Freitag, 9. August 2019

Westentaschendiktatoren

"Ein wichtiger Punkt in jeder Theorie des nicht-tyrannischen (also »demokratischen«) Staates ist das Problem der Bürokratie. Denn unsere Bürokratien sind »undemokratisch« (in meinem Sinn des Wortes). Sie enthalten unzählige Westentaschendiktatoren, die praktisch nie für ihre Taten und Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden. Max Weber, ein großer Denker, hat dieses Problem für unlösbar gehalten, und er wurde darüber zum Pessimisten."

K. R. Popper 

Donnerstag, 8. August 2019

Volksherrschaft

"Ich vertrete also die Ansicht, daß das Wichtigste einer demokratischen Regierungsform darin besteht, daß sie es ermöglicht, die Regierung ohne Blutvergießen abzusetzen, worauf eine neue Regierung die Zügel übernimmt. Es scheint verhältnismäßig unwichtig, wie diese Absetzung zustande kommt - ob durch Neuwahl oder durch den Bundestag-, solange der Beschluß der einer Majorität ist, entweder von Wählern oder deren Vertretern oder auch von Richtern eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofes. 
Bei einem Regierungswechsel ist diese negative Macht, die Drohung mit Entlassung, das Wichtige. Eine positive Macht zur Einsetzung einer Regierung oder ihres Chefs ist ein verhältnismäßig unwichtiges Korrelat. Das ist leider nicht die gängige Ansicht. Und zu einem gewissen Grad ist die falsche Betonung der Neueinsetzung gefährlich: Die Einsetzung der Regierung kann interpretiert werden als eine Lizenzerteilung durch die Wähler, eine Legitimierung im Namen des Volkes und durch den »Willen des Volkes«. Aber was wissen wir und was weiß das Volk, welchen Fehler - ja, welches Verbrechen - die von ihm gewählte Regierung morgen begehen wird?
Wir können eine Regierung oder eine Politik im nachhinein beurteilen und vielleicht unsere Zustimmung geben und sie wiederwählen. Im vorhinein können sie vielleicht unser Vertrauen haben; aber wir wissen nichts, wir können nicht wissen, wir kennen sie nicht; und wir dürfen darum nicht voraussetzen, daß sie unser Vertrauen nicht mißbrauchen werden.
Nach dem Bericht von Thukydides hat Perikles diese Gedanken in einfachster Weise formuliert:  »Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen.«
Ich halte diese knappe Formulierung für grundlegend und möchte sie wiederholen. Es ist zu beachten, daß hier die Idee einer Herrschaft des Volkes, ja sogar die Idee einer Initiative durch das Volk abgelehnt werden. Sie werden durch die ganz andere Idee einer Beurteilung durch das Volk ersetzt.
Perikles hat hier in aller Kürze gesagt, warum das Volk nicht regieren kann, auch wenn es sonst keine Schwierigkeiten gäbe. Ideen, insbesondere neue Ideen, können nur das Werk von einzelnen sein, vielleicht geklärt und verbessert in der Zusammenarbeit mit einigen wenigen anderen. Viele können wohl nachher sehen - insbesondere dann, wenn sie die Folgen durchlebt haben, zu denen diese Ideen geführt haben-, ob sie gut waren oder nicht. Und solche Beurteilungen, solche »ja-Nein-Beschlüsse«, können auch von einer großen Wählerschaft durchgeführt werden.
Ein Ausdruck wie »Volksinitiative « ist daher irreführend und propagandistisch. Es ist in der Regel eine Initiative von wenigen, die sie bestenfalls dem Volk zur kritischen Beurteilung vorlegen. Und es ist daher in solchen Fällen wichtig, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht hinausgehen über die Kompetenz der Wählerschaft, sie zu beurteilen.
Bevor ich diese Dinge verlasse, möchte ich noch auf eine Gefahr aufmerksam machen, die dadurch entsteht, daß man das Volk und die Kinder lehrt, daß sie in einer Volksherrschaft leben - also etwas, was nicht wahr ist (und gar nicht wahr sein kann). Da sie das bald sehen, werden sie nicht nur unzufrieden, sondern sie fühlen sich belogen: Sie wissen ja nichts über die traditionelle verbale Verworrenheit. Das kann schlimme weltanschauliche und politische Konsequenzen haben und bis zum Terrorismus führen. In der Tat, ich bin solchen Fällen begegnet.
Wie wir gesehen haben, sind wir alle bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für die Regierung, obwohl wir nicht mitregieren. Aber unsere Mitverantwortlichkeit verlangt Freiheit - viele Freiheiten: Redefreiheit; Freiheit des Zugangs zu Informationen und Freiheit, Informationen geben zu dürfen; Publikationsfreiheit und viele andere mehr. Ein »Zuviel« des Staates führt zu Unfreiheit. Aber es gibt auch ein »Zuviel« der Freiheit. Es gibt leider einen Mißbrauch der Freiheit, analog zu einem Mißbrauch der Staatsgewalt. Redefreiheit und Publikationsfreiheit können mißbraucht werden. Sie können zum Beispiel zu Fehlinformationen und zur Verhetzung benutzt werden. Und in genau analoger Weise kann jede Beschränkung der Freiheit durch die Staatsmacht mißbraucht werden.
Wir brauchen die Freiheit, um den Mißbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Mißbrauch der Freiheit zu verhindern. Das ist ein Problem, das offenbar niemals abstrakt und prinzipiell niemals durch Gesetze ganz gelöst werden kann. Es braucht einen Staatsgerichtshof und, mehr als alles andere, einen guten Willen.
Wir brauchen diese Einsicht, daß dieses Problem nie ganz zu lösen ist; oder genauer, daß es nur in einer Diktatur ganz zu lösen ist mit ihrer prinzipiellen Omnipotenz des Staates, die wir aus moralischen Gründen ablehnen müssen. Wir müssen uns mit Teillösungen und Kompromissen abfinden; und wir dürfen uns nicht von unserer Vorliebe für die Freiheit verleiten lassen, die Probleme ihres Mißbrauchs zu übersehen."
 
Aus einem Vortrag von K. R. Popper

Mittwoch, 7. August 2019

Signale aus der Nacht

Christen fragen oft, warum Gott nicht zu ihnen spreche, wie er es in früheren Zeiten getan haben soll. Wenn ich solche Fragen höre, denke ich immer an den Rabbi, der gefragt wurde, wie es käme, dass Gott sich früher den Menschen so oft gezeigt habe, heutzutage aber niemand ihn mehr zu sehen bekomme. Der Rabbi antwortete: «Heutzutage gibt es niemanden mehr, der sich tief genug bücken kann.»
Diese Antwort trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sind von unserem subjektiven Bewusstsein so gefangen und eingewickelt, dass wir die jahrhundertealte Tatsache vergessen haben, dass Gott hauptsächlich in Träumen und Visionen spricht. Der Buddhist tut die Welt der unbewussten Phantasien als nutzlose Illusion ab; der Christ stellt seine Kirche und seine Bibel zwischen sich und sein Unbewusstes, und der rational denkende Intellektuelle weiß noch nicht, dass sein Bewusstsein nicht seine ganze Psyche ist. Die Ignoranz besteht immer noch, trotz der Tatsache, dass seit über siebzig Jahren das Unbewusste ein grundlegendes wissenschaftliches Konzept darstellt, das für jede ernsthafte psychologische Forschung unerlässlich ist.
Wir dürfen uns nicht länger zu gottähnlichen Richtern über Verdienste und Fehler natürlicher Erscheinungen aufwerfen. Wir gründen unsere Botanik nicht auf die altmodische Einteilung in nützliche und nutzlose Pflanzen oder unsere Zoologie auf die naive Unterscheidung zwischen harmlosen und gefährlichen Tieren. Aber immer noch behaupten wir, nur Bewusstsein sei sinnvoll, das Unbewusste dagegen Unsinn. In der Naturwissenschaft wäre eine derartige Behauptung lächerlich. Haben zum Beispiel Mikroben einen Sinn, oder sind sie Unsinn?
Was auch immer das Unbewusste sonst noch sein mag, es ist eine Naturerscheinung, die Symbole produziert, welche sich als bedeutsam erweisen. Wir können von einem Menschen, der noch nie durch ein Mikroskop geschaut hat, nicht erwarten, dass er eine Autorität auf dem Gebiet der Mikroben ist; ebenso kann man niemanden, der natürliche Symbole noch nicht ernsthaft untersucht hat, als kompetenten Richter in dieser Sache ansehen.
Obgleich die katholische Kirche das Vorkommen von somnia a Deo missa  zugibt, machen die meisten ihrer Denker  keinen ernsthaften Versuch, Träume zu verstehen. Ich bezweifle, dass es eine protestantische Abhandlung oder Lehre gibt, die sich so weit herablässt, die Möglichkeit zuzugeben, man könnte die vox Dei im Traum wahrnehmen. Wenn aber ein Theologe wirklich an Gott glaubt, wie kann kann er dann annehmen, Gott sei nicht imstande, durch Träume zu sprechen?
In einer Periode der menschlichen Geschichte, da alle verfügbare Energie auf die Erforschung der Natur verwandt wird, untersucht man zwar die bewussten Funktionen des Menschen, aber der wirklich komplizierte Teil des Geistes, der die Symbole hervorbringt, ist immer noch weitgehend unerforscht. Es scheint fast unglaublich, dass, obwohl wir jede Nacht von dort Signale empfangen, eine Entzifferung dieser Mitteilungen den meisten Menschen zu lästig erscheint. Das bedeutendste Instrument des Menschen, seine Psyche, wird kaum beachtet, oft sogar mit Misstrauen und Verachtung angesehen. «Das ist bloß psychologisch» heißt sehr häufig: Es bedeutet gar nichts.
Woher kommt dieses immense Vorurteil? Wir  sind offenbar so sehr mit der Frage beschäftigt, was wir selber denken, dass wir ganz vergessen zu fragen, was die unbewusste Psyche eigentlich über uns denkt.
C.G. Jung

Respekt vor den Vorfahren?

"Dieser respektvolle Umgang mit dem » anderen« wäre auch von heute aus gegenüber der Geschichte angebracht. Wird in unseren Tagen mit Recht erwartet, dass man ganz fremde Zivilisationen respektiert und nicht in kolonialistischer Mentalität abwertet, so können das mit gleichem Recht die Vorfahren erwarten, die den heutigen Menschen immerhin den Glauben und nebenbei auch den Wohlstand vermittelt haben. Wie wäre es also mit etwas »Nächstenliebe nach gestern«? Solch wertschätzender Respekt ist ein Zeichen für Humanität und mitmenschliche Dankbarkeit, ohne natürlich berechtigte Kritik auszuschließen."
M. Lütz

>>>>> https://kumpfuz.blogspot.com/2019/03/ex-ante-ex-post.html

Donnerstag, 25. Juli 2019

Wahrheit, noch einmal

Was wir heute Wahrheit nennen, ist nicht, was wahr ist, sondern was man andern einreden kann. 
Montaigne

Vor über 400 Jahren hat er das offenbar auch schon so gesehen - und heute ist es das Grundmuster der Massenmedien und der von ihnen geschaffenen Politiktypen wie Trump oder Johnson...

Mittwoch, 17. Juli 2019

Es gibt keine Geschichte

Es gibt keine Geschichte der Menschheit, es gibt nur eine unbegrenzte Anzahl von Geschichten, die alle möglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen. Und eine von ihnen ist die Geschichte der politischen Macht. Sie wird zur Weltgeschichte erhoben. Aber das ist ein Affront gegen alle Menschlichkeit und Sittlichkeit. Es ist kaum besser, als wenn man die Geschichte der Unterschlagung oder des Raubes oder des Giftmordes zur Geschichte der Menschheit machen wollte. Denn die Geschichte der Machtpolitik ist nichts anderes als die Geschichte der nationalen und internationalen Verbrechen und Massenmorde (einige Versuche zu ihrer Unterdrückung eingeschlossen). Diese Geschichte wird in der Schule gelehrt, und einige der größten Verbrecher werden als ihre Helden gefeiert.
Aber warum wurde gerade die Geschichte der Macht und nicht zum Beispiel die Geschichte der Religion oder der Dichtkunst ausgewählt? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser Gründe ist, daß die Macht uns alle, die Dichtung aber nur wenige von uns beeinflußt. Ein anderer ist, daß die Menschen geneigt sind, die Macht anzubeten. Aber die Anbetung der Macht ist eine der verächtlichsten Formen der Idolatrie und des Knechtsgeistes. Die Anbetung der Macht ist aus der Furcht geboren: aus einem Gefühl, das wir mit Recht verachten. Ein dritter Grund dafür, daß die Machtpolitik zum Zentrum des Interesses der Geschichtsschreiber wurde, ist, daß die Mächtigen oft den Wunsch hatten, angebetet zu werden, und daß sie die Mittel besaßen, ihre Wünsche durchzusetzen. Viele Historiker schrieben im Auftrag und unter der Aufsicht der Kaiser, der Generäle und der Diktatoren. 
K.R. Popper