"Ein
wichtiger Punkt in jeder Theorie des nicht-tyrannischen (also »demokratischen«)
Staates ist das Problem der Bürokratie. Denn unsere Bürokratien sind »undemokratisch«
(in meinem Sinn des Wortes). Sie enthalten unzählige Westentaschendiktatoren,
die praktisch nie für ihre Taten und Unterlassungen zur Verantwortung gezogen
werden. Max Weber, ein großer Denker, hat dieses Problem für unlösbar gehalten,
und er wurde darüber zum Pessimisten."
K. R. Popper
"Ich vertrete also die
Ansicht, daß das Wichtigste einer demokratischen Regierungsform darin besteht,
daß sie es ermöglicht, die Regierung ohne Blutvergießen abzusetzen, worauf eine
neue Regierung die Zügel übernimmt. Es scheint verhältnismäßig unwichtig, wie
diese Absetzung zustande kommt - ob durch Neuwahl oder durch den Bundestag-,
solange der Beschluß der einer Majorität ist, entweder von Wählern oder deren
Vertretern oder auch von Richtern eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofes.
Bei einem
Regierungswechsel ist diese negative Macht, die Drohung mit Entlassung, das
Wichtige. Eine positive Macht zur Einsetzung einer Regierung oder ihres Chefs
ist ein verhältnismäßig unwichtiges Korrelat. Das ist leider nicht die gängige
Ansicht. Und zu einem gewissen Grad ist die falsche Betonung der Neueinsetzung
gefährlich: Die Einsetzung der Regierung kann interpretiert werden als eine
Lizenzerteilung durch die Wähler, eine Legitimierung im Namen des Volkes und
durch den »Willen des Volkes«. Aber was wissen wir und was weiß das Volk,
welchen Fehler - ja, welches Verbrechen - die von ihm gewählte Regierung morgen
begehen wird?
Wir können eine
Regierung oder eine Politik im nachhinein beurteilen und vielleicht unsere
Zustimmung geben und sie wiederwählen. Im vorhinein können sie vielleicht unser
Vertrauen haben; aber wir wissen nichts, wir können nicht wissen, wir kennen
sie nicht; und wir dürfen darum nicht voraussetzen, daß sie unser Vertrauen
nicht mißbrauchen werden.
Nach dem Bericht von
Thukydides hat Perikles diese Gedanken in einfachster Weise formuliert: »Wenn auch nur wenige von uns imstande sind,
eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande,
eine Politik zu beurteilen.«
Ich halte diese knappe
Formulierung für grundlegend und möchte sie wiederholen. Es ist zu beachten,
daß hier die Idee einer Herrschaft des Volkes, ja sogar die Idee einer
Initiative durch das Volk abgelehnt werden. Sie werden durch die ganz andere
Idee einer Beurteilung durch das Volk ersetzt.
Perikles hat
hier in aller Kürze gesagt, warum das Volk nicht regieren kann, auch wenn es
sonst keine Schwierigkeiten gäbe. Ideen, insbesondere neue Ideen, können nur
das Werk von einzelnen sein, vielleicht geklärt und verbessert in der
Zusammenarbeit mit einigen wenigen anderen. Viele können wohl nachher sehen -
insbesondere dann, wenn sie die Folgen durchlebt haben, zu denen diese Ideen
geführt haben-, ob sie gut waren oder nicht. Und solche Beurteilungen, solche »ja-Nein-Beschlüsse«, können auch von einer großen Wählerschaft durchgeführt
werden.
Ein Ausdruck wie
»Volksinitiative « ist daher irreführend und propagandistisch. Es ist in der
Regel eine Initiative von wenigen, die sie bestenfalls dem Volk zur kritischen
Beurteilung vorlegen. Und es ist daher in solchen Fällen wichtig, ob die
vorgeschlagenen Maßnahmen nicht hinausgehen über die Kompetenz der
Wählerschaft, sie zu beurteilen.
Bevor ich diese Dinge
verlasse, möchte ich noch auf eine Gefahr aufmerksam machen, die dadurch
entsteht, daß man das Volk und die Kinder lehrt, daß sie in einer
Volksherrschaft leben - also etwas, was nicht wahr ist (und gar nicht wahr sein
kann). Da sie das bald sehen, werden sie nicht nur unzufrieden, sondern sie
fühlen sich belogen: Sie wissen ja nichts über die traditionelle verbale
Verworrenheit. Das kann schlimme weltanschauliche und politische Konsequenzen
haben und bis zum Terrorismus führen. In der Tat, ich bin solchen Fällen
begegnet.
Wie wir gesehen haben,
sind wir alle bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für die Regierung,
obwohl wir nicht mitregieren. Aber unsere Mitverantwortlichkeit verlangt
Freiheit - viele Freiheiten: Redefreiheit; Freiheit des Zugangs zu
Informationen und Freiheit, Informationen geben zu dürfen; Publikationsfreiheit
und viele andere mehr. Ein »Zuviel« des Staates führt zu Unfreiheit. Aber es
gibt auch ein »Zuviel« der Freiheit. Es gibt leider einen Mißbrauch der
Freiheit, analog zu einem Mißbrauch der Staatsgewalt. Redefreiheit und
Publikationsfreiheit können mißbraucht werden. Sie können zum Beispiel zu
Fehlinformationen und zur Verhetzung benutzt werden. Und in genau analoger
Weise kann jede Beschränkung der Freiheit durch die Staatsmacht mißbraucht
werden.
Wir brauchen die
Freiheit, um den Mißbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den
Staat, um den Mißbrauch der Freiheit zu verhindern. Das ist ein Problem, das
offenbar niemals abstrakt und prinzipiell niemals durch Gesetze ganz gelöst
werden kann. Es braucht einen Staatsgerichtshof und, mehr als alles andere,
einen guten Willen.
Wir brauchen diese
Einsicht, daß dieses Problem nie ganz zu lösen ist; oder genauer, daß es nur in
einer Diktatur ganz zu lösen ist mit ihrer prinzipiellen Omnipotenz des
Staates, die wir aus moralischen Gründen ablehnen müssen. Wir müssen uns mit
Teillösungen und Kompromissen abfinden; und wir dürfen uns nicht von unserer
Vorliebe für die Freiheit verleiten lassen, die Probleme ihres Mißbrauchs zu
übersehen."
Aus einem Vortrag von K. R. Popper
Christen fragen oft,
warum Gott nicht zu ihnen spreche, wie er es in früheren Zeiten getan haben
soll. Wenn ich solche Fragen höre, denke ich immer an den Rabbi, der gefragt
wurde, wie es käme, dass Gott sich früher den Menschen so oft gezeigt habe,
heutzutage aber niemand ihn mehr zu sehen bekomme. Der Rabbi antwortete: «Heutzutage gibt es niemanden mehr, der sich
tief genug bücken kann.»
Diese Antwort trifft
den Nagel auf den Kopf. Wir sind von unserem subjektiven Bewusstsein so
gefangen und eingewickelt, dass wir die jahrhundertealte Tatsache vergessen
haben, dass Gott hauptsächlich in Träumen und Visionen spricht. Der Buddhist
tut die Welt der unbewussten Phantasien als nutzlose Illusion ab; der Christ
stellt seine Kirche und seine Bibel zwischen sich und sein Unbewusstes, und der
rational denkende Intellektuelle weiß noch nicht, dass sein Bewusstsein nicht
seine ganze Psyche ist. Die Ignoranz besteht immer noch, trotz der Tatsache,
dass seit über siebzig Jahren das Unbewusste ein grundlegendes
wissenschaftliches Konzept darstellt, das für jede ernsthafte psychologische
Forschung unerlässlich ist.
Wir dürfen uns nicht
länger zu gottähnlichen Richtern über Verdienste und Fehler natürlicher
Erscheinungen aufwerfen. Wir gründen unsere Botanik nicht auf die altmodische
Einteilung in nützliche und nutzlose Pflanzen oder unsere Zoologie auf die
naive Unterscheidung zwischen harmlosen und gefährlichen Tieren. Aber immer
noch behaupten wir, nur Bewusstsein sei sinnvoll, das Unbewusste dagegen
Unsinn. In der Naturwissenschaft wäre eine derartige Behauptung lächerlich.
Haben zum Beispiel Mikroben einen Sinn, oder sind sie Unsinn?
Was
auch immer das Unbewusste sonst noch sein mag, es ist eine Naturerscheinung,
die Symbole produziert, welche sich als bedeutsam erweisen. Wir können von
einem Menschen, der noch nie durch ein Mikroskop geschaut hat, nicht erwarten,
dass er eine Autorität auf dem Gebiet der Mikroben ist; ebenso kann man
niemanden, der natürliche Symbole noch nicht ernsthaft untersucht hat, als
kompetenten Richter in dieser Sache ansehen.
Obgleich
die katholische Kirche das Vorkommen von somnia a Deo missa
zugibt, machen die
meisten ihrer Denker keinen ernsthaften
Versuch, Träume zu verstehen. Ich bezweifle, dass es eine protestantische
Abhandlung oder Lehre gibt, die sich so weit herablässt, die Möglichkeit
zuzugeben, man könnte die vox
Dei im Traum wahrnehmen. Wenn aber ein
Theologe wirklich an Gott glaubt, wie kann kann er dann annehmen, Gott sei
nicht imstande, durch Träume zu sprechen?
In
einer Periode der menschlichen Geschichte, da alle verfügbare Energie auf die
Erforschung der Natur verwandt wird, untersucht man zwar die bewussten
Funktionen des Menschen, aber der wirklich komplizierte Teil des Geistes, der die
Symbole hervorbringt, ist immer noch weitgehend unerforscht. Es scheint fast
unglaublich, dass, obwohl wir jede Nacht von dort Signale empfangen, eine
Entzifferung dieser Mitteilungen den meisten Menschen zu lästig erscheint. Das
bedeutendste Instrument des Menschen, seine Psyche, wird kaum beachtet, oft
sogar mit Misstrauen und Verachtung angesehen. «Das ist bloß psychologisch» heißt sehr häufig: Es bedeutet gar
nichts.
Woher
kommt dieses immense Vorurteil? Wir sind
offenbar so sehr mit der Frage beschäftigt, was wir selber denken, dass wir
ganz vergessen zu fragen, was die unbewusste Psyche eigentlich über uns denkt.
C.G. Jung
"Dieser respektvolle Umgang mit dem » anderen« wäre auch von
heute aus gegenüber der Geschichte angebracht. Wird in unseren Tagen mit Recht
erwartet, dass man ganz fremde Zivilisationen respektiert und nicht in
kolonialistischer Mentalität abwertet, so können das mit gleichem Recht die
Vorfahren erwarten, die den heutigen Menschen immerhin den Glauben und nebenbei
auch den Wohlstand vermittelt haben. Wie wäre es also mit etwas »Nächstenliebe
nach gestern«? Solch wertschätzender Respekt ist ein Zeichen für Humanität und
mitmenschliche Dankbarkeit, ohne natürlich berechtigte Kritik auszuschließen."
M. Lütz
>>>>> https://kumpfuz.blogspot.com/2019/03/ex-ante-ex-post.html
Was wir heute Wahrheit nennen, ist nicht, was
wahr ist, sondern was man andern einreden kann.
Montaigne
Vor über 400 Jahren hat er das offenbar auch schon so gesehen - und heute ist es das Grundmuster der Massenmedien und der von ihnen geschaffenen Politiktypen wie Trump oder Johnson...
Es gibt keine Geschichte der
Menschheit, es gibt nur eine unbegrenzte Anzahl von Geschichten, die alle
möglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen. Und eine von ihnen ist die
Geschichte der politischen Macht. Sie wird zur Weltgeschichte erhoben. Aber das
ist ein Affront gegen alle Menschlichkeit und Sittlichkeit. Es ist kaum besser,
als wenn man die Geschichte der Unterschlagung oder des Raubes oder des
Giftmordes zur Geschichte der Menschheit machen wollte. Denn die Geschichte der
Machtpolitik ist nichts anderes als die Geschichte der nationalen und
internationalen Verbrechen und Massenmorde (einige Versuche zu ihrer
Unterdrückung eingeschlossen). Diese Geschichte wird in der Schule gelehrt, und
einige der größten Verbrecher werden als ihre Helden gefeiert.
Aber warum wurde gerade die Geschichte der Macht
und nicht zum Beispiel die Geschichte der Religion oder der Dichtkunst ausgewählt?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser Gründe ist, daß die Macht uns
alle, die Dichtung aber nur wenige von uns beeinflußt. Ein anderer ist, daß die
Menschen geneigt sind, die Macht anzubeten. Aber die Anbetung der Macht ist
eine der verächtlichsten Formen der Idolatrie und des Knechtsgeistes. Die
Anbetung der Macht ist aus der Furcht geboren: aus einem Gefühl, das wir mit
Recht verachten. Ein dritter Grund dafür, daß die Machtpolitik zum Zentrum des
Interesses der Geschichtsschreiber wurde, ist, daß die Mächtigen oft den Wunsch
hatten, angebetet zu werden, und daß sie die Mittel besaßen, ihre Wünsche
durchzusetzen. Viele Historiker schrieben im Auftrag und unter der Aufsicht der
Kaiser, der Generäle und der Diktatoren.
K.R. Popper