VON DER EINSAMKEIT
(Montaigne - Auszüge)
Lassen wir die
weitläufigen Vergleiche des zurückgezo-
genen und des tätigen
Lebens beiseite; und was das
schöne Wort angeht,
mit dem Ehrgeiz und Habgier sich ver-
hüllen: daß wir nicht
um unserer Eigeninteressen, sondern
um der Gemeinschaft
willen auf der Erde seien, so sind wir
so frei, es denen zu
überlassen, die bei diesem Tanz mitma-
chen; sie mögen ihr
Gewissen fragen, ob nicht ganz im Ge-
genteil die Ämter,
die Arbeiten und die Scherereien der Welt
nur gesucht werden,
damit man aus den öffentlichen Ge-
schäften seinen
privaten Nutzen ziehen kann.
Man hat überall
Gelegenheit, Gutes oder Schlechtes zu tun: den-
noch, wenn der Spruch
des Bias wahr ist, daß sich das Böse
häufiger findet oder,
wie es der Prediger Salomonis sagt, daß
es unter Tausend
nicht einen Guten gibt, dann ist die Gefahr
der Ansteckung im
Gedränge sehr groß.
Das heißt nicht, daß
sich der Weise nicht überall wohl
fühlen und selbst in
der Menschenmenge eines Palastes für
sich bleiben könne;
aber wenn er die Wahl hat, wird er, wie
es heißt, sogar ihren
Anblick meiden. Das erste wird er,
wenn es sein muß,
ertragen, das letztere aber, wenn es bei
ihm liegt, wählen.
Der Ehrgeiz, die Habgier, die Unentschlossenheit,
die Angst und die Begierden verlassen uns nicht schon
deshalb,
weil wir die Gegend wechseln. Sie folgen uns oft bis in
die
Klosterzellen und die Schulen der Philosophie.
Weder
die Wüsten noch die Felsenhöhlen,
noch ein härenes
Gewand oder Fasten können uns von
ihnen trennen. Man
berichtete dem Sokrates davon, daß
sich jemand auf
seiner Reise um nichts gebessert habe.
»Das glaube ich
gern«, erwiderte er, »er hatte sich selbst
die ganze Zeit dabei«.
Deshalb reicht es
nicht, sich vom Pöbel entfernt zu
haben; es reicht
nicht, den Ort zu wechseln. Man muß den
Pöbel in sich selbst
loswerden; man muß sich von sich
selbst trennen, um
sich wiederzugewinnen.
Wir schleppen unsere
Ketten mit uns: wir sind noch
nicht richtig frei,
wir drehen uns noch um nach dem, was
wir zurückgelassen haben,
wir haben den Kopf noch voll
davon.
Unser Übel liegt in
der Seele; die aber kann sich selbst
nicht entfliehen. Also
muß man sie zurückholen und in
sich selbst
zurückführen: das ist die wahre Einsamkeit, die
man inmitten der
großen Städte und der Königshöfe ge-
nießen kann; aber im
Abseits läßt sie sich angenehmer ge-
nießen.
Wenn wir uns nun also
vornehmen, allein zu leben und
uns der Gesellschaft
zu entziehen: stellen wir es so an, daß
unsere Zufriedenheit
nur von uns abhängt; lösen wir uns
von den Banden, die
uns an andere ketten; gewinnen wir
es über uns, wirklich
allein zu leben und uns dabei wohl zu
fühlen.
Es kommt
darauf an, solche Schätze zu wählen, die
weder Motten noch
Rost fressen können, und sie an einem
Orte zu verbergen, an
den niemand gelangt, der von nie-
mandem als uns selbst
verraten werden kann. Wer es kann,
soll Frauen, Kinder,
Vermögen und vor allem Gesundheit
besitzen; aber er
sollte sich nicht so sehr daran binden, daß
sein Glück darauf
beruht. Wir sollten uns ein Hinterstüb-
chen reservieren,
ganz für uns, ganz frei, in dem wir unsere
wahre Freiheit und
unsere wichtigste Zuflucht und Ein-
samkeit finden. In ihm
müssen wir unser tägliches Ge-
spräch mit uns selbst
führen, so vertraulich, daß kein
Umgang und keine
Gesellschaft mit Fremden dort Platz
findet; Unter unseren
gewöhnlichen Handlungen ist von tau-
send nicht eine, die
uns selbst angeht. jener dort, den du,
rasend und außer
sich, die Trümmer eines Gemäuers er-
klimmen siehst, dem
Feuer so vieler Gewehre ausgesetzt;
und jener andere,
übersät von Narben, bleich und vom
Hunger zerfressen,
entschlossen, lieber zu krepieren als
ihm das Tor zu öffnen
- glaubst du, sie tun das für sich? Ja,
sie tun es vielleicht
für einen, den sie nie gesehen haben,
den ihre Taten nicht
im geringsten kümmern und der un-
terdessen in
Müßiggang und Wollust schwimmt. Und die-
ser hier, den du
röchelnd, triefäugig und schmutzig nach
Mitternacht aus der
Bibliothek kommen siehst, glaubst du,
daß er in diesen
Büchern sucht, wie er redlicher, zufriede-
ner und weiser werden
könnte? Nichts von alledem. Er
wird daran sterben,
oder er wird der Nachwelt die Wahr-
heit über das Versmaß
des Plautus oder die richtige Lesart
eines lateinischen
Wortes hinterlassen. Wer gibt nicht frei-
willig Gesundheit,
Ruhe und Leben hin um Ehre und
Ruhm, diese
unnützeste, eitelste und falscheste Währung,
die im Umlauf ist?
Unser Tod macht uns noch nicht Angst
genug, laden wir uns
auch noch den unserer Frauen, un-
serer Kinder und
unserer Leute auf. Unsere eigenen Ge-
schäfte bereiten uns
noch nicht genug Mühe, beschweren
und zerbrechen wir
uns auch noch den Kopf mit denen
unserer Nachbarn und
Freunde.
Genug für andere
gelebt, leben wir Wenigstens dieses
letzte Stück des
Lebens für uns selbst. Lenken wir unsere
Gedanken und Vorsätze
auf uns und unser Wohlbefinden.
Es ist kein leichter
Part, sich in aller Ruhe zurückzuziehen;
er macht uns schon
genug zu schaffen, ohne daß wir noch
andere Unternehmungen
dazumischen. Weil Gott uns ge-
nug Zeit gibt, uns
auf unseren Abgang einzurichten, soll-
ten wir uns
ordentlich darauf vorbereiten; packen wir un-
sere Sachen; nehmen
wir rechtzeitig Abschied von der
Gesellschaft; machen
wir uns los von diesen aufdringlichen
Banden, die uns an
anderes fesseln und uns von uns selbst
entfremden. Man muß
diese so starken Verbindlichkeiten
auflösen und von nun
an bald dieses, bald jenes lieben, aber
sich an nichts binden
als an sich selbst. Das heißt: das an-
dere sei unser, aber
nicht so fest mit uns verfugt und ver-
leimt, daß man es
nicht abbringen kann, ohne uns zu
verletzen und ein
Stück von uns selbst abzureißen. Das
Größte auf der Welt
ist, zu wissen, daß man sich selbst
gehört. Es ist Zeit,
uns von der Gesellschaft loszumachen,
da wir ihr nichts
mehr geben können. Und wer nichts
zu verleihen hat, der
nehme auch Abstand vom Borgen.
Unsere Kräfte lassen
nach; nehmen wir sie also zusammen
und sammeln sie in
unserem Inneren. Wer die Pflichten der
Freundschaft und der
Geselligkeit umkehren und auf sich
selbst richten kann,
der möge das tun. Bei unserem Fall, der
ihn unnütz, lästig
und beschwerlich für die anderen macht:
hüte er sich davor,
auch noch sich selbst beschwerlich, lästig
und unnütz zu werden;
vor allem aber möge er sich, so-
lange er seine
Vernunft und sein Gewissen noch achtet und
fürchtet, im Zaume
halten, damit er nicht schamlos in Ge-
genwart anderer
strauchelt.
Es gibt Gemüter, die
besser tauglich sind für diese Lehre
vom Rückzug als andere. Wer von trägem und schlaffem
Geist ist, wessen
Neigungen und Wille zerbrechlich sind
und sich nicht leicht
anstellig und dienstbar zeigen, und
durch Veranlagung und
Überlegung bin ich von dieser Art,
der beugt sich diesen
Ratschlägen eher als die tätigen und
geschäftigen Seelen,
die alles anpacken und sich in alles
mischen, die sich für
alles begeistern, sich anbieten und bei
jeder Gelegenheit
verschenken und hingeben. Man soll
sich der zufälligen
und äußerlichen Dinge des Lebens be-
dienen, soweit sie
uns angenehm sind, aber sie nicht zur
Hauptstütze unseres
Lebens machen; sie sind es nicht.
Mir reicht es, wenn ich mich, solange ich vom
Glück begün-
stigt bin, auf seine
Ungunst vorbereite und mir, solange es
mir gutgeht, das
künftige Übel, soweit die Vorstellungs-
kraft ausreicht,
ausmale; ganz so, wie wir uns auf den Tur-
nieren und
Wettkämpfen üben und in vollem Frieden so
tun, als wäre Krieg.
Die Bücher sind vergnüglich;
aber wenn wir durch
den Umgang mit ihnen schließlich
Heiterkeit und
Gesundheit, unsere besten Stücke, verlie-
ren: laßt sie uns
weglegen. Ich meinesteils liebe
nur vergnügliche oder
leichte Bücher, die mich aufmuntern,
oder solche, die mich
trösten und belehren, recht zu leben
und zu sterben:
»Still durch gesunde Wälder zu gehen und
zu suchen, was einen
weisen und ehrenwerten Menschen
beschäfiigt« (Horaz,
Epistel, I, IV, 4)
Menschen, die weiser
sind und eine starke und rüstige
Seele haben, mögen
sich eine vollkommen geistige Ruhe
beilegen. Ich, der
ich eine gewöhnliche habe, muß mir mit
den leiblichen
Genüssen helfen, um mich zu halten; und
da mir das Alter fast
alle geraubt hat, die mehr nach mei-
nem Geschmack waren,
lenke und schärfe ich meinen
Hunger auf
diejenigen, die besser zu meinem Lebensalter
passen.
Zieht euch
zurück in euch selbst, aber bereitet euch
zunächst vor, euch
dort zu empfangen; es wäre Torheit,
euch selbst zu
vertrauen, wenn ihr euch nicht zu beherr-
schen versteht. Man
kann in der Einsamkeit ebenso strau-
cheln wie in
Gesellschaft.