Samstag, 23. September 2017

Existenzanalyse

Viktor E. Frankl:

Die Existenzanalyse stellt, angesichts der tatsächlichen Vergänglichkeit alles Seins, folgende Behauptung auf: Vergänglich sind eigentlich nur die Möglichkeiten, die Chancen zur Wertverwirklichung, die Gelegenheiten, die wir zum Schaffen oder zum Erleben - oder zum Leiden (nämlich zum rechten Leiden, zum aufrechten Leiden von wirklich Unabänderlichem, von echt Schicksalhaftem) haben: sobald wir diese Möglichkeiten jedoch verwirklicht haben, sind sie nicht mehr «vergänglich», vielmehr sind sie «vergangen››, sie sind vergangen – und das will heißen: eben in ihrem Vergangensein «sind›› sie. Denn gerade in ihrem vergangensein sind sie ja aufbewahrt, und nichts kann ihnen mehr etwas anhaben, nichts kann mehr das, was einmal geschehen, was einmal vergangen ist, aus der Welt schaffen: einmal vergangen, ist es vergangen ein für allemal und «für alle Ewigkeit» (>>>Fußnote am Ende des Textes),
 Ich habe die Frage, wie sich ein «Optimist der Vergangenheit» zum Pessimisten verhält, einmal an folgendem Gleichnis klar­zumachen versucht: Der Pessimist gleicht einem Manne, der vor einem Wandkalender steht und wehmütig zusieht, wie dieser Kalender - von dem er täglich ein Blatt abreißt - immer schmächtiger und schmächtiger wird. Der Optimist hingegen gleicht einem, der das Kalenderblatt, das er jeweils entfernt, fein säuberlich auf die bisher abgenommenen Blätter legt, sich auf der Rückseite Notizen macht darüber, was er an diesem Tage getan oder erlebt bat, und nicht ohne Stolz auf die Gesamt­heit dessen zurückblickt, was da alles in diesen· Blättern fest­gelegt - was alles in diesem Leben «festgelebt» ist.
Bedenken Sie doch nur einmal, was solch ein Gesichtspunkt gegenüber dem Vergangensein - wobei wir ja von nun an immer den Akzent auf «Sein» setzen! - praktisch, im Leben des Men­schen, bedeuten kann. Stellen Sie sich doch bloß einmal vor, eine Kriegerwitwe wäre verzweifelt und hielte ihr künftiges Le­ben für sinnlos, eben weil sie ihren Mann verloren und vielleicht nur ein einziges Jahr des Eheglücks erlebt hat. Was muß es ihr doch bedeuten, zu hören und zu wissen, daß sie immerhin die­ses Jahr reinen Glücks «hinter sich gebracht» hat, daß sie es hineingerettet hat ins Vergangensein, wo es geborgen ist «für alle Zeit», und daß ihr nichts und niemand mehr die Tatsache, es eben nun einmal erlebt zu haben, nehmen kann.
Nun könnte einer fragen: Wer wird nach dem Tode dieser Frau die Erinnerung an ihren Mann und an ihr Glück «leben­dig» erhalten? Dazu wäre nun folgendes zu sagen: Ob sie oder überhaupt jemand erinnernd daran zurückdenkt oder nicht, das ist ebenso unwesentlich, wie es unwesentlich ist, ob wir an etwas, was neben uns noch besteht, denken oder auf es hinblicken, oder nicht: es besteht unabhängig von unserem Bewußtsein und von dessen Zuwendung zu ihm, und so besteht nicht nur alles unabhängig von unserer subjektiven Hinwendung, sondern eben­so unabhängig besteht es auch fort. Freilich «nehmen wir nichts ins Grab mit»; aber ist die Totalität des Le­bens, das wir gelebt haben und im Sterben eben fertiggelebt haben, ist diese Totalität nicht etwas, was außerhalb aller Grä­ber bleibt, und außerhalb ihrer eben auch bleibt? Und nicht nur trotz der Vergänglichkeit bleibt, sondern eben gerade in seinem Vergangensein aufbewahrt bleibt?
   Nun, vergänglich ist alles. Gebe sich niemand der Illusion hin, daß etwa ein leibliches Wesen, das leibhafte Kind, das wir in die Welt gesetzt haben, weniger vergänglich sei als vielleicht ein großer Gedanke oder die große Liebe - der jenes Kind ent­sprungen sein mag. Vergänglich ist all dies gleichermaßen. «Das Leben des Menschen währet siebzig· Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig, und wenn es köstlich war, . dann ist es Mühe und Arbeit gewesen.» Nun: der «große Gedanke» dauert, in der Zeit, vielleicht sieben Sekunden; und wenn er gut war, dann hat er die Wahrheit enthalten. Aber vergänglich ist er, der große Gedanke, genau so und nicht mehr als das kleine Kind oder die große Liebe; vergänglich ist alles.
Aber auch ewig ist alles. Und nicht nur das, sondern es ver­ewigt sich auch ganz von selbst. Darum brauchen wir uns gar nicht darum zu kümmern, daß «wir» es verewigen; sobald wir es nur einmal «gezeitigt» haben, sobald es von unserem Leben «gezeitigt» wurde, - verewigen tut es sich schon von selbst. Wir haben also nicht darum Sorge zu tragen, daß etwas verewigt werde; aber umso mehr tragen wir Verantwortung - Verant­wortung dafür, was alles da verewigt wird, indem es eben von uns gezeitigt wird.
Ins Protokoll der Welt «aufgenommen» wird alles, unser gan­zes Leben, all unser Schaffen, Lieben und Leiden; aufgenom­men wird es in dieses Protokoll und «aufgehoben», aufbewahrt bleibt es in ihm. Und das Protokoll der Welt ist unverlierbar; das macht den Trost und unsere Hoffnung aus. Aber es ist nicht nur unverlier­bar, sondern auch unkorrigierbar, und das ist eine Warnung und eine Mahnung an uns. Denn wenn wir sagten, daß sich nichts Vergangenes aus der Welt schaffen lasse, bedeutet das nicht eine Mahnung, es eben in die Welt zu schaffen? Und jetzt zeigt sich, daß wir nicht nur dem existenzphilosophischen Pes­simismus (der Gegenwart) einen Optimismus der Vergangenheit entgegensetzen konnten, sondern, daß wir auch, gleichzeitig da­mit, dem quietistischen Fatalismus (der Zeitlosigkeit) einen Ak­tivismus der Zukunft gegenüberstellen könnten. Denn gerade angesichts der «ewigen» Aufbewahrtheit des Seins im Vergan­gensein wird nun alles darauf ankommen, was wir, in der Gegen­wart, imAugenblick, in dieses Vergangen-Sein «hineinschaffen».
Aber was ist eigentlich dieses «Schaffen ins Sein», in dieVer­gangenheit? Es ist letztlich ein Schöpfen aus dem Nichts - aus dem Nichts der Zukunft. Und jetzt verstehen wir auch, warum alles Sein so vergäng­lich ist, warum alle Dinge so flüchtig sind: Alles ist «flüchtig» - weil es auf der Flucht ist. Auf der Flucht vor dem Nichts der Zukunft in das Sein der Vergangenheit. Wie in einem horror vacui, einem Schrecken vor dem Nichts fürchtet alles das Nichts der Zukunft, flüchtet vor diesem Nichts, und stürzt in die Ver­gangenheit und in ihr Sein. Aber vor dem «Engpaß» der Gegen­wart - da staut es sich und drängt es sich, und da «harrt alles der Erlösung» ... Der Erlösung, die ihm zuteil wird, indem es - als Ereignis - im Vergehen eingeht ins Vergangensein oder - als unser Erlebnis und unsere Entscheidung - von uns eingelassen wird in die Ewigkeit.
Der Engpaß der Gegenwart, diese enge Stelle, die vom Nichts der Zukunft hinüberführt ins (ewige) Sein der Vergangenheit, ist nun, als Grenzfläche zwischen dem Nichts und dem Sein, zu­gleich die Grenzfläche - der Ewigkeit. Daraus ergibt sich aber nicht weniger als daß die Ewigkeit, als begrenzte, eigentlich eine endliche Ewigkeit ist. Sie reicht jeweils nur bis zur Gegenwart heran. Bis zu jener Gegenwart, in der wir entscheiden, was da Einlaß findet in die Ewigkeit. So ist diese Grenzfläche der Ewig­keit, diese Grenzfläche zwischen dem Nichts der Zukunft und dem Sein der Vergangenheit, in einem damit jene Stätte, auf der in jedem Augenblick die Entscheidung fällt, was als von uns Gezeitigtes sich von selber verewigt.
Und nun sehen wir ein weiteres: Wenn man im alltäglichen Sinne von Zeitgewinn spricht, dann denkt man immer an einen Gewinn von Zeit durch Hinausschieben in die Zukunft. Wir aber wissen jetzt: wir «gewinnen Zeit» - wir gewinnen «an» Zeit, oder wir gewinnen die Zeit «für uns», indem wir etwas, statt es in die Zukunft hinauszuschieben, gerade umgekehrt in die Vergangenheit hineinretten.
Wie ist es nun aber, wenn die Sanduhr, die uns so lange als Gleichnis gedient hat, ausgeronnen ist? Wie ist es also, wenn - die Zeit verronnen ist? Wenn das Dasein demnach «geronnen ist», wenn es zur Endgültigkeit gerinnt? Dies ist der Fall im Tode.
Im Tode ist alles immobil geworden, nichts ist disponibel; dem Menschen steht nichts mehr zur Verfügung - kein Leib und keine Seele mehr ist ihm da verfügbar: es kommt zum totalen Verlust des psychophysischen Ich. Was bleibt, ist nur noch das Selbst, das geistige Selbst. Der Mensch hat also nach dem Tode kein Ich mehr - er «hat» überhaupt nichts mehr, er «ist» nur mehr: eben sein Selbst.
Und wenn man behauptet, im Sterben sehe der Mensch, etwa der im Gebirge abstürzende Kletterer, sein ganzes Leben wie in einem Filmraffer in unheimlicher Schnelligkeit nochmals vor sich ablaufen, dann könnten wir jetzt sagen: im Tode ist der Mensch der Film selbst geworden. Er ist nunmehr sein Leben, sein gelebtes Leben; er ist seine eigene Geschichte, sowohl die ihm geschehene als die von ihm geschaffene. Und so ist er auch sein eigener Himmel und seine eigene Hölle, je nachdem.
So· gelangen wir aber auch zu der Paradoxie, daß die eigene Vergangenheit des Menschen die eigentliche Zukunft ist, die er zu gewärtigen hat (Der lebende Mensch hat Vergangenheit und hat Zukunft; der Sterbende hat keine Zukunft mehr, sondern nur mehr Vergangenheit, der Tote aber ist seine Vergangenheit.)
 Im Tode hat der Mensch zwar kein Leben, aber dafür ist er es. Und daß es das gewesene Leben ist, das er nunmehr «ist», das kann uns nun nicht mehr stören; wissen wir doch, daß das Gewesensein die sicherste Form von Sein über­haupt ist.
Dieses Gewesensein aber ist recht eigentlich ein Gewesensein im Sinne des Perfectum - und keineswegs mehr etwa des Im­perfectum. Denn das Leben ist ja jetzt vollendet - erst als voll­endetes «ist» es ja. Während also im Laufe der Zeit, im Verlauf des Lebens, ähnlich wie beim Hindurchlaufen der Sandkörner durch die enge Stelle der Sanduhr, immer aufs neue immer nur einzelne faits accomplis in die Vergangenheit eingehen, istjetzt, nach dem Tode, das ganze Leben, die Lebenstotalität, eingegan­gen ins Vergangensein - als par-fait accompli.
Aber dies führt uns zugleich zu einer zweiten Paradoxie, und einer doppelten noch dazu: Denn wenn wir davon sprachen, daß wir etwas in die Welt schaffen, indem wir es in das Sein der Ver­gangenheit hineinschaffen, dann ist es erstens der Mensch selbst, der sich in die Welt schafft, er setzt «sich selbst» in die Welt; und zweitens wird er nicht mit seiner Geburt in die Welt gesetzt, sondern er setzt sich selber in die Welt erst im Tode.
Wenn wir aber bedenken; daß es ja das Selbst ist, das er im Tode (selber) in die Welt setzt, dann werden Wir über diese Paradoxie nicht mehr erstaunt sein. Denn das Selbst «ist» ja eigentlich nicht, es «wird» doch immer erst. Es kann somit gar nicht anders «sein» denn als gewordenes, eben als fertig gewor­denes. Und fertig geworden ist es erst - im Augenblick des Todes.
Freilich, vom alltäglichen Menschen wird der Tod immer wieder mißverstanden. - Wenn der Wecker ratscht und uns aus dem Traum aufschreckt, dann erleben wir, noch im Traum be­fangen, den «Weckreiz» wie einen furchtbaren Einbruch in die Traumwelt, und wir wissen nicht, daß uns der Wecker zu un­serem eigentlichen Sein, zur Tagwelt aufweckt. Ergeht es nun dem Sterbenden nicht ähnlich? Erschrecken wir Sterbliche nicht ebenfalls vor dem Tode? Mißverstehen nicht auch wir, daß und inwiefern er uns zu einer eigentlicheren, realeren Realität un­serer selbst erweckt?
Und die zärtliche Hand, die uns aus dem Schlaf weckt - mag ihre Bewegung noch so zärtlich sein: wieder erleben wir nicht ihre ganze Zärtlichkeit, nein, wir empfinden sie wie einen schrecklichen Einbruch in unsere Traumwirklichkeit, sobald sie versucht, unseren Schlaf hinwegzuscheuchen; auch den Tod, der unser Leben fortnimmt von uns, erfahren wir im allgemeinen wie etwas Furchtbares, - das an uns geschieht, und wir ahnen kaum, wie gut er es mit uns meint.
Wir sagten vorhin, der Tod würde vom alltäglichen Menschen mißverstanden; das ist zu wenig gesagt: die Zeit wird miß­verstanden. Denn wie steht der durchschnittliche Mensch zur «Zeit»? Er sieht nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit - aber er sieht nicht die vollen Scheunen der Vergangenheit. Er will, daß die Zeit stillstehe, auf daß nicht alles vergänglich sei; aber er gleicht darin einem Manne, der da wollte, daß eine Mäh­- und Dreschmaschine stille steht und am Platz arbeitet, und nicht im Fahren; denn während die Maschine übers Feld rollt, sieht er - mit Schaudern - immer nur das sich vergrößernde Stoppelfeld, aber nicht die gleichzeitig sich mehrende Menge des Korns im Innern der Maschine. So ist der Mensch geneigt; an den vergangenen Dingen nur zu sehen, daß sie nicht mehr da sind; aber er sieht nicht, in welche Speicher sie gekommen. Er sagt dann: sie sind vergangen, weil sie vergänglich sind - aber er sollte sagen: vergangen sind sie; denn: «einmal» gezeitigt, sind sie «für immer» verewigt.
Fußnote: Was zu Ende ist, ist endgültig zu Ende; aber es ist eben auch end­gültig: in seinem Zu-Ende-sein bleibt es gültig, und insofern bleibt es auch - bestehen. Die Einstellungswerte aber sind die ein­zigen, deren Verwirklichung buchstäblich noch bis zum letzten Augenblick möglich ist; denn buchstäblich bis zum letzten Augen­blick ist es dem Menschen möglich, zum Schicksal sich ein-, sich um­zustellen - zu allem Schicksal, und so denn auch zum schicksalhaft gewordenen (weil fertig gewordenen) Lebensganzen. So und nur so ist es auch zu verstehen, daß Menschen zu der Auffassung gekom­men. sind, das ganze Leben lasse sich auch noch rückwirkend durch eine einzige große Reue in einem einzigen kleinen Moment, eben «im letzten Moment», sühnen, weihen, sinnvoll machen.

http://kumpfus.blogspot.co.at/2008/01/grbel.html


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