Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen
Schopenhauer: Kapitel 17 der "W.a.W.u.V"/II
Eine
Religion hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der Prüfung und des
Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu
proprio nimmermehr fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung sensu
allegorico wahr zu seyn. Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht
erscheinen. Ein Symptom dieser allegorischen Natur der
Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysterien,
nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken lassen,
geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, vielleicht ließe sich behaupten, daß
einige völlige Widersinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein
wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien: denn diese sind eben
der Stämpel ihrer allegorischen Natur und die allein passende
Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstande fühlbar zu machen,
was ihm unbegreiflich wäre, nämlich daß die Religion im Grunde von einer ganz
andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor
welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muß,
verschwinden, und daß daher nicht bloß die widersinnigen Dogmen, sondern auch
die begreiflichen, eigentlich nur Allegorien und Akkommodationen zur
menschlichen Fassungskraft sind. …. Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch
begreiflich, wie Tertullian, ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus
credibile est, quia ineptum est; – – certum est, quia impossibile. (De carne
Christi, c. 5.) – Diese ihre allegorische Natur
entzieht auch die Religionen den der Philosophie obliegenden Beweisen und
überhaupt der Prüfung; statt deren sie Glauben verlangen, d.h. eine freiwillige
Annahme, daß es sich so verhalte. Da sodann der Glaube das Handeln leitet, und
die Allegorie allemal so gestellt ist, daß sie, in Hinsicht auf das Praktische,
eben dahin führt, wohin die Wahrheit sensu proprio auch führen[194] würde;
so verheißt die Religion Denen, welche glauben, mit Recht die ewige Säligkeit.
Wir sehn also, daß die Religionen die Stelle der Metaphysik überhaupt, deren
Bedürfniß der Mensch als unabweisbar fühlt, in der Hauptsache und für die große
Menge, welche nicht dem Denken obliegen kann, recht gut ausfüllen, theils
nämlich zum praktischen Behuf, als Leitstern ihres Handelns, als öffentliche
Standarte der Rechtlichkeit und Tugend, wie Kant es
vortrefflich ausdrückt; theils als unentbehrlicher Trost in den schweren Leiden
des Lebens, als wo sie die Stelle einer objektiv wahren Metaphysik vollkommen
vertreten, indem sie, so gut wie diese nur irgend könnte, den Menschen über
sich selbst und das zeitliche Daseyn hinausheben: hierin zeigt sich glänzend
der große Werth derselben, ja, ihre Unentbehrlichkeit. …. Der einzige Stein des Anstoßes
hingegen ist dieser, daß die Religionen ihre allegorische Natur nie eingestehn
dürfen, sondern sich als sensu proprio wahr zu behaupten
haben. Dadurch thun sie einen Eingriff in das Gebiet der eigentlichen
Metaphysik, und rufen den Antagonismus dieser hervor, der daher zu allen
Zeiten, in denen sie nicht an die Kette gelegt worden, sich äußert. – Auf dem
Verkennen der allegorischen Natur jeder Religion beruht auch der in unsern
Tagen so anhaltend geführte Streit zwischen Supernaturalisten und
Rationalisten. Beide nämlich wollen das Christenthum sensu proprio wahr
haben: in diesem Sinne wollen die ersten es ohne Abzug, gleichsam mit Haut und
Haar, behaupten; wobei sie, den Kenntnissen und der allgemeinen Bildung des
Zeitalters gegenüber, einen schweren Stand haben. Die andern hingegen suchen
alles eigenthümlich Christliche hinaus zu exegesiren;
wonach sie etwas übrig behalten, das weder sensu proprio noch sensu
allegorico wahr ist, vielmehr eine bloße Platitüde, …
Religionen
sind dem Volke nothwendig, und sind ihm eine unschätzbare Wohlthat. ….Der Werth
einer Religion wird demnach abhängen von dem größern oder geringern Gehalt an
Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Allegorie, in sich trägt,
sodann von der größern oder geringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch
diesen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtigkeit des letztern.
https://kumpfuz.blogspot.com/2016/10/religion-und-glaube.html
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