Otrovertiert: Was hinter dem dritten Persönlichkeitstyp steckt
Lange war immer nur von introvertiert
und extrovertiert die Rede. Ein Psychiater hat allerdings einen dritten
Persönlichkeitstyp entdeckt: Otrovertiert.
Die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen setzen sich aus vielen verschiedenen Faktoren zusammen. GrundsĂ€tzlich unterteilt man dabei aber schon lange in introvertiert und extrovertiert (wissenschaftlich auch extravertiert); die Unterscheidung und Bezeichnung geht auf den Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung und sein 1921 erschienenes Werk „Psychologische Typen“ zurĂŒck. Die Begriffe werden oft als Gegensatz zueinander verstanden und beschreiben dabei die zwei Enden einer Skala. Das stimmt auch in Teilen, da sich beide Begriffe auf den Persönlichkeitsfaktor der sogenannten „Extraversion“ beziehen. Dabei leiten sich die Bezeichnungen aus dem Lateinischen ab, in dem „intro“ so viel bedeutet wie „hinein“ und „extra“ dagegen mit „heraus“ ĂŒbersetzt wird. „Vertere“ bedeutet hingegen „wenden“.
Das MaĂ an Extraversion auf der
erwĂ€hnten Skala ist wichtig fĂŒr das Verhalten einer Person in einem sozialen
Umfeld. Extrovertierten Menschen wird nachgesagt, dass sie die Gesellschaft
anderer Personen genieĂen und Kraft aus dem sozialen Kontakt ziehen. Das hat
zur Folge, dass Personen, die auf andere offen, herzlich und gesellig wirken,
oft auch als extrovertiert beschrieben werden. Introvertierte Menschen hingegen
verbringen ihre Zeit dieser Theorie zufolge lieber allein oder mit ausgewÀhlten
Personen. Lange galt deshalb das Vorurteil, dass introvertierte Menschen
zwangslĂ€ufig schĂŒchtern und zurĂŒckhaltend seien. Das stimmt allerdings nur
bedingt. Grob gesagt kann man aber festhalten, dass Extrovertierte ihre Energie
eher nach auĂen richten, wĂ€hrend sie bei Introvertierten ins Innere abzielt.
Oft kann man eine Person aber auch
nicht einfach klar zu einer der beiden Seiten zuweisen. Stattdessen bewegen sie
sich, um beim Bild der Skala zu bleiben, auf verschiedenen Stufen der
Extraversion. Der US-amerikanische Psychiater Rami Kaminski bringt
auch deshalb einen weiteren Persönlichkeitstyp ins GesprÀch, den viele noch nicht kennen: den
sogenannten otrovertierten Typ. Doch was genau zeichnet ihn aus und wie
findet man heraus, ob man dazu gehört?
Weder introvertiert noch extrovertiert
– aber vielleicht otrovertiert
Seine Theorie baute Kaminski auf der
Beobachtung auf, dass viele seiner Klientinnen und Klienten nicht wirklich in
einen der beiden beschriebenen Typen passen wollten. Und auch bei sich selbst
stellte er das fest. Um seine Beobachtungen wissenschaftlich zu untermauern,
arbeitete der Psychiater mit einem Biostatistiker zusammen, mit dem er unter
anderem einen Fragebogen entwickelte, um ĂŒber eine sogenannte „Otherness Scale“, also eine „Skala der Andersartigkeit“, bestimmte Muster
zu erkennen. Bereits 2023 grĂŒndete er darauf aufbauend das „Otherness
Institute“, das sich ganz der Forschung von Otrovertierten oder auch Otroverts
widmet. Dabei haben otrovertierte Menschen sowohl Gemeinsamkeiten als auch
Unterschiede zu den anderen Persönlichkeitstypen.
Ein wesentlicher Unterschied besteht
bereits in der Herangehensweise. Denn wÀhrend sich Extro- und Introvertiertheit
auf die Interaktion mit anderen Menschen konzentriert, konzentriert sich
Kaminski auf einen dritten Typ abseits dessen. Solche Personen mĂŒssen sich
weder aus einer Gruppe zurĂŒckziehen, um Kraft zu tanken, noch gibt es ihnen per
se Energie, mit einer Gruppe zu interagieren. „Es ist nicht die Gruppe, die sie
erschöpft – es ist die Konfrontation mit dem Gruppendenken“,
erklĂ€rt der Psychiater. Otrovertierte seien deshalb eigenstĂ€ndiger und stĂŒnden
oft am Rande einer Gemeinschaft; immer noch Teil davon, allerdings unabhÀngig.
Im „Guardian“ beschreibt Kaminski diese Personen als „Solisten, die nicht in
einem Orchester spielen können“.
Otrovertierte sind oft unangepasst und
kreativ
Otrovertierte zeichnen sich dem
Experten zufolge durch ein hohes Maà an EigenstÀndigkeit und
dem BedĂŒrfnis nach Ruhe aus, weshalb man sie auf den ersten
Blick auch fĂŒr introvertiert halten könnte. Oft treten sie dabei selbstbewusst
und vor allem selbstbestimmt auf, wobei sie so lange gesellig sind, wie sie
ihre UnabhÀngigkeit wahren können. Wenn sie ein GesprÀch suchen, dann eher am
Rande einer Gruppe und oft gezielt mit einer Person. Solche GesprÀche, am
besten in einer ruhigen Umgebung geben Otrovertierten durchaus auch Energie,
wÀhrend dieselbe Situation einen Introvertierten meistens genauso auslaugen
wĂŒrde wie einen Extrovertierten.
DafĂŒr haben Otrovertierte oft ein Problem
mit gesellschaftlichen ZwÀngen, Ritualen, Regeln und genereller Anpassung.
Das hat hÀufig zur Folge, dass sie anecken und von anderen Personen als unangepasst
wahrgenommen werden. Als historische Beispiele fĂŒr Otrovertiertheit nennt
Rami Kaminski etwa Frida Kahlo oder Albert Einstein.
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Wir kennen Introvertierte, die lieber fĂŒr sich bleiben, und Extrovertierte, die im Rampenlicht aufblĂŒhen. Doch was ist mit Menschen, die sich in keiner dieser Schubladen wiederfinden?
·
BARBARA SCHECHTNER
(Die PRESSE)
Man kennt sie: Die einen blĂŒhen auf, sobald sie im
Mittelpunkt. stehen, werfen mit Pointen um sich und mischen sich lautstark in
jede Debatte ein. Je mehr Publikum, desto besser. Die anderen halten sich
dagegen lieber am Rand, beobachten still
und sind in sich gekehrt. Sie schöpfen Energie aus der mit sich selbst.
Introversion und Extroversion, die zwei klassischen Pole der
Persönlichkeitspsychologie. Oft wirken sie wie ein Entweder-Oder. Doch
tatsÀchlich bewegen sich die meisten von uns irgendwo dazwischen.
Das GefĂŒhl, nicht dazuzugehören, kann auch Vorteile
haben. Hier setzt der New Yorker Psychiater Rami Kaminski an. Er definiert
einen weiteren Persönlichkeitstyp: den der „Otrovertierten". In seinem
Buch "Wie schön es ist, nicht dazugehören zu mĂŒssen" schreibt er ĂŒber
Menschen, die sich in keine der beiden klassischen Kategorien zugehörig fĂŒhlen.
Die sich "anders" fĂŒhlen: Er leitet das Wort vom spanischen
"otro" fĂŒr "anders" ab und verbindet es mit dem Suffix
"-vert", das aus dem Lateinischen „vertere" (wenden) stammt und
auch in intro- und extrovertiert steckt. Demnach ist ein otrovertierter Mensch
jemand, der in eine „andere Richtung" schaut.
Otrovertierte Menschen haben viele Facetten, doch ein
Merkmal ist allen gemeinsam: das GefĂŒhl, nirgendwo wirklich dazuzugehören.
Nicht, weil sie sozial unfÀhig wÀren, sondern, weil sie sich bewusst nicht mit
Gruppen oder Normen identifizieren - und dies auch nicht wollen. Genau darin
unterscheiden sie sich von intro- oder extrovertierten Menschen, die ihre
IdentitĂ€t gerade ĂŒber Zugehörigkeit oder deren Abwesenheit definieren.
,,Extrovertierte und Introvertierte sind im Wesentlich Spiegelbilder innerhalb
der Gruppe. Im Gegensatz dazu stehen Otrovertierte auĂerhalb der Gruppe und ihre
Haltung macht Gemeinschaft unmöglich - anders als bei Extrovertierten und
Introvertierten", erklĂ€rt Kaminski gegenĂŒber der "Presse am Sonntag".
Otrovertierte
spĂŒren oft einen inneren Widerspruch zu
Erwartungen, Gruppennormen oder dem, was „alle" machen oder erwarten. Sie
haben weniger Interesse daran, sich anzupassen. Sie lehnen Herdendenken ab und
stehen zu ihren eigenen Meinungen und Ăberzeugungen. Sie sind nicht abgestoĂen
von Menschen, nein, sie sind in der Regel sozial und freundlich. Sie bauen
tiefe Beziehungen auf, bevorzugen diese jedoch in einem kleineren, vertrauteren
Rahmen. Sie fĂŒhren lieber intensive GesprĂ€che mit einem Freund unter vier Augen
als in geselliger Runde und bevorzugen wenige, aber tiefgehende Begegnungen
statt vieler ober- flÀchlicher. Sie sind ausgesprochen unabhÀngigkeitsliebend
und suchen bewusst die Randposition. „Otrovertierte Menschen sind Solisten, die
nicht in einem Orchester spielen können", schreibt Kaminski in seinem
Buch.
Potenzial im Anderssein. In seinen mehr als vier
Jahrzehnten als Arzt und Psychiater hat Rami Kaminski viele Menschen begleitet,
die sich als anders erleben und sich zwischen den Polen von Intro- und
Extroversion nicht wiederfinden. Er betont, daĂ es Zeit braucht, dieses
Anderssein zu verstehen. Und daà siech darin neue Möglichkeiten eröffnen
können, sobald man bereit ist, es anzunehmen.
Kaminski
spricht aus Erfahrung: Schon als Kind kannte er dieses GefĂŒhl. In seiner Pfadfindergruppe, in der es darum
ging, die eigenen BedĂŒrfnisse dem Gemeinwohl unterzuordnen, irritierte ihn der
Moment des Pfadfinderversprechens. WĂ€hrend die anderen es feierlich aufsagten,
fĂŒhlte er nichts. Keine Verbundenheit, keine NĂ€he. „Ich habe innig versucht
dazuzugehören, bis ich etwa 25 Jahre alt war", erinnert er sich. Wenn er
auf seine Jugend zurĂŒckblickt, beschreibt er sich als „beliebter
AuĂenseiter": Er hatte Freunde, war witzig und fand leicht Anschluss.
,,Aber ich hatte nie das GefĂŒhl, irgendwo dazuzupassen. Immer trennte mich eine
unsichtbare Mauer von den anderen." Noch heute empfindet er seine Teenagerjahre
als traumatisch, obwohl weder seine Freundin noch seine Familie geahnt hat, wie
fremd er sich gefĂŒhlt hat .
„Als
Otrovertierter wĂŒrde ich jungen Menschen wohl raten, keine RatschlĂ€ge zu
befolgen - · auch nicht meinen", schmunzelt er bei der Frage, wie junge
Menschen, die sich ebenfalls „anders" fĂŒhlen, den Mut zum eigenen Weg
finden. ,,Aber im Ernst", setzt er nach, ,,die meisten RatschlÀge, die wir
von anderen bekommen, basieren auf den gemeinsamen Ăberzeugungen der
Gesellschaft darĂŒber, wie das Leben zu sein hat. FĂŒr jemanden, der sich nicht
zugehörig fĂŒhlt, ist gruppenorientierter Rat im besten Fall nutzlos - und im
schlimmsten Fall irrefĂŒhrend." Denn all diese Empfehlungen zielten
letztlich darauf ab, sich anzupassen, Teil einer Gruppe zu werden und eine bestimmte
GruppenidentitĂ€t anzunehmen. ,,Kinder und Jugendliche, die sich anders fĂŒhlen,
greifen nach jedem Rat, der ihnen hilft dazuzugehören. Sie sehnen sich zutiefst
danach."
Den eigenen Weg gehen. Die meisten
.Nichtdazugehörigen", denen er begegnet, haben jedoch bereits erkannt, daĂ
es sinnlos ist, krampfhaft zu versuchen dazuzugehören. ,,Sie haben den Mut
gefunden, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie wissen nur nicht, wie sie als
AuĂenseiter gedeihen können. Ich zeige ihnen, daĂ Nichtdazugehören ein einzigartiger
Vorteil sein kann, und ich zeige ihnen, daĂ es sehr glĂŒcklich machen kann, ein
AuĂenseiter zu sein - solang sie nicht versuchen, Teil der Gruppe zu
werden."
Der
Otrovertierte will sich nicht automatisch in GruppenidentitĂ€ten einfĂŒgen. Da
sie sich nicht verpflichtet fĂŒhlen, die allgemeine Position, Meinung oder
Sichtweise zu unterstĂŒtzen, sind Otrovertierte etwa Ă€uĂerst unabhĂ€ngig und
denken unkonventionell. Sie gehen Probleme aus neuen Blickwinkeln an, was oft
zu kreativen Entdeckungen und OriginalitĂ€t fĂŒhrt. Sie messen ihren Erfolg an
ihren eigenen Leistungen und brauchen den Vergleich mit anderen nicht. Sie
wissen, was ihnen guttut und was nicht. Und sie haben begriffen: ,,Es ist in
Ordnung, ich selbst zu sein."
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