Das, was jeder Mensch unter allen Lebensumständen und allein auf sich gestellt zu bestehen hat, was nicht zu ändern und zu umgehen ist, sind die Grundbedingungen seiner Existenz: er erfährt sich als ein unvollkommen ausgestattetes, widersprüchlich angelegtes Wesen. Seine Lebenszeit ist begrenzt. Es bedrohen ihn Alter und Krankheit, Unglücksfälle und Enttäuschungen. Er scheitert bei der Lösung privater und sozialer Probleme ebenso wie bei dem Versuch, den Dingen auf den Grund zu kommen und weiß letztlich nicht zu sagen, worauf dieses Leben, aus dem er ebenso ungefragt entfernt werden wird, wie er in es hineingeraten ist, eigentlich wurzelt und welchen Sinn es hat. Es sind diese Grund- und Grenzerlebnisse, die die stärkste und beständigste Herausforderung für den Menschen darstellen, und es sind für ihn also jene Fähigkeiten am unerläßlichsten, die es ihm erlauben, diese Herausforderung zu bestehen: Einsicht, Mut, Gelassenheit. Diese Eigenschaften sind schon in der antiken Philosophie in den Rang von Kardinaltugenden erhoben worden. Sie hießen dort: Weisheit, Tapferkeit (im Sinne von Fähigkeit zur Anspannung des Willens) und Besonnenheit (im Sinne von Selbstbeherrschung).
Obgleich uns alle diese Begriffe geläufig
sind, muten sie doch fremd und antiquiert an. Wir sind auf andere Tüchtigkeiten
eingestellt. <Gelassenheit –Mut - Weisheit>
haben weder in der christlichen Ethik noch in der aufgeklärten
Fortschrittsmoral einen hohen Stellenwert. Wenn wir jedoch eine Prüfung und
Selbstprüfung unterhalb der Zone der gängigen Denk- und Urteilsschemata
ansetzen, und fragen, auf welchen Menschen wir Menschen eigentlich
hinauswollen, wie wir gerne wären, welche Eigenschaften uns wahrhaft
wünschenswert erscheinen, dann stellt sich heraus, daß - wenn auch verschüttet
und verdrängt - die überragende Bedeutung der Tugenden, die schon die ersten
Philosophen für die erstrebenswertesten hielten, jedermann gegenwärtig ist;
weil jedermann irgendwann erfahren hat, daß in den kritischen Situationen des
Lebens nichts von dem hilft, was uns gewöhnlich an Gütern und Talenten
empfehlenswert zu sein scheint: Besitz, Macht, Wissen, Erfolg, Leistungs- und
Fortschrittswille. Im Gegenteil: je mehr wir an diesen Werten hängen, je
unkritischer und distanzloser wir uns mit ihnen identifizieren, um so unfähiger
werden wir, die nicht hinwegreformier- und nicht hinweg revolutionierbaren
Rätsel und Übel der Welt zu sehen, geschweige denn zu überstehen.
Aus: G. Szczesny Die Disziplinierung der Demokratie

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