Fontane und das
Rätsel der Endogenität.
von Horst Gravenkamp.
"...heute können wir die Diagnose endogene Depression
bereits aus dem Erscheinungsbild in der Krankheitsphase
stellen. Wir können diese Diagnose noch zusätzlich stützen, wenn
wir Näheres über die Primärpersönlichkeit des Patienten in
gesunden Tagen und über weitere Depressionen in seiner
eigenen und in seiner Familienanamnese erfahren. Zu Fontanes Zeit war
die endogene Depression den Ärzten noch ein Rätsel (mit
Scheinlösungen). Fontane ist der Lösung dieses Rätsels
näher gekommen als seine Ärzte. Das vollzieht sich in einer
langsamen Entwicklung, die hier zunächst noch einmal in Kürze
nachgezeichnet werden soll.
Seine schwere Verstimmung von 1858 hat Fontane wiederholt und mit Nachdruck auf seine Lebensumstände in
London zurückgeführt. Als ihm aber entgegengehalten wird,
daß diese Begründung nicht stichhaltig sei, muß er zugeben
(››das Schrecklichste«!), daß diese »nüchterne Auffassung«, daß
also die Ursache seiner seelischen Störung in seinem Inneren
liege, vielleicht richtig ist. Der Feststellung »Euer Wille hat
sich die Nachtmütze aufgesetzt« widerspricht er nicht, das
»Hilf dir selbst« aber
kann er nicht akzeptieren: Das sei »das bekannte „fliege !“
an den, der keine Flügel hat«, eine schlagende Formulierung für die Willenslähmung, die auch in anderen
Briefen dieser Zeit ihren Ausdruck findet. Er bleibt aber -
zumindest nach außen hin - dabei, die Londoner Misere als Ursache seines Gemütszustandes zu bezeichnen, der jedoch auch für ihn etwas anderes ist als eine ››normale« Reaktion: »Es ist
ein wirklicher, guter, ehrlicher Krankheitszustand«. Bezeichnenderweise fällt das Wort Krankheit wieder
bei seiner offenbar endogenen Depression von 1877: ››Nun
aber kam Krankheit«, »krank zum Auslöschen«. Er ist sich auch nicht mehr so sicher über ausschließlich äußere Ursachen
seines Krankheitszustandes: »Ein halbes Dutzend Gründe,
äußere und innere«. Er nimmt auch wahr, was seine Krankheit mit der
seiner Tochter Mete
gemeinsam hat: Die Machtlosigkeit gegenüber einer aus inneren Ursachen entstehenden Störung, den
episodischen Charakter und die gute Prognose der
Krankheitsphasen.
Wir nehmen die Depression von 1892 noch einmal in
den Blick und erinnern uns dabei des Briefes an Friedlaender
vom 4. April 1892: »Ich bin in ziemlich freudloser Stimmung; 7/ 8
ist Krankheit, aber das letzte Achtel, und vielleicht auch
noch mehr, ist doch in Wirklichkeiten begründet«. Die
»Wirklichkeiten der Außenwelt«, die er früher als Ursache seiner
Depressionen eingesehen hatte, spielen jetzt für ihn nur noch eine
untergeordnete Rolle. Das gilt auch für die weiteren Briefe dieser
Zeit, in denen von ››Wirklichkeiten« als ursächlichem Faktor nie
mehr die Rede ist, aber immer wieder von Krankheit. Eine
weitere Auffälligkeit: Die ››Neurasthenie« als Diagnose Dr. Willes,
der sich Prof. Hirt offenbar angeschlossen hat und von
der Fontane gehört haben muß, hat er in den Briefen nie erwähnt.
Das ist vermutlich so zu deuten, daß er diese Diagnose nicht
akzeptiert hat, daß er also »ungebührliche Belastung des
Nervensystems« (u. a. »übermäßige geistige Arbeiten«, »öfter
wechselnde Gemüthsbewegungen«) als Krankheitsursache nicht gelten
ließ. Er hat seine
Krankheit als Folge der am Anfang stehenden Influenza angesehen, auch dann
noch, als im Mai und sogar noch im ]uni 1892 die Influenza längst abgeklungen
sein mußte.
An der Vorstellung von der Influenza als Ursache seiner Krankheit von 1892 hält er auch in späteren Jahren fest, wie wir seinem Brief an Moritz
Lazarus vom 5. Januar 1897 entnommen haben. Ein weiterer
Hinweis darauf, daß Fontane sich seine Krankheit nur als ganz überwiegend körperlich verursacht vorstellen konnte. Was dem Patienten Fontane als innere Ursache seiner
Krankheit zunehmend deutlich wird, bleibt seiner Umgebung
verborgen. Das muß zu Spannungen führen.
Wir müssen uns dabei vor Augen führen, wie sehr die
Angehörigen eines solchen Kranken mitzuleiden haben:
»ich fühle, ich bin euch zur Qual«, sagt Fontane (Emilie an den
Sohn Friedrich am 7. ]uli 1892). Ein »schwerer Traum« ist für
Frau Emilie die Krankheit ihres Mannes (Emilie Fontane an
Friedlaender am 15. September). Als »die ganz aufgezelırte arme
Frau« beschreibt Fontane Emilie am 13. August (an W. Hertz) ….
»Der Zustand
ist elend und die Kraft von Frau und 'Tochter hin, auch ihre Geduld. Ich bin
Quängelpeter u. Egoist, Du lieber Gott, die Krankheiten sind verschieden in ihrer Wirkung aufs Gemüth. « (An Karl
Zöllner am 8. August 1892). Über solche Spannungen, die auch in der Zeit der allmählichen
Genesung fortbestehen, erfahren wir einiges aus Briefen Fontanes an
Friedlaender:
Am 29. September 1892: »Ich muß mich oft einen Hypochonder schelten lassen, aber es ist nicht so
schlimm damit, und was wirklich hübsch ist, erfreut mich immer noch.« Am 14. Oktober 1892: »Gestern setzten mir Frau und
Tochter auseinander, daß ich diese meine alten Tage auch
als sehr
erträgliche, ja als sehr bevorzugte ansehen könne.
[. . .] Ich gebe das zu, aber das Gefühl von Schwäche und
Freudlosigkeit bleibt, das ist eben die Krankheit dran ich
laborire. Des „Wollens“,
das Sie mir aus dem väterlichen Erbschatz als
Heilwort mit auf den Weg gegeben, befleißige ich mich, aber
es bleibt Zwangsarbeit«.
Am 7. November bezieht sich Fontane auf einen nicht überlieferten Brief Friedlaenders vom 17. Oktober: »Es
heíßt darin, es würde Personen wie Ihnen, und wohl auch mir, so
vieles als ›Launen angerechnet. Gewiß ist es so und es
kann auch sein, daß in dem was man uns vorwirft, "Laune" mit
drunter läuft, wenn ich aber speziell auf meine diesjährigen Erlebnisse
zurückblicke,
auf die, die seit Monaten und dann auf die, die seit
Kurzem zurückliegen, so liegt, ich will nicht sagen die
Laune, aber doch das Anfechtbare überhaupt, ganz wo anders, nämlich
auf der Seite der Ankläger. Ich werde jetzt seit drei, vier
Wochen mit derselben Liebe und Zärtlichkeit behandelt wie in
alten Tagen, was mir natürlich sehr lieb ist, aber mitten in
meinem Glück mich doch auch schmerzlich berührt. Was mich angeht,
so besteht die ganze Differenz darin, daß ich im Sommer
viele viele Male nicht eine Stunde geschlafen hatte und daß ich
jetzt in der angenehmen Lage bin, wieder 8 Stunden oder in
besonderen glücklichen Nächten auch noch eine mehr schlafen zu
können. So habe ich denn auch wieder die Kraft heiter zu
sein und mich der Heiterkeit andrer freuen zu können. Nichts hat
sich geändert, mit Ausnahme des Kraftmaßes mit dem ich so zu
sagen frühmorgens ins Feld rücke. Mein Charakter ist
unverändert geblieben, ich bin, wenn Egoist, noch gerade so
egoistisch wie früher, ich bin auch nicht heldenmäßiger geworden,
ich kann nur wieder schlafen und konnte es im Sommer nicht.
Meine Widerstandskraft war hin, das war mein ganzes
Verbrechen, darum Räuber und Mörder«.
Es spiegelt sich hier ein Konflikt wider, der bei
endogenen Depressionen häufig ist: Die Angehörigen betrachten
das, was eigentlich Krankheit ist, als Charakterdefekt. Sie
erheben daher Vorwürfe und appellieren an den Willen. Der Kranke
wird durch solches Fehlverhalten, verbunden mit
zeitweiligem Entzug von Liebe und Zärtlichkeit, »schmerzlich berührt«.
Natürlich hat Fontane gewußt, daß ihn auch die
Medizin seiner Zeit in seiner Krankheit im Stich lassen
mußte. Im Brief an Friedlaender vom ıo.]anuar 1893 erinnert er
sich der eigentlich angenehmen äußeren Bedingungen seines
Sommeraufenthaltes 1892 und fährt dann fort: »Trotzdem
war es wochenlang so schrecklich, daß mir die Stätte
verleidet ist. Ich schiebe die Hauptschuld auf den ärztlichen Satz:
›Ich sei nur nervenkrank, alle solche Kranke ließen sich
gehn und quälten in egoistischer Weise ihre Umgebung,
weshalb solche Kranke scharf angcfaßt werden müßten; bei
gutem Willen heilten sie sich (auf rnoralischeın Wege) selber. Es ist möglich, daß solche Sätze auf viele derartige Kranke
passen, auf mich paßten sie nicht. Ich mußte ganz anders
behandelt werden und hatte den vollsten Anspruch darauf. Auf
Mohrenwäsche lasse ich mich übrigens nicht ein, es mag also bei
der alten Anschauung verbleiben; nur dazu gebe ich mich nicht
her, diese
Anschauung auch meinerseits zu theilen«. Den
»ärztlichen Satz« versieht er noch mit einer Fußnote: »Der
vorcitirte Satz rührt nicht von [Dr.] Wille her, sondern ist die ganz
allgemeine Auffassung, ich bestreite diese auch nur in Anwendung auf
jeden Einzelfall«. Und wenn dann im Brief vom 12. Mai 1893 (wieder an
Friedlaender) das Wort »grausam« fällt, dann erinnern wir
uns der »elektrischen Behandlung«, der Mitteilung der
Fehldiagnose ››Hirnanämie « an den Schwerkranken, der drohenden Abschiebung in eine ››Nervenheilanstalt« und der "drastischen" Äußerung des behandelnden Arztes Dr. Wille. »Auf
meinen Spaziergängen im Thiergarten steigt dann auch der
vorige Sommer als Gesammtbild wieder vor mir auf. [. . .] Was
ich damals in vielen Gesprächen mit Ihnen nur vermuthungsweise
ausgesprochen habe, das steht mir jetzt ganz fest: die
ganze Behandlung war falsch, schablonenhaft, grausam. Es ist
gewiß ganz richtig, daß es bei Nervenkranken einen hochgradigen
Kranken-Egoismus giebt, ich habe diesen Kranken-Egoismus
aber sicherlich nicht gehabt, sondern habe mich umgekehrt
in dieser schweren Zeit besser benommen, als zu irgend einer
andern Zeit. «"
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