Freitag, 8. September 2017

Fontane und die Endogenität

Fontane und das Rätsel der Endogenität.
von Horst Gravenkamp.

"...heute können wir die Diagnose endogene Depression bereits aus dem Erscheinungsbild in der Krankheitsphase stellen. Wir können diese Diagnose noch zusätzlich stützen, wenn wir Näheres über die Primärpersönlichkeit des Patienten in gesunden Tagen und über weitere Depressionen in seiner eigenen und in seiner Familienanamnese erfahren. Zu Fontanes Zeit war die endogene Depression den Ärzten noch ein Rätsel (mit Scheinlösungen). Fontane ist der Lösung dieses Rätsels näher gekommen als seine Ärzte. Das vollzieht sich in einer langsamen Entwicklung, die hier zunächst noch einmal in Kürze nachgezeichnet werden soll.
Seine schwere Verstimmung von 1858 hat Fontane wiederholt und mit Nachdruck auf seine Lebensumstände in London zurückgeführt. Als ihm aber entgegengehalten wird, daß diese Begründung nicht stichhaltig sei, muß er zugeben (››das Schrecklichste«!), daß diese »nüchterne Auffassung«, daß also die Ursache seiner seelischen Störung in seinem Inneren liege, vielleicht richtig ist. Der Feststellung »Euer Wille hat sich die Nachtmütze aufgesetzt« widerspricht er nicht, das »Hilf dir selbst«  aber kann er nicht akzeptieren: Das sei »das bekannte fliege !“ an den, der keine Flügel hat«, eine schlagende Formulierung für die Willenslähmung, die auch in anderen Briefen dieser Zeit ihren Ausdruck findet. Er bleibt aber - zumindest nach außen hin - dabei, die Londoner  Misere als Ursache seines Gemütszustandes zu bezeichnen, der  jedoch auch für ihn etwas anderes ist als eine ››normale« Reaktion: »Es ist ein wirklicher, guter, ehrlicher Krankheitszustand«. Bezeichnenderweise fällt das Wort Krankheit wieder bei seiner offenbar endogenen Depression von 1877: ››Nun aber kam Krankheit«,  »krank zum Auslöschen«. Er ist sich auch nicht mehr so sicher über ausschließlich äußere Ursachen seines Krankheitszustandes: »Ein halbes Dutzend Gründe, äußere und innere«. Er nimmt auch wahr, was seine Krankheit mit der seiner Tochter  Mete gemeinsam hat: Die Machtlosigkeit gegenüber einer aus inneren Ursachen entstehenden Störung, den episodischen Charakter und die gute Prognose der Krankheitsphasen.
Wir nehmen die Depression von 1892 noch einmal in den Blick und erinnern uns dabei des Briefes an Friedlaender vom 4. April 1892: »Ich bin in ziemlich freudloser Stimmung; 7/ 8 ist Krankheit, aber das letzte Achtel, und vielleicht auch noch mehr, ist doch in Wirklichkeiten begründet«. Die »Wirklichkeiten der Außenwelt«, die er früher als Ursache seiner Depressionen eingesehen hatte, spielen jetzt für ihn nur noch eine untergeordnete Rolle. Das gilt auch für die weiteren Briefe dieser Zeit, in denen von ››Wirklichkeiten« als ursächlichem Faktor nie mehr die Rede ist, aber immer wieder von Krankheit. Eine weitere Auffälligkeit: Die ››Neurasthenie« als Diagnose Dr. Willes, der sich Prof. Hirt offenbar angeschlossen hat und von der Fontane gehört haben muß, hat er in den Briefen nie erwähnt. Das ist vermutlich so zu deuten, daß er diese Diagnose nicht akzeptiert hat, daß er also »ungebührliche Belastung des Nervensystems« (u. a. »übermäßige geistige Arbeiten«, »öfter wechselnde Gemüthsbewegungen«) als Krankheitsursache nicht gelten ließ. Er hat seine Krankheit als Folge der am Anfang stehenden Influenza angesehen, auch dann noch, als im Mai und sogar noch im ]uni 1892 die Influenza längst abgeklungen sein mußte. 
An der Vorstellung von der Influenza als Ursache seiner Krankheit von 1892 hält er auch in späteren Jahren fest, wie wir seinem Brief  an Moritz Lazarus vom 5. Januar 1897 entnommen haben. Ein weiterer Hinweis darauf, daß Fontane sich seine Krankheit nur als ganz überwiegend körperlich verursacht vorstellen konnte. Was dem Patienten Fontane als innere Ursache seiner Krankheit zunehmend deutlich wird, bleibt seiner Umgebung verborgen. Das muß zu Spannungen führen.
Wir müssen uns dabei vor Augen führen, wie sehr die Angehörigen eines solchen Kranken mitzuleiden haben: »ich fühle, ich bin euch zur Qual«, sagt Fontane (Emilie an den Sohn Friedrich am 7. ]uli 1892). Ein »schwerer Traum« ist für Frau Emilie die Krankheit ihres Mannes (Emilie Fontane an Friedlaender am 15. September). Als »die ganz aufgezelırte arme Frau«  beschreibt Fontane Emilie am 13. August (an W. Hertz) ….
 »Der Zustand ist elend und die Kraft von Frau und 'Tochter hin, auch ihre Geduld. Ich bin Quängelpeter  u. Egoist, Du lieber Gott, die Krankheiten sind verschieden in ihrer Wirkung aufs Gemüth. « (An Karl Zöllner am 8. August 1892). Über solche Spannungen, die auch in der Zeit der allmählichen Genesung fortbestehen, erfahren wir einiges aus Briefen Fontanes an Friedlaender:
Am 29. September 1892: »Ich muß mich oft einen Hypochonder schelten lassen, aber es ist nicht so schlimm damit, und was wirklich hübsch ist, erfreut mich immer noch.« Am 14. Oktober 1892: »Gestern setzten mir Frau und Tochter auseinander, daß ich diese meine alten Tage auch als sehr
erträgliche, ja als sehr bevorzugte ansehen könne. [. . .] Ich gebe das zu, aber das Gefühl von Schwäche und Freudlosigkeit bleibt, das ist eben die Krankheit dran ich laborire. Des „Wollens“, 
das Sie mir aus dem väterlichen Erbschatz als Heilwort mit auf den Weg gegeben, befleißige ich mich, aber es bleibt Zwangsarbeit«.
Am 7. November bezieht sich Fontane auf einen nicht überlieferten Brief Friedlaenders vom 17. Oktober: »Es heíßt darin, es würde Personen wie Ihnen, und wohl auch mir, so vieles als ›Launen angerechnet. Gewiß ist es so und es kann auch sein, daß in dem was man uns vorwirft, "Laune" mit drunter läuft, wenn ich aber speziell auf meine diesjährigen Erlebnisse zurückblicke,
auf die, die seit Monaten und dann auf die, die seit Kurzem zurückliegen, so liegt, ich will nicht sagen die Laune, aber doch das Anfechtbare überhaupt, ganz wo anders, nämlich auf der Seite der Ankläger. Ich werde jetzt seit drei, vier Wochen mit derselben Liebe und Zärtlichkeit behandelt wie in alten Tagen, was mir natürlich sehr lieb ist, aber mitten in meinem Glück mich doch auch schmerzlich berührt. Was mich angeht, so besteht die ganze Differenz darin, daß ich im Sommer viele viele Male nicht eine Stunde geschlafen hatte und daß ich jetzt in der angenehmen Lage bin, wieder 8 Stunden oder in besonderen glücklichen Nächten auch noch eine mehr schlafen zu können. So habe ich denn auch wieder die Kraft heiter zu sein und mich der Heiterkeit andrer freuen zu können. Nichts hat sich geändert, mit Ausnahme des Kraftmaßes mit dem ich so zu sagen frühmorgens ins Feld rücke. Mein Charakter ist unverändert geblieben, ich bin, wenn Egoist, noch gerade so egoistisch wie früher, ich bin auch nicht heldenmäßiger geworden, ich kann nur wieder schlafen und konnte es im Sommer nicht. Meine Widerstandskraft war hin, das war mein ganzes Verbrechen, darum Räuber und Mörder«.
Es spiegelt sich hier ein Konflikt wider, der bei endogenen Depressionen häufig ist: Die Angehörigen betrachten das, was eigentlich Krankheit ist, als Charakterdefekt. Sie erheben daher Vorwürfe und appellieren an den Willen. Der Kranke wird durch solches Fehlverhalten, verbunden mit zeitweiligem Entzug von Liebe und Zärtlichkeit, »schmerzlich berührt«. 
Natürlich hat Fontane gewußt, daß ihn auch die Medizin seiner Zeit in seiner Krankheit im Stich lassen mußte. Im Brief an Friedlaender vom ıo.]anuar 1893 erinnert er sich der eigentlich angenehmen äußeren Bedingungen seines Sommeraufenthaltes 1892 und fährt dann fort: »Trotzdem war es wochenlang so schrecklich, daß mir die Stätte verleidet ist. Ich schiebe die Hauptschuld auf den ärztlichen Satz: ›Ich sei nur nervenkrank, alle solche Kranke ließen sich gehn und quälten in egoistischer Weise ihre Umgebung, weshalb solche Kranke scharf angcfaßt werden müßten; bei gutem Willen heilten sie sich (auf rnoralischeın Wege) selberEs ist möglich, daß solche Sätze auf viele derartige Kranke passen, auf mich paßten sie nicht. Ich mußte ganz anders behandelt werden und hatte den vollsten Anspruch darauf. Auf Mohrenwäsche lasse ich mich übrigens nicht ein, es mag also bei der alten Anschauung verbleiben; nur dazu gebe ich mich nicht her, diese
Anschauung auch meinerseits zu theilen«. Den »ärztlichen Satz« versieht er noch mit einer Fußnote: »Der vorcitirte Satz rührt nicht von [Dr.] Wille her, sondern ist die ganz allgemeine Auffassung, ich bestreite diese auch nur in Anwendung auf jeden Einzelfall«. Und wenn dann im Brief vom 12. Mai 1893 (wieder an Friedlaender) das Wort »grausam« fällt, dann erinnern wir uns der »elektrischen Behandlung«, der Mitteilung der Fehldiagnose ››Hirnanämie « an den Schwerkranken,  der drohenden Abschiebung in eine ››Nervenheilanstalt« und der "drastischenÄußerung des behandelnden Arztes Dr. Wille. »Auf meinen Spaziergängen im Thiergarten steigt dann auch der vorige Sommer als Gesammtbild wieder vor mir auf. [. . .] Was ich damals in vielen Gesprächen mit Ihnen nur vermuthungsweise ausgesprochen habe, das steht mir jetzt ganz fest: die ganze Behandlung war falsch, schablonenhaft, grausam. Es ist gewiß ganz richtig, daß es bei Nervenkranken einen hochgradigen Kranken-Egoismus giebt, ich habe diesen Kranken-Egoismus aber sicherlich nicht gehabt, sondern habe mich umgekehrt in dieser schweren Zeit besser benommen, als zu irgend einer andern Zeit. «"

Keine Kommentare: