"Über die Religion haben die Menschen seit alter Zeit immer menschlich gedacht; und diejenige von diesen Vorstellungen scheint mir noch die wahrscheinlichste und entschuldbarste, die in Gott eine unverstehbare Macht sieht, den Schöpfer und Bewahrer aller Dinge…
Wieviel
folgsamer und lenksamer sind, sowohl auf religiösem wie auf politischem
Gebiet, einfache Menschen ohne besonderen Wissensdrang als die Geister, die bei
allen göttlichen und menschlichen Dingen die Gründe erkennen und überwachend
und erziehend in sie eingreifen wollen. Nichts, was Menschen erfunden haben,
ist so wahrheitsnah und nützlich wie eine solche Hingabe: sie stellt den Menschen
nackt und leer hin, wie er ist; sie erkennt seine natürliche Schwäche und ist
deshalb bereit, von oben her eine fremde Macht auf sich einwirken zu lassen;
sie ist nicht mit menschlichem Wissensdrang belastet und darum um so offener
für göttliche Erkenntnis; sie achtet die eigene Urteilskraft gering und gibt dadurch
dem Glauben mehr Raum; sie verleitet nicht zum Unglauben und zur Bildung von
Dogmen, die der üblichen Religionsübung zuwiderlaufen; sie macht demütig,
gehorsam, eifrig, sie ist die geschworene Feindin jeder Häresie und
infolgedessen gefeit gegen die respektlosen Irrlehren, die von falschen Sekten
verbreitet werden. Sie ist wie ein weißes Blatt, auf das Gottes Finger
schreiben kann, was er will. Wir werden um so vollkommener, je mehr wir uns
dem Willen Gottes unterstellen und uns ihm hingeben und damit auf unser Selbst
Verzicht leisten. «Nimm«, sagt der Ecclesiasticus, «die Dinge in gutem Sinne,
so wie sie sich gerade bieten, wie sie gerade heute aussehen und munden; das
übrige ist für dich nicht erkennbar».
Der Menschengeist hat keinen Halt, wenn er sich in
der Unbegrenztheit gestaltloser Gedanken bewegt: er muß sie zu bestimmten
Bildern verdichten, die seiner Welt entnommen sind. So hat sich die göttliche
Majestät in das beschränkte Bild einer körperlichen Erscheinung bannen lassen:
seine unirdische Helligkeit wird durch Zeichen angedeutet, die unserer
Irdischkeit entsprechen: seine Anbetung kommt zum Ausdruck in einem Gottesdienst,
den man sehen, und in Worten, die man hören kann: denn es sind Menschen, die
glauben und beten; jedenfalls wird schwerlich jemand mich überzeugen, daß
nicht eine warme religiöse Stimmung, die sehr nützlich wirkt, von ihr
ausgelöst wird: vom Anschauen der christlichen Kruzifixe und der Bilder der
Leidensgeschichte, vom Schmuck und den rituellen Bewegungen In unseren
Kirchen, von dem andächtigen Gesang und überhaupt von dem sinnlichen Reiz des
Gottesdienstes.

Wie
die Mohammedaner sind auch manche Christen dem Irrtum verfallen, daß sie nach
der Auferstehung ein irdisches, weltliches Leben erhofften, mit allen Freuden
und Annehmlichkeiten der Erde. Glauben wir, daß Plato, der doch vom Himmel
etwas ahnte und der mit dem Göttlichen so vertraut war, daß dies in seinem
Beinamen zum Ausdruck kam, gemeint habe, der Mensch, dieses arme Geschöpf,
könne diese unverstehbare Macht irgendwie deuten und daß er geglaubt habe.
unser schwaches Fassungsvermögen sei geeignet und die Kraft unserer
ausreichend, um uns eine Vorstellung von der oder der ewigen Verdammnis zu
ermöglichen. Im Namen der Menschenvernunft müßte man dann so zu ihm sprechen:
Wenn die Freuden, die du uns im anderen Leben versprichst, derart sind, wie ich
sie hier auf Erden gefühlt habe, so haben sie nichts mit der Ewigkeit zu tun.
Wenn auch meine natürlichen fünf Sinne überglücklich gemacht würden und meine
irdische Seele alles Glück erführe, das sie hoffen und wünschen kann, so kennen
wir doch ihre Begrenzung; das wäre dann alles noch nichts; wenn noch etwas
Persönliches darin ist, ist nichts Göttliches dabei; wenn alles das nichts
anderes ist, als was wir auch im jetzigen Leben erfahren können, so kann es nicht
in Betracht kommen: „Alles Glück der Sterblichen ist sterblich", das
Wiedersehen mit unseren Eltern, unseren Kindern und Freunden, angenommen, es
könnte in der anderen Welt uns noch berühren und beglücken, und angenommen, es
läge uns dann noch etwas an dieser Freude, so bleiben wir immer im Rahmen irdischer
und begrenzter Annehmlichkeiten. Ihrer Würde entsprechend können wir die Größe
der göttlichen Verheißungen nicht erfassen, solange wir sie noch irgendwie
erfassen können; wenn wir uns eine angemessene Vorstellung davon bilden wollen,
muß sie unvorstellbar, unsagbar und unverstehbar sein, jedenfalls ganz
abweichend von allem, was unsere elende Erfahrung uns lehrt."
Montaigne
Siehe auch: https://kumpfuz.blogspot.com/2018/12/alles-symbole.html