Viktor E. Frankl:
Die Existenzanalyse stellt,
angesichts der tatsächlichen Vergänglichkeit alles Seins, folgende Behauptung
auf: Vergänglich sind eigentlich nur die Möglichkeiten, die Chancen zur Wertverwirklichung,
die Gelegenheiten, die wir zum Schaffen oder zum Erleben - oder zum Leiden
(nämlich zum rechten Leiden, zum aufrechten Leiden von wirklich Unabänderlichem,
von echt Schicksalhaftem) haben: sobald wir diese Möglichkeiten jedoch
verwirklicht haben, sind sie nicht mehr «vergänglich», vielmehr sind sie
«vergangen››, sie sind vergangen –
und das will heißen: eben in ihrem Vergangensein «sind›› sie. Denn gerade in
ihrem vergangensein sind sie ja aufbewahrt, und nichts kann ihnen mehr etwas
anhaben, nichts kann mehr das, was einmal geschehen, was einmal vergangen ist,
aus der Welt schaffen: einmal vergangen, ist es vergangen ein für allemal und
«für alle Ewigkeit» (>>>Fußnote am
Ende des Textes),
Ich habe die Frage, wie sich ein «Optimist der
Vergangenheit» zum Pessimisten verhält, einmal an folgendem Gleichnis klarzumachen
versucht: Der Pessimist gleicht einem Manne, der vor einem Wandkalender steht
und wehmütig zusieht, wie dieser Kalender - von dem er täglich ein Blatt
abreißt - immer schmächtiger und schmächtiger wird. Der Optimist hingegen
gleicht einem, der das Kalenderblatt, das er jeweils entfernt, fein säuberlich
auf die bisher abgenommenen Blätter legt, sich auf der Rückseite Notizen macht
darüber, was er an diesem Tage getan oder erlebt bat, und nicht ohne Stolz auf
die Gesamtheit dessen zurückblickt, was da alles in diesen· Blättern festgelegt
- was alles in diesem Leben «festgelebt» ist.
Bedenken
Sie doch nur einmal, was solch ein Gesichtspunkt gegenüber dem Vergangensein -
wobei wir ja von nun an immer den Akzent auf «Sein» setzen! - praktisch, im
Leben des Menschen, bedeuten kann. Stellen Sie sich doch bloß einmal vor, eine
Kriegerwitwe wäre verzweifelt und hielte ihr künftiges Leben für sinnlos, eben
weil sie ihren Mann verloren und vielleicht nur ein einziges Jahr des Eheglücks
erlebt hat. Was muß es ihr doch bedeuten, zu hören und zu wissen, daß sie
immerhin dieses Jahr reinen Glücks «hinter sich gebracht» hat, daß sie es
hineingerettet hat ins Vergangensein, wo es geborgen ist «für alle Zeit», und
daß ihr nichts und niemand mehr die Tatsache, es eben nun einmal erlebt zu
haben, nehmen kann.
Nun
könnte einer fragen: Wer wird nach dem Tode dieser Frau die Erinnerung an ihren
Mann und an ihr Glück «lebendig» erhalten? Dazu wäre nun folgendes zu sagen:
Ob sie oder überhaupt jemand erinnernd daran zurückdenkt oder nicht, das ist
ebenso unwesentlich, wie es unwesentlich ist, ob wir an etwas, was neben uns
noch besteht, denken oder auf es hinblicken, oder nicht: es besteht unabhängig
von unserem Bewußtsein und von dessen Zuwendung zu ihm, und so besteht nicht
nur alles unabhängig von unserer subjektiven Hinwendung, sondern ebenso
unabhängig besteht es auch fort. Freilich «nehmen wir nichts ins Grab
mit»; aber ist die Totalität des Lebens, das wir gelebt haben und im Sterben
eben fertiggelebt haben, ist diese Totalität nicht etwas, was außerhalb aller
Gräber bleibt, und außerhalb ihrer eben auch bleibt? Und nicht nur
trotz der Vergänglichkeit bleibt, sondern eben gerade in seinem Vergangensein aufbewahrt
bleibt?
Nun, vergänglich ist alles. Gebe sich niemand der Illusion hin, daß etwa
ein leibliches Wesen, das leibhafte Kind, das wir in die Welt gesetzt haben,
weniger vergänglich sei als vielleicht ein großer Gedanke oder die große Liebe
- der jenes Kind entsprungen sein mag. Vergänglich ist all dies gleichermaßen.
«Das Leben des Menschen währet siebzig· Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig,
und wenn es köstlich war, . dann ist es Mühe und Arbeit gewesen.» Nun: der
«große Gedanke» dauert, in der Zeit, vielleicht sieben Sekunden; und wenn er
gut war, dann hat er die Wahrheit enthalten. Aber vergänglich ist er, der große
Gedanke, genau so und nicht mehr als das kleine Kind oder die große
Liebe; vergänglich ist alles.
Aber auch ewig ist alles.
Und nicht nur das, sondern es verewigt sich auch ganz von selbst. Darum
brauchen wir uns gar nicht darum zu kümmern, daß «wir» es verewigen; sobald wir
es nur einmal «gezeitigt» haben, sobald es von unserem Leben «gezeitigt» wurde,
- verewigen tut es sich schon von selbst. Wir haben also nicht darum Sorge zu
tragen, daß etwas verewigt werde; aber umso mehr tragen wir
Verantwortung - Verantwortung dafür, was alles da verewigt wird, indem
es eben von uns gezeitigt wird.
Ins
Protokoll der Welt «aufgenommen» wird alles, unser ganzes Leben, all unser
Schaffen, Lieben und Leiden; aufgenommen
wird es in dieses Protokoll und «aufgehoben», aufbewahrt bleibt es in ihm. Und
das Protokoll der Welt ist unverlierbar; das macht den Trost und unsere
Hoffnung aus. Aber es ist nicht nur unverlierbar, sondern auch unkorrigierbar,
und das ist eine Warnung und eine Mahnung an uns. Denn wenn wir sagten, daß
sich nichts Vergangenes aus der Welt schaffen lasse, bedeutet das nicht eine
Mahnung, es eben in die Welt zu schaffen? Und jetzt zeigt sich, daß wir
nicht nur dem existenzphilosophischen Pessimismus (der Gegenwart) einen Optimismus
der Vergangenheit entgegensetzen konnten, sondern, daß wir auch,
gleichzeitig damit, dem quietistischen Fatalismus (der Zeitlosigkeit) einen Aktivismus der Zukunft gegenüberstellen
könnten. Denn gerade angesichts der «ewigen» Aufbewahrtheit des Seins im Vergangensein
wird nun alles darauf ankommen, was wir, in der Gegenwart, imAugenblick, in
dieses Vergangen-Sein «hineinschaffen».
Aber was
ist eigentlich dieses «Schaffen ins Sein», in dieVergangenheit? Es ist
letztlich ein Schöpfen aus dem Nichts - aus dem Nichts der Zukunft. Und jetzt
verstehen wir auch, warum alles Sein so vergänglich ist, warum alle Dinge so
flüchtig sind: Alles ist «flüchtig» - weil es auf der Flucht ist. Auf der
Flucht vor dem Nichts der Zukunft in das Sein der Vergangenheit. Wie in einem horror
vacui, einem
Schrecken vor dem Nichts fürchtet alles das Nichts der Zukunft, flüchtet vor
diesem Nichts, und stürzt in die Vergangenheit und in ihr Sein. Aber vor dem
«Engpaß» der Gegenwart - da staut es sich und drängt es sich, und da «harrt
alles der Erlösung» ... Der Erlösung, die ihm zuteil wird, indem es - als
Ereignis - im Vergehen eingeht ins Vergangensein oder - als unser Erlebnis und
unsere Entscheidung - von uns eingelassen wird in die Ewigkeit.
Der
Engpaß der Gegenwart, diese enge Stelle, die vom Nichts der Zukunft
hinüberführt ins (ewige) Sein der Vergangenheit, ist nun, als Grenzfläche
zwischen dem Nichts und dem Sein, zugleich die Grenzfläche - der Ewigkeit.
Daraus ergibt sich aber nicht weniger als daß die Ewigkeit, als begrenzte,
eigentlich eine endliche Ewigkeit ist. Sie reicht jeweils nur bis zur Gegenwart
heran. Bis zu jener Gegenwart, in der wir entscheiden, was da Einlaß findet in
die Ewigkeit. So ist diese Grenzfläche der Ewigkeit, diese Grenzfläche
zwischen dem Nichts der Zukunft und dem Sein der Vergangenheit, in einem damit
jene Stätte, auf der in jedem Augenblick die Entscheidung fällt, was als von
uns Gezeitigtes sich von selber verewigt.
Und nun
sehen wir ein weiteres: Wenn man im alltäglichen Sinne von Zeitgewinn spricht,
dann denkt man immer an einen Gewinn von Zeit durch Hinausschieben in die
Zukunft. Wir aber wissen jetzt: wir «gewinnen Zeit» - wir gewinnen «an» Zeit,
oder wir gewinnen die Zeit «für uns», indem wir etwas, statt es in die Zukunft
hinauszuschieben, gerade umgekehrt in die Vergangenheit hineinretten.
Wie ist
es nun aber, wenn die Sanduhr, die uns so lange als Gleichnis gedient hat,
ausgeronnen ist? Wie ist es also, wenn - die Zeit verronnen ist? Wenn das
Dasein demnach «geronnen ist», wenn es zur Endgültigkeit gerinnt? Dies ist der
Fall im Tode.
Im Tode
ist alles immobil geworden, nichts ist disponibel; dem Menschen steht nichts
mehr zur Verfügung - kein Leib und keine Seele mehr ist ihm da verfügbar: es
kommt zum totalen Verlust des psychophysischen Ich. Was bleibt, ist nur noch
das Selbst, das geistige Selbst. Der Mensch hat also nach dem Tode kein Ich
mehr - er «hat» überhaupt nichts mehr, er «ist» nur mehr: eben sein Selbst.
Und wenn
man behauptet, im Sterben sehe der Mensch, etwa der im Gebirge abstürzende
Kletterer, sein ganzes Leben wie in einem Filmraffer in unheimlicher
Schnelligkeit nochmals vor sich ablaufen, dann könnten wir jetzt sagen: im Tode
ist der Mensch der Film selbst geworden. Er ist nunmehr sein Leben, sein
gelebtes Leben; er ist seine eigene Geschichte, sowohl die ihm geschehene
als die von ihm geschaffene. Und so ist er auch sein eigener Himmel und
seine eigene Hölle, je nachdem.
So· gelangen wir aber auch zu der
Paradoxie, daß die eigene Vergangenheit des Menschen die eigentliche Zukunft
ist, die er zu gewärtigen hat (Der
lebende Mensch hat Vergangenheit und hat Zukunft; der Sterbende hat keine
Zukunft mehr, sondern nur mehr Vergangenheit, der Tote aber ist seine Vergangenheit.)
Im
Tode hat der Mensch zwar kein Leben, aber dafür ist er es. Und daß es das
gewesene Leben ist, das er nunmehr «ist», das kann uns nun nicht mehr stören;
wissen wir doch, daß das Gewesensein die sicherste Form von Sein überhaupt
ist.
Dieses
Gewesensein aber ist recht eigentlich ein Gewesensein im Sinne des Perfectum
- und keineswegs mehr etwa des Imperfectum.
Denn das Leben ist ja jetzt
vollendet - erst als vollendetes «ist» es ja. Während also im Laufe der Zeit,
im Verlauf des Lebens, ähnlich wie beim Hindurchlaufen der Sandkörner durch die
enge Stelle der Sanduhr, immer aufs neue immer nur einzelne faits
accomplis in die Vergangenheit eingehen,
istjetzt, nach dem Tode, das ganze Leben, die Lebenstotalität, eingegangen ins
Vergangensein - als par-fait accompli.
Aber
dies führt uns zugleich zu einer zweiten Paradoxie, und einer doppelten noch
dazu: Denn wenn wir davon sprachen, daß wir etwas in die Welt schaffen, indem
wir es in das Sein der Vergangenheit hineinschaffen, dann ist es erstens der
Mensch selbst, der sich in die Welt schafft, er setzt «sich selbst» in die
Welt; und zweitens wird er nicht mit seiner Geburt in die Welt gesetzt, sondern
er setzt sich selber in die Welt erst im Tode.
Wenn wir
aber bedenken; daß es ja das Selbst
ist, das er im Tode (selber) in die Welt setzt, dann werden Wir über diese Paradoxie nicht mehr erstaunt
sein. Denn das Selbst «ist» ja eigentlich nicht, es «wird» doch immer erst. Es
kann somit gar nicht anders «sein» denn als gewordenes, eben als fertig
gewordenes. Und fertig geworden ist es erst - im Augenblick des Todes.
Freilich,
vom alltäglichen Menschen wird der Tod immer wieder mißverstanden. - Wenn der
Wecker ratscht und uns aus dem Traum aufschreckt, dann erleben wir, noch im
Traum befangen, den «Weckreiz» wie einen furchtbaren Einbruch in die Traumwelt,
und wir wissen nicht, daß uns der Wecker zu unserem eigentlichen Sein, zur
Tagwelt aufweckt. Ergeht es nun dem Sterbenden nicht ähnlich? Erschrecken wir
Sterbliche nicht ebenfalls vor dem Tode? Mißverstehen nicht auch wir, daß und
inwiefern er uns zu einer eigentlicheren, realeren Realität unserer selbst
erweckt?
Und die
zärtliche Hand, die uns aus dem Schlaf weckt - mag ihre Bewegung noch so
zärtlich sein: wieder erleben wir nicht ihre ganze Zärtlichkeit, nein, wir
empfinden sie wie einen schrecklichen Einbruch in unsere Traumwirklichkeit,
sobald sie versucht, unseren Schlaf hinwegzuscheuchen; auch den Tod, der unser
Leben fortnimmt von uns, erfahren wir im allgemeinen wie etwas Furchtbares, - das
an uns geschieht, und wir ahnen kaum, wie gut er es mit uns meint.
Wir
sagten vorhin, der Tod würde vom alltäglichen Menschen mißverstanden; das ist
zu wenig gesagt: die Zeit wird mißverstanden. Denn wie steht der
durchschnittliche Mensch zur «Zeit»? Er sieht nur das Stoppelfeld der
Vergänglichkeit - aber er sieht nicht die vollen Scheunen der Vergangenheit. Er
will, daß die Zeit stillstehe, auf daß nicht alles vergänglich sei; aber er
gleicht darin einem Manne, der da wollte, daß eine Mäh- und Dreschmaschine
stille steht und am Platz arbeitet, und nicht im Fahren; denn während die
Maschine übers Feld rollt, sieht er - mit Schaudern - immer nur das sich
vergrößernde Stoppelfeld, aber nicht die gleichzeitig sich mehrende Menge des
Korns im Innern der Maschine. So ist der Mensch geneigt; an den vergangenen
Dingen nur zu sehen, daß sie nicht mehr da sind; aber er sieht nicht, in welche
Speicher sie gekommen. Er sagt dann: sie sind vergangen, weil sie vergänglich
sind - aber er sollte sagen: vergangen sind
sie; denn: «einmal» gezeitigt, sind sie «für immer» verewigt.
Fußnote:
Was zu Ende ist, ist endgültig zu Ende; aber es ist eben auch endgültig: in seinem
Zu-Ende-sein bleibt es gültig, und insofern bleibt es auch - bestehen. Die
Einstellungswerte aber sind die einzigen, deren Verwirklichung buchstäblich
noch bis zum letzten Augenblick möglich ist; denn buchstäblich bis zum letzten
Augenblick ist es dem Menschen möglich, zum Schicksal sich ein-, sich umzustellen
- zu allem Schicksal, und so denn auch zum schicksalhaft gewordenen (weil
fertig gewordenen) Lebensganzen. So und nur so ist es auch zu verstehen, daß
Menschen zu der Auffassung gekommen. sind, das ganze Leben lasse sich auch
noch rückwirkend durch eine einzige große Reue in einem einzigen kleinen
Moment, eben «im letzten Moment», sühnen, weihen, sinnvoll machen.
http://kumpfus.blogspot.co.at/2008/01/grbel.html
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