"....Sigmund Freud hat einmal in einem Brief an die Prinzessin Bonaparte gemeint, «im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank; man hat nur eingestanden, daß man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat».Nun, ich persönlich glaube eher, daß man dann nur eines bewiesen hat, nämlich, daß man wirklich Mensch ist. Denn kein Tier hat jemals die Frage nach dem Sinn seines Daseins gestellt. Nicht einmal eine der Graugänse von Konrad Lorenz. Aber den Menschen, den quält diese Frage. Dennoch ist das nicht das Symptom einer Neurose, vielmehr sehe ich es für eine menschliche Leistung an, und zu ihr gehört nicht nur, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, sondern auch, einen solchen Sinn in Frage zu stellen.
Aber selbst, wenn es in einem Einzelfall wirklich so sein sollte, daß der Schöpfer eines literarischen Werkes richtiggehend krank ist - vielleicht sogar an einer Psychose leidet und nicht etwa nur an einer Neurose-, spricht dies auch nur im geringsten gegen Wert und Wahrheit seines Werkes? Ich glaube nicht. Zweimal zwei ist vier, auch wenn's ein Schizophrener behauptet. Und genauso glaube ich, daß es dem Wert von Hölderlins Dichtung und der Wahrheit von Nietzsches Philosophie keinen Abbruch tut, wenn ersterer an einer Schizophrenie erkrankt war und letzterer an einer Gehirnparalyse. Vielmehr bin ich überzeugt davon, daß die Namen jener Psychiater, die ganze Bücher geschrieben haben über die Psychosen dieser „Fälle", zu einer Zeit längst vergessen sein werden, zu der die Werke von Hölderlin und Nietzsche noch gelesen werden.
In letzter Zeit ist es Mode geworden, Literatur nicht nur psychiatrisch zu beurteilen, sondern im besonderen auf unbewußte Psychodynamik hin, die ihr zugrunde liegen mag. So kommt es denn, daß die sogenannte Tiefenpsychologie ihre Hauptaufgabe im Entlarven verborgener beziehungsweise ins Unbewußte verdrängter Motivationen erblickt. Dies gilt selbstverständlich auch von der literarischen Produktion. Was dabei herauskommt, wenn das Werk eines Dichters auf die Prokrustes-Couch gelegt wird, mögen Sie an einer Buchbesprechung ermessen, die eine amerikanische Zeitschrift einem zweibändigen Werk über Goethe widmete, dessen Verfasser einer der prominentesten Psychoanalytiker ist: ,,Auf den 1538 Seiten porträtiert uns der Autor ein Genie mit den Kennzeichen rnanisch-depressiver, paranoider und epileptoider Störung, Homosexualität, Inzest, Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus, Impotenz, Narzißmus, Zwangsneurose, Hysterie, Größenwahn usw. Der Autor scheint sich fast ausschließlich auf die dem Kunstwerk zugrunde liegende Triebdynamik zu beschränken. Er will uns glauben machen, Goethes Werk sei nichts als das Resultat prägenitaler Fixierungen. Sein Kampf gelte nicht etwa einem Ideal, der Schönheit, irgendwelchen Werten, sondern in Wirklichkeit der Überwindung vorzeitigen Samenergusses." - Hab' ich Ihnen zuviel versprochen? Wie weise war doch Freud selbst, wenn er einmal meinte, eine Zigarre müsse nicht immer als Penis-Symbol gedeutet werden, sondern könne einmal auch wirklich eine Zigarre bedeuten.
Ich möchte sagen, das Entlarven muß irgendwo haltmachen, und zwar genau dort, wo der Psychologe mit einem Phänomen konfrontiert ist, das sich einfach deshalb nicht weiter entlarven läßt, weil es echt ist. Wenn ein Psychologe aber auch dann noch nicht aufhört zu entlarven, dann entlarvt er noch immer etwas, aber was er dann entlarvt, ist sein eigenes unbewußtes Motiv, und das ist, das Menschliche im Menschen zu entwerten.
Man fragt sich nur, was dieses Demaskieren so attraktiv macht? Nun, es scheint für den Spießer ein Genuß zu sein, zu hören, daß Goethe auch nur ein Neurotiker war, ein Neurotiker wie du und ich, wenn ich so sagen darf. (Und wer sich von Neurose 100prozentig frei weiß, werfe den ersten Stein.) Irgendwie tut es anscheinend auch wohl, wenn einem gesagt wird, der Mensch sei nichts als ein nackter Affe, nichts als der Kriegsschauplatz von Es, Ich und Überich, nichts als der Spielball von Trieben, das Produkt von Lernprozessen, das Opfer sozio-ökonomischer Bedingungen und Umstände oder sogenannter Komplexe.
Mir will scheinen, als ob das Demaskieren, das ihnen der Reduktionismus mit seiner stereotypen Phrase „nichts als" vorexerziert, vielen Leuten eine ausgesprochen masochistische Freude bereitet. Dazu kommt noch, daß es, wie der Londoner Psychiater Brian Goodwin sagt, ,,den Leuten wohltut, wenn man ihnen einredet, sie seien nichts als dies oder jenes, genauso, wie die Leute glauben, ein Medikament, das wirksam sein soll, muß scheußlich schmecken".
Die Sprache normaler Menschen ist gegenstandsbezogen, sie weist über sich selbst hinaus. Mit einem Wort, Sprache ist ausgezeichnet durch ihre Selbst-Transzendenz. Und dasselbe gilt von menschlichem Dasein ganz allgemein. Mensch-Sein ist immer auf etwas gerichtet, das nicht wieder es selbst ist - auf etwas oder auf jemanden, auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf anderes menschliches Sein, dem er da begegnet."
V. E. Frankl: "Was sagt der Psychiater zur modernen Literatur?". Vortrag, gehalten auf Einladung des Internationalen PEN-Clubs am 18. November 1975 in englischer Sprache unter dem Titel „A Psychiatrist Looks at Literature"
Siehe auch: https://kumpfuz.blogspot.co.at/search?q=Psychologismus
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