Der Staat, dieses
Meisterstück des sich selbst verstehenden, vernünftigen, aufsummierten Egoismus
aller, hat den Schutz der Rechte eines jeden in die Hände einer Gewalt gegeben,
welche, der Macht jedes einzelnen unendlich überlegen, ihn zwingt, die Rechte aller
anderen zu achten. Da kann der grenzenlose Egoismus fast aller, die Bosheit
vieler, die Grausamkeit mancher sich nicht hervortun: Der Zwang hat alle
gebändigt.
Die hieraus entspringende Täuschung ist so groß, daß, wenn wir in
einzelnen Fällen, wo die Staatsgewalt nicht schützen kann oder eludiert wird,
die unersättliche Habsucht, die niederträchtige Geldgier, die tief versteckte
Falschheit, die tückische Bosheit der Menschen hervortreten sehen, wir oft
zurückschrecken und ein Zetergeschrei erheben, vermeinend, ein noch nie
gesehenes Monstrum sei uns aufgestoßen: Allein ohne den Zwang der Gesetze und
die Notwendigkeit der bürgerlichen Ehre würden dergleichen Vorgänge ganz an der
Tagesordnung sein.
Kriminalgeschichten und Beschreibungen anarchischer Zustände
muß man lesen, um zu erkennen, was in moralischer Hinsicht der Mensch
eigentlich ist. Diese Tausende, die da
vor unseren Augen im friedlichen Verkehr sich durcheinanderdrängen, sind
anzusehen als ebenso viele Tiger und Wölfe, deren Gebiß durch einen starken
Maulkorb gesichert ist.
Daher, wenn man sich die Staatsgewalt einmal
aufgehoben, das heißt jenen Maulkorb abgeworfen denkt, jeder Einsichtige
zurückbebt vor dem Schauspiele, das dann zu erwarten stände; wodurch er zu
erkennen gibt, wie wenig Wirkung er der Religion, dem Gewissen oder dem
natürlichen Fundament der Moral, welches es auch immer sein möge, im Grunde
zutraut.
Schopenhauer