr doch bedeuten, zu hören und zu wissen, daß sie
immerhin dieses Jahr reinen Glücks «hinter sich gebracht» hat, daß sie es
hineingerettet hat ins Vergangensein, wo es geborgen ist «für alle Zeit», und
daß ihr nichts und niemand mehr die Tatsache, es eben nun einmal erlebt zu
haben, nehmen kann.
Nun
könnte einer fragen: Wer wird nach dem Tode dieser Frau die Erinnerung an ihren
Mann und an ihr Glück «lebendig» erhalten? Dazu wäre nun folgendes zu sagen:
Ob sie oder überhaupt jemand erinnernd daran zurückdenkt oder nicht, das ist
ebenso unwesentlich, wie es unwesentlich ist, ob wir an etwas, was neben uns
noch besteht, denken oder auf es hinblicken, oder nicht: es besteht unabhängig
von unserem Bewußtsein und von dessen Zuwendung zu ihm, und so besteht nicht
nur alles unabhängig von unserer subjektiven Hinwendung, sondern ebenso
unabhängig besteht es auch fort. Freilich «nehmen wir nichts ins Grab
mit»; aber ist die Totalität des Lebens, das wir gelebt haben und im Sterben
eben fertiggelebt haben, ist diese Totalität nicht etwas, was außerhalb aller
Gräber bleibt, und außerhalb ihrer eben auch bleibt? Und nicht nur
trotz der Vergänglichkeit bleibt, sondern eben gerade in seinem Vergangensein aufbewahrt
bleibt?
Nun, vergänglich ist alles. Gebe sich niemand der Illusion hin, daß etwa
ein leibliches Wesen, das leibhafte Kind, das wir in die Welt gesetzt haben,
weniger vergänglich sei als vielleicht ein großer Gedanke oder die große Liebe
- der jenes Kind entsprungen sein mag. Vergänglich ist all dies gleichermaßen.
«Das Leben des Menschen währet siebzig· Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig,
und wenn es köstlich war, . dann ist es Mühe und Arbeit gewesen.» Nun: der
«große Gedanke» dauert, in der Zeit, vielleicht sieben Sekunden; und wenn er
gut war, dann hat er die Wahrheit enthalten. Aber vergänglich ist er, der große
Gedanke, genau so und nicht mehr als das kleine Kind oder die große
Liebe; vergänglich ist alles.
Aber auch ewig ist alles.
Und nicht nur das, sondern es verewigt sich auch ganz von selbst. Darum
brauchen wir uns gar nicht darum zu kümmern, daß «wir» es verewigen; sobald wir
es nur einmal «gezeitigt» haben, sobald es von unserem Leben «gezeitigt» wurde,
- verewigen tut es sich schon von selbst. Wir haben also nicht darum Sorge zu
tragen, daß etwas verewigt werde; aber umso mehr tragen wir
Verantwortung - Verantwortung dafür, was alles da verewigt wird, indem
es eben von uns gezeitigt wird.
Ins
Protokoll der Welt «aufgenommen» wird alles, unser ganzes Leben, all unser
Schaffen, Lieben und Leiden; aufgenommen
wird es in dieses Protokoll und «aufgehoben», aufbewahrt bleibt es in ihm. Und
das Protokoll der Welt ist unverlierbar; das macht den Trost und unsere
Hoffnung aus. Aber es ist nicht nur unverlierbar, sondern auch unkorrigierbar,
und das ist eine Warnung und eine Mahnung an uns. Denn wenn wir sagten, daß
sich nichts Vergangenes aus der Welt schaffen lasse, bedeutet das nicht eine
Mahnung, es eben in die Welt zu schaffen? Und jetzt zeigt sich, daß wir
nicht nur dem existenzphilosophischen Pessimismus (der Gegenwart) einen Optimismus
der Vergangenheit entgegensetzen konnten, sondern, daß wir auch,
gleichzeitig damit, dem quietistischen Fatalismus (der Zeitlosigkeit) einen Aktivismus der Zukunft gegenüberstellen
könnten. Denn gerade angesichts der «ewigen» Aufbewahrtheit des Seins im Vergangensein
wird nun alles darauf ankommen, was wir, in der Gegenwart, imAugenblick, in
dieses Vergangen-Sein «hineinschaffen».
Aber was
ist eigentlich dieses «Schaffen ins Sein», in dieVergangenheit? Es ist
letztlich ein Schöpfen aus dem Nichts - aus dem Nichts der Zukunft. Und jetzt
verstehen wir auch, warum alles Sein so vergänglich ist, warum alle Dinge so
flüchtig sind: Alles ist «flüchtig» - weil es auf der Flucht ist. Auf der
Flucht vor dem Nichts der Zukunft in das Sein der Vergangenheit. Wie in einem horror
vacui, einem
Schrecken vor dem Nichts fürchtet alles das Nichts der Zukunft, flüchtet vor
diesem Nichts, und stürzt in die Vergangenheit und in ihr Sein. Aber vor dem
«Engpaß» der Gegenwart - da staut es sich und drängt es sich, und da «harrt
alles der Erlösung» ... Der Erlösung, die ihm zuteil wird, indem es - als
Ereignis - im Vergehen eingeht ins Vergangensein oder - als unser Erlebnis und
unsere Entscheidung - von uns eingelassen wird in die Ewigkeit.
Der
Engpaß der Gegenwart, diese enge Stelle, die vom Nichts der Zukunft
hinüberführt ins (ewige) Sein der Vergangenheit, ist nun, als Grenzfläche
zwischen dem Nichts und dem Sein, zugleich die Grenzfläche - der Ewigkeit.
Daraus ergibt sich aber nicht weniger als daß die Ewigkeit, als begrenzte,
eigentlich eine endliche Ewigkeit ist. Sie reicht jeweils nur bis zur Gegenwart
heran. Bis zu jener Gegenwart, in der wir entscheiden, was da Einlaß findet in
die Ewigkeit. So ist diese Grenzfläche der Ewigkeit, diese Grenzfläche
zwischen dem Nichts der Zukunft und dem Sein der Vergangenheit, in einem damit
jene Stätte, auf der in jedem Augenblick die Entscheidung fällt, was als von
uns Gezeitigtes sich von selber verewigt.
Und nun
sehen wir ein weiteres: Wenn man im alltäglichen Sinne von Zeitgewinn spricht,
dann denkt man immer an einen Gewinn von Zeit durch Hinausschieben in die
Zukunft. Wir aber wissen jetzt: wir «gewinnen Zeit» - wir gewinnen «an» Zeit,
oder wir gewinnen die Zeit «für uns», indem wir etwas, statt es in die Zukunft
hinauszuschieben, gerade umgekehrt in die Vergangenheit hineinretten.
Wie ist
es nun aber, wenn die Sanduhr, die uns so lange als Gleichnis gedient hat,
ausgeronnen ist? Wie ist es also, wenn - die Zeit verronnen ist? Wenn das
Dasein demnach «geronnen ist», wenn es zur Endgültigkeit gerinnt? Dies ist der
Fall im Tode.
Im Tode
ist alles immobil geworden, nichts ist disponibel; dem Menschen steht nichts
mehr zur Verfügung - kein Leib und keine Seele mehr ist ihm da verfügbar: es
kommt zum totalen Verlust des psychophysischen Ich. Was bleibt, ist nur noch
das Selbst, das geistige Selbst. Der Mensch hat also nach dem Tode kein Ich
mehr - er «hat» überhaupt nichts mehr, er «ist» nur mehr: eben sein Selbst.
Und wenn
man behauptet, im Sterben sehe der Mensch, etwa der im Gebirge abstürzende
Kletterer, sein ganzes Leben wie in einem Filmraffer in unheimlicher
Schnelligkeit nochmals vor sich ablaufen, dann könnten wir jetzt sagen: im Tode
ist der Mensch der Film selbst geworden. Er ist nunmehr sein Leben, sein
gelebtes Leben; er ist seine eigene Geschichte, sowohl die ihm geschehene
als die von ihm geschaffene. Und so ist er auch sein eigener Himmel und
seine eigene Hölle, je nachdem.
So· gelangen wir aber auch zu der
Paradoxie, daß die eigene Vergangenheit des Menschen die eigentliche Zukunft
ist, die er zu gewärtigen hat (Der
lebende Mensch hat Vergangenheit und hat Zukunft; der Sterbende hat keine
Zukunft mehr, sondern nur mehr Vergangenheit, der Tote aber ist seine Vergangenheit.)
Im
Tode hat der Mensch zwar kein Leben, aber dafür ist er es. Und daß es das
gewesene Leben ist, das er nunmehr «ist», das kann uns nun nicht mehr stören;
wissen wir doch, daß das Gewesensein die sicherste Form von Sein überhaupt
ist.
Dieses
Gewesensein aber ist recht eigentlich ein Gewesensein im Sinne des Perfectum
- und keineswegs mehr etwa des Imperfectum.
Denn das Leben ist ja jetzt
vollendet - erst als vollendetes «ist» es ja. Während also im Laufe der Zeit,
im Verlauf des Lebens, ähnlich wie beim Hindurchlaufen der Sandkörner durch die
enge Stelle der Sanduhr, immer aufs neue immer nur einzelne faits
accomplis in die Vergangenheit eingehen,
istjetzt, nach dem Tode, das ganze Leben, die Lebenstotalität, eingegangen ins
Vergangensein - als par-fait accompli.
Aber
dies führt uns zugleich zu einer zweiten Paradoxie, und einer doppelten noch
dazu: Denn wenn wir davon sprachen, daß wir etwas in die Welt schaffen, indem
wir es in das Sein der Vergangenheit hineinschaffen, dann ist es erstens der
Mensch selbst, der sich in die Welt schafft, er setzt «sich selbst» in die
Welt; und zweitens wird er nicht mit seiner Geburt in die Welt gesetzt, sondern
er setzt sich selber in die Welt erst im Tode.
Wenn wir
aber bedenken; daß es ja das Selbst
ist, das er im Tode (selber) in die Welt setzt, dann werden Wir über diese Paradoxie nicht mehr erstaunt
sein. Denn das Selbst «ist» ja eigentlich nicht, es «wird» doch immer erst. Es
kann somit gar nicht anders «sein» denn als gewordenes, eben als fertig
gewordenes. Und fertig geworden ist es erst - im Augenblick des Todes.
Freilich,
vom alltäglichen Menschen wird der Tod immer wieder mißverstanden. - Wenn der
Wecker ratscht und uns aus dem Traum aufschreckt, dann erleben wir, noch im
Traum befangen, den «Weckreiz» wie einen furchtbaren Einbruch in die Traumwelt,
und wir wissen nicht, daß uns der Wecker zu unserem eigentlichen Sein, zur
Tagwelt aufweckt. Ergeht es nun dem Sterbenden nicht ähnlich? Erschrecken wir
Sterbliche nicht ebenfalls vor dem Tode? Mißverstehen nicht auch wir, daß und
inwiefern er uns zu einer eigentlicheren, realeren Realität unserer selbst
erweckt?
Und die
zärtliche Hand, die uns aus dem Schlaf weckt - mag ihre Bewegung noch so
zärtlich sein: wieder erleben wir nicht ihre ganze Zärtlichkeit, nein, wir
empfinden sie wie einen schrecklichen Einbruch in unsere Traumwirklichkeit,
sobald sie versucht, unseren Schlaf hinwegzuscheuchen; auch den Tod, der unser
Leben fortnimmt von uns, erfahren wir im allgemeinen wie etwas Furchtbares, - das
an uns geschieht, und wir ahnen kaum, wie gut er es mit uns meint.
Wir
sagten vorhin, der Tod würde vom alltäglichen Menschen mißverstanden; das ist
zu wenig gesagt: die Zeit wird mißverstanden. Denn wie steht der
durchschnittliche Mensch zur «Zeit»? Er sieht nur das Stoppelfeld der
Vergänglichkeit - aber er sieht nicht die vollen Scheunen der Vergangenheit. Er
will, daß die Zeit stillstehe, auf daß nicht alles vergänglich sei; aber er
gleicht darin einem Manne, der da wollte, daß eine Mäh- und Dreschmaschine
stille steht und am Platz arbeitet, und nicht im Fahren; denn während die
Maschine übers Feld rollt, sieht er - mit Schaudern - immer nur das sich
vergrößernde Stoppelfeld, aber nicht die gleichzeitig sich mehrende Menge des
Korns im Innern der Maschine. So ist der Mensch geneigt; an den vergangenen
Dingen nur zu sehen, daß sie nicht mehr da sind; aber er sieht nicht, in welche
Speicher sie gekommen. Er sagt dann: sie sind vergangen, weil sie vergänglich
sind - aber er sollte sagen: vergangen sind
sie; denn: «einmal» gezeitigt, sind sie «für immer» verewigt.
Fußnote:
Was zu Ende ist, ist endgültig zu Ende; aber es ist eben auch endgültig: in seinem
Zu-Ende-sein bleibt es gültig, und insofern bleibt es auch - bestehen. Die
Einstellungswerte aber sind die einzigen, deren Verwirklichung buchstäblich
noch bis zum letzten Augenblick möglich ist; denn buchstäblich bis zum letzten
Augenblick ist es dem Menschen möglich, zum Schicksal sich ein-, sich umzustellen
- zu allem Schicksal, und so denn auch zum schicksalhaft gewordenen (weil
fertig gewordenen) Lebensganzen. So und nur so ist es auch zu verstehen, daß
Menschen zu der Auffassung gekommen. sind, das ganze Leben lasse sich auch
noch rückwirkend durch eine einzige große Reue in einem einzigen kleinen
Moment, eben «im letzten Moment», sühnen, weihen, sinnvoll machen.
http://kumpfus.blogspot.co.at/2008/01/grbel.html
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Montag, 18. September 2017
Entlarvung
"....Sigmund Freud hat einmal in einem Brief an die Prinzessin Bonaparte gemeint, «im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank; man hat nur eingestanden, daß man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat».Nun, ich persönlich glaube eher, daß man dann nur eines bewiesen hat, nämlich, daß man wirklich Mensch ist. Denn kein Tier hat jemals die Frage nach dem Sinn seines Daseins gestellt. Nicht einmal eine der Graugänse von Konrad Lorenz. Aber den Menschen, den quält diese Frage. Dennoch ist das nicht das Symptom einer Neurose, vielmehr sehe ich es für eine menschliche Leistung an, und zu ihr gehört nicht nur, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, sondern auch, einen solchen Sinn in Frage zu stellen.
Aber selbst, wenn es in einem Einzelfall wirklich so sein sollte, daß der Schöpfer eines literarischen Werkes richtiggehend krank ist - vielleicht sogar an einer Psychose leidet und nicht etwa nur an einer Neurose-, spricht dies auch nur im geringsten gegen Wert und Wahrheit seines Werkes? Ich glaube nicht. Zweimal zwei ist vier, auch wenn's ein Schizophrener behauptet. Und genauso glaube ich, daß es dem Wert von Hölderlins Dichtung und der Wahrheit von Nietzsches Philosophie keinen Abbruch tut, wenn ersterer an einer Schizophrenie erkrankt war und letzterer an einer Gehirnparalyse. Vielmehr bin ich überzeugt davon, daß die Namen jener Psychiater, die ganze Bücher geschrieben haben über die Psychosen dieser „Fälle", zu einer Zeit längst vergessen sein werden, zu der die Werke von Hölderlin und Nietzsche noch gelesen werden.
In letzter Zeit ist es Mode geworden, Literatur nicht nur psychiatrisch zu beurteilen, sondern im besonderen auf unbewußte Psychodynamik hin, die ihr zugrunde liegen mag. So kommt es denn, daß die sogenannte Tiefenpsychologie ihre Hauptaufgabe im Entlarven verborgener beziehungsweise ins Unbewußte verdrängter Motivationen erblickt. Dies gilt selbstverständlich auch von der literarischen Produktion. Was dabei herauskommt, wenn das Werk eines Dichters auf die Prokrustes-Couch gelegt wird, mögen Sie an einer Buchbesprechung ermessen, die eine amerikanische Zeitschrift einem zweibändigen Werk über Goethe widmete, dessen Verfasser einer der prominentesten Psychoanalytiker ist: ,,Auf den 1538 Seiten porträtiert uns der Autor ein Genie mit den Kennzeichen rnanisch-depressiver, paranoider und epileptoider Störung, Homosexualität, Inzest, Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus, Impotenz, Narzißmus, Zwangsneurose, Hysterie, Größenwahn usw. Der Autor scheint sich fast ausschließlich auf die dem Kunstwerk zugrunde liegende Triebdynamik zu beschränken. Er will uns glauben machen, Goethes Werk sei nichts als das Resultat prägenitaler Fixierungen. Sein Kampf gelte nicht etwa einem Ideal, der Schönheit, irgendwelchen Werten, sondern in Wirklichkeit der Überwindung vorzeitigen Samenergusses." - Hab' ich Ihnen zuviel versprochen? Wie weise war doch Freud selbst, wenn er einmal meinte, eine Zigarre müsse nicht immer als Penis-Symbol gedeutet werden, sondern könne einmal auch wirklich eine Zigarre bedeuten.
Ich möchte sagen, das Entlarven muß irgendwo haltmachen, und zwar genau dort, wo der Psychologe mit einem Phänomen konfrontiert ist, das sich einfach deshalb nicht weiter entlarven läßt, weil es echt ist. Wenn ein Psychologe aber auch dann noch nicht aufhört zu entlarven, dann entlarvt er noch immer etwas, aber was er dann entlarvt, ist sein eigenes unbewußtes Motiv, und das ist, das Menschliche im Menschen zu entwerten.
Man fragt sich nur, was dieses Demaskieren so attraktiv macht? Nun, es scheint für den Spießer ein Genuß zu sein, zu hören, daß Goethe auch nur ein Neurotiker war, ein Neurotiker wie du und ich, wenn ich so sagen darf. (Und wer sich von Neurose 100prozentig frei weiß, werfe den ersten Stein.) Irgendwie tut es anscheinend auch wohl, wenn einem gesagt wird, der Mensch sei nichts als ein nackter Affe, nichts als der Kriegsschauplatz von Es, Ich und Überich, nichts als der Spielball von Trieben, das Produkt von Lernprozessen, das Opfer sozio-ökonomischer Bedingungen und Umstände oder sogenannter Komplexe.
Mir will scheinen, als ob das Demaskieren, das ihnen der Reduktionismus mit seiner stereotypen Phrase „nichts als" vorexerziert, vielen Leuten eine ausgesprochen masochistische Freude bereitet. Dazu kommt noch, daß es, wie der Londoner Psychiater Brian Goodwin sagt, ,,den Leuten wohltut, wenn man ihnen einredet, sie seien nichts als dies oder jenes, genauso, wie die Leute glauben, ein Medikament, das wirksam sein soll, muß scheußlich schmecken".
Die Sprache normaler Menschen ist gegenstandsbezogen, sie weist über sich selbst hinaus. Mit einem Wort, Sprache ist ausgezeichnet durch ihre Selbst-Transzendenz. Und dasselbe gilt von menschlichem Dasein ganz allgemein. Mensch-Sein ist immer auf etwas gerichtet, das nicht wieder es selbst ist - auf etwas oder auf jemanden, auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf anderes menschliches Sein, dem er da begegnet."
V. E. Frankl: "Was sagt der Psychiater zur modernen Literatur?". Vortrag, gehalten auf Einladung des Internationalen PEN-Clubs am 18. November 1975 in englischer Sprache unter dem Titel „A Psychiatrist Looks at Literature"
Siehe auch: https://kumpfuz.blogspot.co.at/search?q=Psychologismus
Aber selbst, wenn es in einem Einzelfall wirklich so sein sollte, daß der Schöpfer eines literarischen Werkes richtiggehend krank ist - vielleicht sogar an einer Psychose leidet und nicht etwa nur an einer Neurose-, spricht dies auch nur im geringsten gegen Wert und Wahrheit seines Werkes? Ich glaube nicht. Zweimal zwei ist vier, auch wenn's ein Schizophrener behauptet. Und genauso glaube ich, daß es dem Wert von Hölderlins Dichtung und der Wahrheit von Nietzsches Philosophie keinen Abbruch tut, wenn ersterer an einer Schizophrenie erkrankt war und letzterer an einer Gehirnparalyse. Vielmehr bin ich überzeugt davon, daß die Namen jener Psychiater, die ganze Bücher geschrieben haben über die Psychosen dieser „Fälle", zu einer Zeit längst vergessen sein werden, zu der die Werke von Hölderlin und Nietzsche noch gelesen werden.
In letzter Zeit ist es Mode geworden, Literatur nicht nur psychiatrisch zu beurteilen, sondern im besonderen auf unbewußte Psychodynamik hin, die ihr zugrunde liegen mag. So kommt es denn, daß die sogenannte Tiefenpsychologie ihre Hauptaufgabe im Entlarven verborgener beziehungsweise ins Unbewußte verdrängter Motivationen erblickt. Dies gilt selbstverständlich auch von der literarischen Produktion. Was dabei herauskommt, wenn das Werk eines Dichters auf die Prokrustes-Couch gelegt wird, mögen Sie an einer Buchbesprechung ermessen, die eine amerikanische Zeitschrift einem zweibändigen Werk über Goethe widmete, dessen Verfasser einer der prominentesten Psychoanalytiker ist: ,,Auf den 1538 Seiten porträtiert uns der Autor ein Genie mit den Kennzeichen rnanisch-depressiver, paranoider und epileptoider Störung, Homosexualität, Inzest, Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus, Impotenz, Narzißmus, Zwangsneurose, Hysterie, Größenwahn usw. Der Autor scheint sich fast ausschließlich auf die dem Kunstwerk zugrunde liegende Triebdynamik zu beschränken. Er will uns glauben machen, Goethes Werk sei nichts als das Resultat prägenitaler Fixierungen. Sein Kampf gelte nicht etwa einem Ideal, der Schönheit, irgendwelchen Werten, sondern in Wirklichkeit der Überwindung vorzeitigen Samenergusses." - Hab' ich Ihnen zuviel versprochen? Wie weise war doch Freud selbst, wenn er einmal meinte, eine Zigarre müsse nicht immer als Penis-Symbol gedeutet werden, sondern könne einmal auch wirklich eine Zigarre bedeuten.
Ich möchte sagen, das Entlarven muß irgendwo haltmachen, und zwar genau dort, wo der Psychologe mit einem Phänomen konfrontiert ist, das sich einfach deshalb nicht weiter entlarven läßt, weil es echt ist. Wenn ein Psychologe aber auch dann noch nicht aufhört zu entlarven, dann entlarvt er noch immer etwas, aber was er dann entlarvt, ist sein eigenes unbewußtes Motiv, und das ist, das Menschliche im Menschen zu entwerten.
Man fragt sich nur, was dieses Demaskieren so attraktiv macht? Nun, es scheint für den Spießer ein Genuß zu sein, zu hören, daß Goethe auch nur ein Neurotiker war, ein Neurotiker wie du und ich, wenn ich so sagen darf. (Und wer sich von Neurose 100prozentig frei weiß, werfe den ersten Stein.) Irgendwie tut es anscheinend auch wohl, wenn einem gesagt wird, der Mensch sei nichts als ein nackter Affe, nichts als der Kriegsschauplatz von Es, Ich und Überich, nichts als der Spielball von Trieben, das Produkt von Lernprozessen, das Opfer sozio-ökonomischer Bedingungen und Umstände oder sogenannter Komplexe.
Mir will scheinen, als ob das Demaskieren, das ihnen der Reduktionismus mit seiner stereotypen Phrase „nichts als" vorexerziert, vielen Leuten eine ausgesprochen masochistische Freude bereitet. Dazu kommt noch, daß es, wie der Londoner Psychiater Brian Goodwin sagt, ,,den Leuten wohltut, wenn man ihnen einredet, sie seien nichts als dies oder jenes, genauso, wie die Leute glauben, ein Medikament, das wirksam sein soll, muß scheußlich schmecken".
Die Sprache normaler Menschen ist gegenstandsbezogen, sie weist über sich selbst hinaus. Mit einem Wort, Sprache ist ausgezeichnet durch ihre Selbst-Transzendenz. Und dasselbe gilt von menschlichem Dasein ganz allgemein. Mensch-Sein ist immer auf etwas gerichtet, das nicht wieder es selbst ist - auf etwas oder auf jemanden, auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf anderes menschliches Sein, dem er da begegnet."
V. E. Frankl: "Was sagt der Psychiater zur modernen Literatur?". Vortrag, gehalten auf Einladung des Internationalen PEN-Clubs am 18. November 1975 in englischer Sprache unter dem Titel „A Psychiatrist Looks at Literature"
Siehe auch: https://kumpfuz.blogspot.co.at/search?q=Psychologismus
Sonntag, 10. September 2017
Gar nichts weißt du
Man sagt, es es sollte heissen: "....dass ich nicht weiß".
Der Wortlaut:
»Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Und wollte ich behaupten, daß ich um irgend etwas weiser wäre, so wäre es um dieses, daß, da ich nichts weiß, es auch nicht glaube zu wissen.«
Freitag, 8. September 2017
Meine Katze hat Zeit
"Meine Katze hat Zeit. Die Zeit ist ihr angeboren und einverleibt wie ihr Fell, ihre Ohren, ihre Krallen, ihre zeitlos schönen Augen. Ihre Zeit ist immer nur Gegenwart, und innerhalb dieser Gegenwart der Augenblick. Nur auf diesen Augenblick konzentriert sie ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Gelüste. Sie denkt weder vor noch nach; sie lebt jetzt, nur jetzt. Jetzt liegt sie in ihrem Sessel und schläft; zumindest in diesem, in ihrem Augenblick."
"Ich glaube, meine Katze kennt keine »Warums«. Was gestern gewesen ist, interessiert sie nicht mehr; was morgen kommt, ist ihr gleichgültig. Sie weiß nicht, was Zeit ist. Ich muß mir die Zeit nehmen, einteilen, stehlen; manchmal vertreibe ich mir die Zeit, manchmal vergeude ich sie, manchmal mache ich mir die Zeit bewußt. Die Zeit und ich, wir leben getrennt voneinander, und obwohl ich oft sage, ich hätte keine Zeit, weiß ich dennoch sehr genau, daß nicht ich Zeit habe, daß die Zeit vielmehr mich hat.
Werner Koch
Zur Illustration der real existierenden Herrschaftsverhältnisse:
Fontane und die Endogenität
Fontane und das
Rätsel der Endogenität.
von Horst Gravenkamp.
"...heute können wir die Diagnose endogene Depression
bereits aus dem Erscheinungsbild in der Krankheitsphase
stellen. Wir können diese Diagnose noch zusätzlich stützen, wenn
wir Näheres über die Primärpersönlichkeit des Patienten in
gesunden Tagen und über weitere Depressionen in seiner
eigenen und in seiner Familienanamnese erfahren. Zu Fontanes Zeit war
die endogene Depression den Ärzten noch ein Rätsel (mit
Scheinlösungen). Fontane ist der Lösung dieses Rätsels
näher gekommen als seine Ärzte. Das vollzieht sich in einer
langsamen Entwicklung, die hier zunächst noch einmal in Kürze
nachgezeichnet werden soll.
Seine schwere Verstimmung von 1858 hat Fontane wiederholt und mit Nachdruck auf seine Lebensumstände in
London zurückgeführt. Als ihm aber entgegengehalten wird,
daß diese Begründung nicht stichhaltig sei, muß er zugeben
(››das Schrecklichste«!), daß diese »nüchterne Auffassung«, daß
also die Ursache seiner seelischen Störung in seinem Inneren
liege, vielleicht richtig ist. Der Feststellung »Euer Wille hat
sich die Nachtmütze aufgesetzt« widerspricht er nicht, das
»Hilf dir selbst« aber
kann er nicht akzeptieren: Das sei »das bekannte „fliege !“
an den, der keine Flügel hat«, eine schlagende Formulierung für die Willenslähmung, die auch in anderen
Briefen dieser Zeit ihren Ausdruck findet. Er bleibt aber -
zumindest nach außen hin - dabei, die Londoner Misere als Ursache seines Gemütszustandes zu bezeichnen, der jedoch auch für ihn etwas anderes ist als eine ››normale« Reaktion: »Es ist
ein wirklicher, guter, ehrlicher Krankheitszustand«. Bezeichnenderweise fällt das Wort Krankheit wieder
bei seiner offenbar endogenen Depression von 1877: ››Nun
aber kam Krankheit«, »krank zum Auslöschen«. Er ist sich auch nicht mehr so sicher über ausschließlich äußere Ursachen
seines Krankheitszustandes: »Ein halbes Dutzend Gründe,
äußere und innere«. Er nimmt auch wahr, was seine Krankheit mit der
seiner Tochter Mete
gemeinsam hat: Die Machtlosigkeit gegenüber einer aus inneren Ursachen entstehenden Störung, den
episodischen Charakter und die gute Prognose der
Krankheitsphasen.
Wir nehmen die Depression von 1892 noch einmal in
den Blick und erinnern uns dabei des Briefes an Friedlaender
vom 4. April 1892: »Ich bin in ziemlich freudloser Stimmung; 7/ 8
ist Krankheit, aber das letzte Achtel, und vielleicht auch
noch mehr, ist doch in Wirklichkeiten begründet«. Die
»Wirklichkeiten der Außenwelt«, die er früher als Ursache seiner
Depressionen eingesehen hatte, spielen jetzt für ihn nur noch eine
untergeordnete Rolle. Das gilt auch für die weiteren Briefe dieser
Zeit, in denen von ››Wirklichkeiten« als ursächlichem Faktor nie
mehr die Rede ist, aber immer wieder von Krankheit. Eine
weitere Auffälligkeit: Die ››Neurasthenie« als Diagnose Dr. Willes,
der sich Prof. Hirt offenbar angeschlossen hat und von
der Fontane gehört haben muß, hat er in den Briefen nie erwähnt.
Das ist vermutlich so zu deuten, daß er diese Diagnose nicht
akzeptiert hat, daß er also »ungebührliche Belastung des
Nervensystems« (u. a. »übermäßige geistige Arbeiten«, »öfter
wechselnde Gemüthsbewegungen«) als Krankheitsursache nicht gelten
ließ. Er hat seine
Krankheit als Folge der am Anfang stehenden Influenza angesehen, auch dann
noch, als im Mai und sogar noch im ]uni 1892 die Influenza längst abgeklungen
sein mußte.
An der Vorstellung von der Influenza als Ursache seiner Krankheit von 1892 hält er auch in späteren Jahren fest, wie wir seinem Brief an Moritz
Lazarus vom 5. Januar 1897 entnommen haben. Ein weiterer
Hinweis darauf, daß Fontane sich seine Krankheit nur als ganz überwiegend körperlich verursacht vorstellen konnte. Was dem Patienten Fontane als innere Ursache seiner
Krankheit zunehmend deutlich wird, bleibt seiner Umgebung
verborgen. Das muß zu Spannungen führen.
Wir müssen uns dabei vor Augen führen, wie sehr die
Angehörigen eines solchen Kranken mitzuleiden haben:
»ich fühle, ich bin euch zur Qual«, sagt Fontane (Emilie an den
Sohn Friedrich am 7. ]uli 1892). Ein »schwerer Traum« ist für
Frau Emilie die Krankheit ihres Mannes (Emilie Fontane an
Friedlaender am 15. September). Als »die ganz aufgezelırte arme
Frau« beschreibt Fontane Emilie am 13. August (an W. Hertz) ….
»Der Zustand
ist elend und die Kraft von Frau und 'Tochter hin, auch ihre Geduld. Ich bin
Quängelpeter u. Egoist, Du lieber Gott, die Krankheiten sind verschieden in ihrer Wirkung aufs Gemüth. « (An Karl
Zöllner am 8. August 1892). Über solche Spannungen, die auch in der Zeit der allmählichen
Genesung fortbestehen, erfahren wir einiges aus Briefen Fontanes an
Friedlaender:
Am 29. September 1892: »Ich muß mich oft einen Hypochonder schelten lassen, aber es ist nicht so
schlimm damit, und was wirklich hübsch ist, erfreut mich immer noch.« Am 14. Oktober 1892: »Gestern setzten mir Frau und
Tochter auseinander, daß ich diese meine alten Tage auch
als sehr
erträgliche, ja als sehr bevorzugte ansehen könne.
[. . .] Ich gebe das zu, aber das Gefühl von Schwäche und
Freudlosigkeit bleibt, das ist eben die Krankheit dran ich
laborire. Des „Wollens“,
das Sie mir aus dem väterlichen Erbschatz als
Heilwort mit auf den Weg gegeben, befleißige ich mich, aber
es bleibt Zwangsarbeit«.
Am 7. November bezieht sich Fontane auf einen nicht überlieferten Brief Friedlaenders vom 17. Oktober: »Es
heíßt darin, es würde Personen wie Ihnen, und wohl auch mir, so
vieles als ›Launen angerechnet. Gewiß ist es so und es
kann auch sein, daß in dem was man uns vorwirft, "Laune" mit
drunter läuft, wenn ich aber speziell auf meine diesjährigen Erlebnisse
zurückblicke,
auf die, die seit Monaten und dann auf die, die seit
Kurzem zurückliegen, so liegt, ich will nicht sagen die
Laune, aber doch das Anfechtbare überhaupt, ganz wo anders, nämlich
auf der Seite der Ankläger. Ich werde jetzt seit drei, vier
Wochen mit derselben Liebe und Zärtlichkeit behandelt wie in
alten Tagen, was mir natürlich sehr lieb ist, aber mitten in
meinem Glück mich doch auch schmerzlich berührt. Was mich angeht,
so besteht die ganze Differenz darin, daß ich im Sommer
viele viele Male nicht eine Stunde geschlafen hatte und daß ich
jetzt in der angenehmen Lage bin, wieder 8 Stunden oder in
besonderen glücklichen Nächten auch noch eine mehr schlafen zu
können. So habe ich denn auch wieder die Kraft heiter zu
sein und mich der Heiterkeit andrer freuen zu können. Nichts hat
sich geändert, mit Ausnahme des Kraftmaßes mit dem ich so zu
sagen frühmorgens ins Feld rücke. Mein Charakter ist
unverändert geblieben, ich bin, wenn Egoist, noch gerade so
egoistisch wie früher, ich bin auch nicht heldenmäßiger geworden,
ich kann nur wieder schlafen und konnte es im Sommer nicht.
Meine Widerstandskraft war hin, das war mein ganzes
Verbrechen, darum Räuber und Mörder«.
Es spiegelt sich hier ein Konflikt wider, der bei
endogenen Depressionen häufig ist: Die Angehörigen betrachten
das, was eigentlich Krankheit ist, als Charakterdefekt. Sie
erheben daher Vorwürfe und appellieren an den Willen. Der Kranke
wird durch solches Fehlverhalten, verbunden mit
zeitweiligem Entzug von Liebe und Zärtlichkeit, »schmerzlich berührt«.
Natürlich hat Fontane gewußt, daß ihn auch die
Medizin seiner Zeit in seiner Krankheit im Stich lassen
mußte. Im Brief an Friedlaender vom ıo.]anuar 1893 erinnert er
sich der eigentlich angenehmen äußeren Bedingungen seines
Sommeraufenthaltes 1892 und fährt dann fort: »Trotzdem
war es wochenlang so schrecklich, daß mir die Stätte
verleidet ist. Ich schiebe die Hauptschuld auf den ärztlichen Satz:
›Ich sei nur nervenkrank, alle solche Kranke ließen sich
gehn und quälten in egoistischer Weise ihre Umgebung,
weshalb solche Kranke scharf angcfaßt werden müßten; bei
gutem Willen heilten sie sich (auf rnoralischeın Wege) selber. Es ist möglich, daß solche Sätze auf viele derartige Kranke
passen, auf mich paßten sie nicht. Ich mußte ganz anders
behandelt werden und hatte den vollsten Anspruch darauf. Auf
Mohrenwäsche lasse ich mich übrigens nicht ein, es mag also bei
der alten Anschauung verbleiben; nur dazu gebe ich mich nicht
her, diese
Anschauung auch meinerseits zu theilen«. Den
»ärztlichen Satz« versieht er noch mit einer Fußnote: »Der
vorcitirte Satz rührt nicht von [Dr.] Wille her, sondern ist die ganz
allgemeine Auffassung, ich bestreite diese auch nur in Anwendung auf
jeden Einzelfall«. Und wenn dann im Brief vom 12. Mai 1893 (wieder an
Friedlaender) das Wort »grausam« fällt, dann erinnern wir
uns der »elektrischen Behandlung«, der Mitteilung der
Fehldiagnose ››Hirnanämie « an den Schwerkranken, der drohenden Abschiebung in eine ››Nervenheilanstalt« und der "drastischen" Äußerung des behandelnden Arztes Dr. Wille. »Auf
meinen Spaziergängen im Thiergarten steigt dann auch der
vorige Sommer als Gesammtbild wieder vor mir auf. [. . .] Was
ich damals in vielen Gesprächen mit Ihnen nur vermuthungsweise
ausgesprochen habe, das steht mir jetzt ganz fest: die
ganze Behandlung war falsch, schablonenhaft, grausam. Es ist
gewiß ganz richtig, daß es bei Nervenkranken einen hochgradigen
Kranken-Egoismus giebt, ich habe diesen Kranken-Egoismus
aber sicherlich nicht gehabt, sondern habe mich umgekehrt
in dieser schweren Zeit besser benommen, als zu irgend einer
andern Zeit. «"
Im Gegenteil
„Das Gegenteil von schlecht muss nicht gut sein - es kann noch schlechter sein.“
Paul Watzlawick
Montag, 4. September 2017
Zauber der Phantasie
"...es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eignen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt."Marcel Proust
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